Die Tenne.

Militärhumoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 9.3.1901,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 24.3.1901 und
in: „Zurück - marsch, marsch!”.


Das Infanterie-Regiment von Dingsda war in der ganzen Armee, wenigstens im ganzen Armeekorps, dafür bekannt, daß es den schlechtesten Parademarsch machte. Das war nicht nur traurig, sondern sogar sehr traurig, denn ohne Parademarsch geht es nun einmal nicht, das ist eine bekannte Geschichte, die nur die nicht wissen, die es besser wissen, na, und die klugen Leute haben bekanntlich immer unrecht.

Der Parademarsch taugte nichts, er war sogar nach Ansicht Sr. Exzellenz, des kommandierenden Herrn Generals hundsmiserabel — der schlechte Parademarsch war eine feststehende Thatsache, über den Punkt waren sich alle einig, weniger aber über die Ursache und Veranlassung des schlechten Parademarsches. Der Kommandierende sagte: „Das Regiment hat keinen Schneid, es wird zu wenig marschiert und exerziert — daran liegts.” Die Untergebenen erlaubten sich, obgleich sie bedeutend weniger Gehalt als Se. Exzellenz bekamen, trotzdem anderer Ansicht zu sein. Sie nahmen, obwohl sie nur im Geiste mit Exzellenz sprachen, die Hacken zusammen und sagten, natürlich so leise, daß Exzellenz es selbst dann nicht hätte hören können, wenn er neben ihnen gestanden hätte: „Verzeihung, Exzellenz, daran liegt es nicht, wir thun unser möglichstes, aber auf dem Exerzierplatz, den wir haben, kann kein Gott, geschweige denn ein Mensch einen anständigen Parademarsch machen — sobald der Reichstag die Mittel bewilligt, daß für uns ein neuer Platz angekauft wird, dann wollen wir schon beweisen, daß wir mit unseren Beinen dasselbe zu leisten vermögen wie andere und daß unsere Knochen auch nicht krümmer sind als die der meisten anderen Soldaten — vorläufig aber müssen wir diesen Beweis schuldig bleiben.”

Der frühere Oberst hatte die Ansicht seines Offizierkorps stets geteilt und seine Herren gegen allzu heftige Angriffe von oben herab in Schutz genommen, nun aber war ein neuer Oberst da und eben hatte Se. Exzellenz gesagt: „Bringen Sie Ihrem Regiment einen anständigen Parademarsch bei — ich habe die Sache nun satt und wenn Ihre Leute nicht bald anständig marschieren, dann marschieren Sie.”

Die Rede war kurz und verständlich gewesen und da der Herr Oberst gar nicht daran dachte, seine tadellos neue und noch nicht einmal völlig bezahlte Equipierung jetzt schon gegen einen Zivilanzug umzutauschen, so nahm er sich verschiedenes vor, um die Zufriedenheit Sr. Exzellenz zu erlangen.

Wenn die Untergebenen hiervon etwas geahnt hätten, würden sie ihn noch mehr zum Teufel gewünscht haben, als sie es so wie so schon thaten — ein neuer Vorgesetzter ist nie willkommen, schon deshalb nicht, weil er die Freude darüber trübt, daß man den alten los ist.

Am „wohlsten” wäre den Soldaten, wenn sie überhaupt keine Vorgesetzten hätten, aber das geht ja nun leider einmal nicht.

Der neue Oberst war da, eine große, stattliche Erscheinung mit einem mächtigen schwarzen Schnurrbart und glattrasiertem Kinn — früher hatte er einen Vollbart getragen, aber als ein Vorgesetzter ihm einmal gesagt hatte, daß er in dem Bart alt aussähe, hatte er ihn sich schleunigst abschneiden lassen — wer nicht mehr ganz jung ist, muß wenigstens jung scheinen.

Der neue Oberst war nicht nur da, sondern er blieb auch da, aller entgegengesetzten Bitten seiner Untergebenen zum Trotz, und fünf Tage, nachdem er das Kommando übernommen hate, befahl er: „Morgen früh um sieben Uhr steht das Regiment in Parade-Aufstellung auf dem großen Exerzierplatz.”

Und alle, die das lasen und hörten, bekamen einen heillosen Schrecken, denn ganz so dumm, wie sie nicht waren, sagten sie sich: „Morgen giebt es einen Parademarsch.”

Und es gab nicht nur einen, sondern sogar mehre-re-re-re. Während die Leute mit den eingetretenen Offizieren erst in Zügen, dann in Kompagniefront, in Kompagnie- und schließlich in Regimentskolonnen an ihm vorbeimarschierten oder richtiger gesagt bei ihm vorüberstolperten und fielen, besah sich der Herr Oberst von seinem Pferd aus den Platz und dachte: „So etwas von einem miserablen Gelände hab ich aber doch nicht für möglich gehalten, hier giebt es ja gar keine ebene Fläche, das sind ja lauter Erhebungen und Senkungen — wie soll da ein Mensch Parademarsch machen — ich könnt's auf jeden Fall nicht.”

In demselben Augenblick kam das Regiment von neuem vorbeimarschiert, in der ersten Kompagnie fiel ein Mann, noch dazu der Flügelmann, gerade vor dem Herrn Oberst der Länge nach hin, er verlor den Helm und das Gewehr — zum Erstaunen des Vorgesetzten machte der Mann aber nicht nur keine Anstalten, seine Habseligkeiten wieder zu bekommen, sondern er blieb sogar der Länge nach ruhig auf dem Boden liegen und ließ das Regiment über sich hinwegmarschieren. Er wußte, die thun mir nichts, für die ist es nichts neues, über lebendige Leichen hinwegzugehen, darin haben sie Uebung.

Der Herr Oberst, der sich bisher darauf beschränkt hatte, ein unthätiger, aber keineswegs unaufmerksamer Zuschauer zu sein, hielt diese Gelegenheit für günstig, nun einmal einen Ton mit seinen Untergebenen zu reden.

„Die Herren Offiziere zu dem Herrn Oberst,” überbrachte der Regiments-Adjutant den Befehl.

Bei dieser Nachricht stöhnten alle, trotzdem setzten sie sich in Bewegung, die Unberittenen voran, die Berittenen hinterher.

„Wissen Sie,” sagte ein junger Leutnant zu seinem Kameraden, „es ist ja ganz praktisch, daß wir Fußlatscher vorangehen, sonst würden uns die „vorgesetzten” Pferde ja leicht auf die Füße treten können — aber trotzdem, wenn ich uns so daherziehen sehe, die Vorgesetzten mit dem gezogenen Sabul hinter uns, dann denke ich immer, wir seien Verbrecher, die von den Gendarmen vor das Tribunal geführt werden.”

„Wer spricht denn da? Ich bitte um Ruhe, meine Herren, was fällt Ihnen denn ein?” rief der Herr Major mit halblauter Stimme und es wurde still — was blieb dem jungen Leutnant weiter übrig, als den Mund zu halten.

„Die Herren des ersten Bataillons zur Stelle!”

„Die Herren des zweiten Bataillons zur Stelle!”

„Die Herren des dritten Bataillons zur Stelle!”

Eine ganze zeitlang sagte der Herr Oberst gar nichts, sondern besah sich seine Herren, die, mit der Hand am Helm, teils vor ihm standen, teils auf ihren Gäulen saßen — endlich sprach er gelassen das große Wort: „Danke”.

„Wofür dankst du?” dachte ein Leutnant, „dafür, daß wir gekommen sind? Das geschah doch nicht freiwillig, ach nein, ganz im Gegenteil.”

Für eine Sekunde dachte der Herr Oberst daran, seine Herren zu bitten, bequem zu stehen, aber er verwarf diesen Gedanken schnell wieder: er wollte dienstlich, ganz dienstlich sein.

„Meine Herren,” begann der Herr Oberst, „ich habe Sie zu mir gerufen, um Ihnen zu sagen, daß ich in meinem ganze Leben noch nicht einen so hundsmiserablen, jammervoll kläglichen, jder Beschreibung spottenden Parademarsch gesehen habe, wie heute.”

„Nur deshalb hast du uns rufen lassen,” dachte ein Leunant, „dann hättest du uns den Weg hierher, dir die Rede sparen können, das, was du uns sagst, haben wir im voraus gewußt und deine Grobheit imponiert uns gar nicht — andere Leute sind uns schon viel gröber geworden, aber genützt hat es doch nichts.”

Es ist ein wahre Glück, daß die Vorgesetzten nicht immer wissen, was die Untergebenen denken.

„Meine Herren,” fuhr der Herr Oberst nach einer kleinen Pause fort, „ob der Parademasch immer so erbärmlich gewesen ist, weiß ich nicht ” —

„Das hat bis jetzt noch jeder Oberst gesagt,” dachte ganz schnell ein frecher Leutnant.

— „auf jeden Fall wird er aber unter meinem Kommando besser werden.”

„Das hat bisher auch noch jeder Oberst gesagt,” dachte der freche Leutnant weiter.

„Da können Sie einen Eid darauf schwören, meine Herren!”

Hätten die Herren nicht still stehen müssen, so hätten sie sich verwundert angesehen — die Drohung war neu.

„Meine Herren,” sagte der Herr Oberst, „daß der Parademarsch so unqualifizierbar schlecht ist, ist um so jammervoller, als der Marsch lediglich auf der Bummelei der Leute beruht — ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann hinfiel. Warum fällt der Lümmel um? Wozu hat er denn seine dicken Knochen, wenn er nicht auf ihnen stehen bleibt? Nur um spazieren zu gehen? Dazu hat ihm der liebe Herrgott keine geraden Beine gegeben, das kann man auch mit krummen Knochen. Ich frage noch einmal, warum fiel der Mann hin? Hier auf ebener Erde! Wenn das Gelände schlecht wäre, würde ich kein Wort über den Mann verlieren. Meine Herren, ich habe in vielen Garnisonen gestanden, dies ist die neunte, aber das will ich Ihnen sagen, ich habe noch niemals einen Exerzierplatz gefunden, der sich so vorzüglich zum Parademarsch eignet wie dieser, der so glatt und eben ist — es muß ja eine Freude sein hier zu marschieren, denn der Platz ist ja die reine Tenne — daß man unter einer Tenne eine vollständig ebene Diele versteht, ist Ihnen wohl bekannt.”

Der Herr Oberst schweigt, ihm ist selbst angst und bange geworden bei seinen Worten. Er denkt: „Ob meine Offiziere mir das wohl glauben?”

Aber die denken gar nicht daran, die denken ganz etwas anderes — untereinander können die Offiziere sich immer noch nicht ansehen, weil sie immer noch stillstehen müssen, so sehen sie denn wie auf Kommando alle mit großen, starren, verwunderten Augen ihren Kommandeur an, und in ihren Mienen steht für den, der lesen kann, ganz klar und deutlich: „Du bist verrückt, mein Kind.”

Und der Herr Oberst kann lesen, seither war er immer sehr stolz darauf gewesen, wenngleich er sich auch nicht damit brüstete, in diesem Augenblick wünschte er sich, ein Analphabet zu sein.

Aber auch die Wünsche der Vorgesetzten gehen — Gott sei Dank — nicht immer in Erfüllung.

Dem Herrn Oberst waren die Gesichter seiner Offiziere mehr als unangenehm, das Antlitz des Etatsmäßigen ging noch, das zeigte, wie aus der Stellung seines Besitzers zu erkennen, wenigstens noch eine halbe Zustimmung — aber das Erstaunen, die mimische Darstellung des „Du bist verrückt!” wuchs von Charge zu Charge und der jüngste Leutnant stand da mit offenem Mund — daß ein Vorgesetzter so lügen konnte, hatte Seiner Majestät Jüngster denn doch nicht für möglich gehalten.

„Hier hilft nur eins, eine s-ackmäßige Grobheit,” dachte der Herr Oberst und gleich darauf brauste er auf: „Meine Herren, wie kommen Sie dazu, wenn auch nur durch Ihren Gesichtsausdruck, den leisesten Zweifel in meine Worte zu setzen — wenn ich sage, dies ist eine Tenne, dann ist es eine Tenne, und wenn Sie mir nicht freiwillig glauben, werde ich Sie zwingen, mir zu glauben.”

Gleich darauf begann der Prademarsch von neuem und wieder fielen und stolperten die Leute an dem Herrn Oberst vorbei.

Als das Regiment sich von neuem formiert hatte, ritt der Herr Oberst vor die Front: „Leute,” sagte er, „merkt es euch, ich sperre jeden, ganz einerlei, wer es ist, der nun noch hinfällt, drei Tage ein.”

Das war ein stolzes Wort und stolz ritt der Oberst im kurzen Trab zurück — einen Galopp riskierte er nicht in dem Gelände — aber auch der Trab war sein Unglück: der Gaul stolperte, trat mit den Vorderbeinen in ein Loch und über den Hals seines Rappen hinweg flog der Oberst in den Sand.

Da lag er nun in seiner ganzen Schönheit.

Mit jugendlicher Elastizität sprang er gleich darauf wieder in die Höh und schwang sich wieder in den Sattel und ritt dann in sausendem Schritt weiter. Wenn er seine Drohung hätte wahr machen wollen, hätte er sich selbst einsperren müssen, aber daß ein Vorgesetzter sich selbst bestraft, giebt es nicht, obgleich es beim Militär verschiedenes giebt.

Der Herr Oberst war sehr betrübt, der Versuch, seine Offiziere zu zwingen, ihm zu glauben, war auf das glänzendste gescheitert und nichts ist für einen Vorgesetzten so peinlich, als wenn er irgendwie zugeben und eingestehen muß: ich habe Unsinn geredet.

Mit prophetischem Blick sah er voraus, daß der Parademarsch auf der „Tenne” ihm bald das Genick brechen würde und kaum ein halbes Jahr später erfüllte sich seine Ahnung auf das glänzendste.


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