„Tanzen, immer tanzen.”

Eine Manöver-Erinnerung.
„Stiller Alarm.”
Von Graf Günther Rosenhagen/Freiherr von Schlicht,
in: „Stralsundische Zeitung”, Sonntagsbeilage vom 6.9.1896,
in: „Kleine Geschichten” und
in: „Der rote Pierrot”


Leise klopfte es an mein Fenster, das nach der stillen Dorfgasse hinauslag, erst leise, dann lauter und immer lauter.

„Günther(1), Mensch, wachen Sie auf, es ist stiller Alarm.”.

Ich öffnete das Fenster und sah meinen Kompagnie-Kameraden vollständig marschbereit dastehen.

„Diesen Heidenlärm, den Sie verursachen, nennen Sie stillen Alarm? Nun, das ist Ansichts­sache. Aber sagen Sie, bitte, ist es Scherz oder Ernst?”.

„Traurige Thatsache, an der sich nichts ändern läßt. Sie kennen ja das schöne Lied, das unsere Leute immer singen: „Wir Soldaten woll'n marschieren, marschieren, marschieren, wir Soldaten woll'n marschieren” und so weiter bis in die Unendlichkeit oder wohin uns sonst der Wille des Höchstkommandirenden ruft.”.

„Aber ich habe noch gar nicht geschlafen, ich bin noch nicht im Bett gewesen.”

„Lieber, das ist Ihre Schuld, warum sitzen Sie so lange in der Dorfschenke, trinken das elende dünne Bier und nehmen dem armen Schulmeister seinen letzten Thaler im Skat ab?”

„Kann ich dafür, daß der Mann einen Grand mit Vieren verliert? Aber nun schnell, sonst können wir nachher allein hinter dem Bataillon herlaufen.”

Ich hatte meine bequemen Hausschuhe mit den Wasserdichten vertauscht, meinen kleinen Tornister, die „Schande des modernen Ritterthums”, umgehängt, die Mütze eingepackt, den Helm aufgesetzt und trat auf die Straße. Von allen Seiten eilten die Mannschaften herbei, theils fertig angezogen, theils noch im Laufen das Gepäck ordentlich befestigend. Wir kamen noch rechtzeitig, um bei dem Rangieren der Kompagnie mit helfen zu können und meldeten uns bei unserem Kompagnie-Chef.

„Wo geht die Reise denn hin, Herr Hauptmann?” fragte ich leise; lautes Sprechen war bei Todesstrafe verboten.

„Weiß ich es?” entgegnete er. „Marschrichtungspunkt die Idstedter Haide, wie weit wir kommen, weiß ich nicht.”

„Na, hoffentlich kommt uns der Feind entgegen, sonst können wir uns auf einen langen Weg gefaßt machen.”

„Das Gewehr über. Wer spricht, fliegt drei Tage ins Loch. Ohne Tritt, marsch!”

Schweigend traten wir an, vereinten uns mit dem Bataillon und rückten endlich zum Regiment vereinigt in langer Kolonne vor. Es war ganz finster, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen und der Vormarsch bis an die breite Chaussee, die in gerader Linie nach Idstedt führte, war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Endlich aber hatten wir den guten Weg erreicht und nun ging es „frei weg”. Wie spät mochte es nur sein? Ich zündete ein Streichholz an und sah nach der Uhr; die Zeiger wiesen auf Vier.

„Sind wir noch nicht bald da? Sie sind hier ja in der Gegend zu Hause,” fragte mich ein Kamerad, der in ziemlich schlechter Laune neben mir herging, „wie weit ist es noch?”

„Nun, drei Stunden brauchen wir wenigstens.”

„Verfluchte Wirthschaft,” meinte er, und nach einer kleinen Weile setzte er hinzu: „Wissen Sie, wonach ich mich auf dieser Thränenwelt sehne?”

„Nun?”

„Ich möchte es soweit bringen, daß ich nicht mehr nötig habe, im Sommer bei dem Licht der Lampe aufzustehen. Sie lachen, aber giebt es etwas Schrecklicheres, als von dem Burschen mit den Worten geweckt zu werden: „Herr Lieutenant, es ist zwei Uhr.” Man reibt sich schlaftrunken die Augen und sieht ein Licht brennen: merkwürdig. mir kommt es immer so vor, als wenn die Lampen im Sommer ganz anders brennen als im Winter.”

„Einbildung, lieber Freund, wie vieles im Leben.”

„Mag sein, aber was wäre das menschliche Leben ohne Einbildung?”

„Philosophiren Sie nicht auf nüchternen Magen, es kommt so wie so bei der Philosophie nichts heraus. Geben Sie mir lieber einen Kognak und lassen Sie uns die Glieder erwärmen.”

„Solches agte schon mancher,” entgegnete er, „aber woher nehmen und nicht stehlen? Wenn ich Ihnen aber mit einer Cigarre hülfreich unter die Arme greifen darf, so sagen Sie es, bitte.”

Wir brannten uns den Taback an und gingen weiter. Die Helligkeit verbreitete sich mehr und mehr, und nachdem die Sonne aufgegangen , war es ein Vergnügen, an den reichen Feldern und den schönen Waldungen vorbei zu marschieren. Wieder waren zwei Stunden verflossen, als die erste Meldung über den Gegner eintraf; „Der Feind hat das Dorf Idstedt besetzt.”

Es wiederholt sich eben alles im Leben, so würden wir, wie unsere Väter, wiederum bei Idstedt eine große Schlacht schlagen, nur mit dem Unterschied, daß die Politik dieses Mal den Waffenerfolg nicht wieder verderben würde.

Wir hatten uns bis auf sechshundert Meter der Haide genähert und unser Regiment bekam den Befehl, den linken feindlichen Flügel anzugreifen. Allmählich wurden die Schützenlinien entwickelt und wir versuchten, möglichst nahe an den Gegner heranzukommen. Aber während wir langsam und bedächtig auf der nassen Torfhaide vorgingen und uns sorgsam die trockensten Stellen aussuchten, fing es an zu regnen. Erst sanft und leise, dann immer stärker und stärker und endlich goß es, daß wir in wenigen Minuten vollständig durchnäßt waren. „Gestrenge Herren regieren nicht lang,” mit diesem alten Wort suchten wir uns zu trösten, aber vergebens. Wenn es einen Augenblick nachgelassen hatte, so fing es in der nächsten Minute wieder mit erneuter Heftigkeit an. Wir sahen uns um, suchten einen Baum, einen Strauch, unter dem wir hätten Schutz finden können, aber nichts war da. Der weiche Boden fing an einem See zu glichen, wir sanken bis an die Knöchel ein. Behutsam ging nicht weit von uns eine andere Schützenlinie vor, der Offizier zehn Schritt voran und weithin ertönte sein mahnender Ruf: „Vorischt, Leute, Vorsicht!” Aber plötzlich verstummte sein Mund, bis an den Hals war er in den weichen Boden gesunken, nur sein Kopf und die zum Himmel erhobenen Arme ragten empor: einen Augenblick war Stille, dann ertönte es wieder: „Vorischt, Kinder, Vorsicht!” und vorsichtig zogen die Leute ihren Führer heraus. Und inzwischen regnete es fort und fort, man konnte kaum noch den Gegner erkennen. So lagen wir einige Stunden, immer hoffend, daß der Himmel sich doch noch aufklären würde. Da kam endlich der Befehl: „Wegen des Unwetters wird die Uebung abgebrochen, die Truppen rücken auf dem nächsten Wege in ihr Quartier.” Der nächste Weg, wie lang war er denn? Wir zogen die Karten und fanden immer dasselbe Resultat: 20 km. Was nützte das Klagen? Die Gewehre wurden umgehängt und wir gingen denselben Weg, den wir vor wenigen Stunden gekommen waren, wieder zurück. Wir sollten nach einem adeligen Gut, das etwa eine Stunde von meiner lieben Vaterstadt entfernt war. Unser Weg führte uns durch das kleine Städtchen. Wie hatte ich mich darauf gefreut, den Ort, an dem ich geboren und in dem ich meine ganze Jugend verlebt, wiederzusehen, — und nun, durchnäßt, kalt und verfroren marschirten wir ohne Sang und Klang durch die Straßen, denn unsere Trommeln waren so naß, daß sie trotz aller Anstrengung der Spielleute keinen Ton von sich gaben. Ob die liebe Stadt sich wohl verändert hatte? Ich ließ meine Blicke herumschweifen, alles war noch so, wie ich es vor zehn Jahren zuletzt gesehen, an dem Kolonialwarengeschäft des Kaufmanns Thomsen fehlte noch immer das o in dem Namen, und in dem Rinnstein vor meiner Eltern Haus schwamm noch immer(2) die Hutkrempe, die ich vor zehn Jahren meinem Bruder in einem erbitterten Streite abgerissen hatte — oder sollte es vielleicht doch eine andere gewesen sein? Von den Bekannten traf ich nur einen, den Schneidermeister Liest, ich redete ihn an, aber er erkannte mich nicht, und doch hatte er mich eines Morgens ganz jämmerlich durchgeprügelt, als ich ihm seine schönsten Rosen gestohlen hatte, um meiner Jugendliebe eine Freude zu bereiten.

Endlich, nach mehrstündigem Marsch im strömendsten Regen hatten wir das Gut erreicht und wurden von dem Besitzer auf das Liebenswürdigste begrüßt. Er führte uns in das Frühstückszimmer, nachdem er uns mitgetheilt, daß unsere Koffer noch irgendwo im heiligen Deutsche Reiche umherschwämmen(3), ein Umkleiden also unmöglich sei. Gleich darauf öffnete sich die Thür des Nebenzimmers und die Hausfrau mit ihrer jungen, blühenden Tochter erschien und forderte uns auf, Platz zu nehmen und zuzugreifen. Gerne entsprachen wir der Einladung, hatten wir doch seit zwölf Stunden nichts gegessen. Köstliche Speisen wurden aufgetragen, Rotwein und Portwein herumgereicht, — aber es nützte nichts, wir waren kalt und müde, die gute Laune und der Humor wollten nicht kommen, wir Alle hatten nur den einen wunsch: „Zu Bett, Schlafen.”

„Meine Herren, ich sehe es Ihnen an,” begann die Dame des Hauses, „Sie sind angegriffen und abgespannt, aber ich habe ein vortreffliches Mittel, um Sie auf andere Gedanken zu bringen. Raten Sie einmal, was ich meine.”

Nun ging das Raten an; der Eine meinte dies, der Andere das, aber endlich vereinten sich alle Stimmen zu dem Ruf: „Ein warmes Glas Grog,” denn in dem Zustand, in dem wir uns befanden, schien dieses uns nächst den Bett das höchste Glück auf Erden.

„Aber, meine Herren,” meinte die Dame schmollend, „wie mögen Sie nur so materiell sein, ich weiß etwas viel Schöneres für Sie — tanzen, immer tanzen.”

Gespannt hatten wir gelauscht. Jeder war neugierig auf das Zauberwort, das unsern Kummer verscheuchen, unsere schlechte Laune vertreiben sollte. Aber als wir das Wort „tanzen” hörten, knickten wir zusammen wie gebrochene Lilien, und mein Hauptmann stieß mich unter dem Tisch mit seinen Sporen, daß ich einen leisen Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte. Nachts alarmirt werden, dann zwölf Stunden im Regen herumlaufen und nachher tanzen zu müssen, ist wahrlich kein Vergnügen.

Nach Beendigung des Frühstücks gingen wir auf unsere Zimmer.

„Meine Herren, in einer kleinen Stunde bitte ich zu Tisch.” Also den Schmerz auch noch, nicht einmal einen Mittagsschlaf konnten wir machen. — Wir waren kaum mit unserer Toilette fertig, als auch schon die Glocke durch das Haus ertönte. Unten im Eßzimmer fanden wir wir eine große Gesellschaft vor, die Tochter hatte ihre zwölf besten Freundinnen eingeladen, so kamen auf Jeden von uns zwei Tischdamen.

„Nette Aussichten für nachher,” flüsterte mir mein Hauptmann zu, „ich setze Ihnen Dienst an, daß Sie nicht wissen, wo Sie hin sollen, wenn Sie mir nicht meine beiden Tänzerinnen abnehmen.”

Zu meiner Rechten saß die Tochter des Pfarrers, zu meiner Linken die Tochter eines Arztes aus dem benachbarten Dorf. Die Unterhaltung war sehr einseitig, ich gab mir alle Mühe liebenswürdig zu sein, aber außer einem Ja und Nein konnte ich kein Wort aus den beiden jungen Damen herausbekommen. Erst als ich im Laufe der Unterhaltung die vielleicht etwas kühne Behauptung aufstellte, es gäbe kein junges Mädchen, das nicht in ihren Religions- oder deutschen Lehrer verliebt gewesen wäre, wurden sie gesprächig, aber an der Art, wie sie sich vertheidigten, merkte ich, daß auch sie zu Jenen gehörten, die ihrem Lehrer dadurch bedeutende Unkosten verursachen, daß sie ihm beständig seine kleinen Taschenbürsten oder sein Notizbuch wegnehmen.

Kaum war das Dessert herumgereicht, da erklangen die Töne des Mikado-Walzers, aber so gräßlich, wie ich es nie für möglich gehalten, jeder dritte Takt fehlte.

„Sie müssen schon mit der Musik zufrieden sein, die Orgel, die unser Gärtner spielt, ist leider nicht ganz in Ordnung. Aber nicht wahr, es wird schon gehen?”

„Gewiß, gnädige Frau,” versicherten wir, „das ist ja famos, dann tanzen wir zwei Takte, und während des dritten pausieren wir.”

Es war unser bitterer Ernst, aber die kleinen Mädchen stießen sich kichernd mit dem Ellbogen an, und wren entzückt über den köstlichen Witz. „Je eher daran, desto eher davon,” meinte wohl unser Major, als er auf den Wunsch der Hausfrau die Tafel aufhob; aber da hatte er sich gewaltig geirrt. Ich bin ein leidenschaftlicher Tänzer und kann mich nicht entsinnen, auf einem Ball jemals einen Tanz ausgelassen zu haben, ich habe sogar einmal, allerdings in Folge einer Wette, eine halbe Stunde Walzer getanzt, ohne auch nur eine Sekunde auszuruhen, aber was uns an dem Abend zugemuthet wurde, überstieg sogar meine Kräfte. Wir mußten tanzen, tanzen, tanzen, immerfort, in einem zu, ohne Rast noch Ruh.

„Lieber will ich eine rebellische Kompagnie zur Vernunft bringen, als diese tanzlustigen Geschöpfe. Günther, nehmen Sie sich mal die Tochter des Hauses vor und tanzen Sie die müde, sonst bringt sie mich noch um.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

„Gnädiges Fräulein, dürfte ich vielleicht einen Schnellwalzer mit Ihnen versuchen?”

„Ach, wie schön,” entgegnete sie, „so schnell Sie können?”

„Wie Sie wünschen, Gnädigste,” und wir rasten dahin, daß Alle erschrocken aus dem Saal flohen, daß der Fußboden zitterte und der alte Gärtner vor Entsetzen das Orgeldrehen vergaß. Aber, wer kann eine Dame tottanzen? Wenn man auf einem Balle ein junges Mädchen auf seinen Platz geführt hat und sich sagt: „Die muß nun doch müde sein, jetzt will ich mir eine Sekunde Ruhe gönnen,” dann tanzt sie im nächsten Augenblick schon wieder strahlend vorüber und mit Verachtung sehen ihre schönen Augen auf uns herab.

„Gnädiges Fräulein, haben Sie Mitleid mit mir, ich kann nicht mehr.”

Erschöpft wankte ich in das Rebenzimmer(4): „Herr Hauptmann, es nützt nichts.”

„Schwächling,” brummte er vor sich hin, schon wollte ich ihm rathen, sein Glück selbst zu versuchen — aber horch, was war das?

„Hast Du noch nicht lang genug geschla—a—fen?”

Langsam, ernst und feierlich ertönten die Klänge der Reveille, es war vier Uhr, wir sahen uns an und lachten ob der ironischen Frage.

Noch eine Stunde, dann mußten wir wieder hinaus ins feindliche Leben. Rasch ging Jeder auf sein Zimmer, die gute Uniform wurde wieder in den Koffer gepackt, der noch feuchte Dienstanzug angezogen und nach einer Viertelstunde waren wir um den Kaffeetisch versammelt.

„Nun, meine Herren, war Tanzen nicht das beste Mittel, um Sie wieder auf andere Gedanken zu bringen? Tanzen, immer tanzen.”

„Gewiß, gnädige Frau, es war prachtvoll.”

Aber still faltete ein Jeder von uns die Hände und leise flüsterten unsere Lippen: „Und erlöse uns von dem Übel.”


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Der rote Pierrot” fehlt der Name „Günther”. (Zurück)

(2) In der Fassung von „Der rote Pierrot” fehlen hier zwei Zeilen der Fassung der „Kleinen Geschichten”, und zwar die unterstrichenen Worte. (Zurück)

(3) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es hier: „umherschwärmen”. (Zurück)

(4) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es hier, wie es ja auch wohl richtig ist: „Nebenzimmer”. (Zurück)


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