Meine Tante Jenny.

Original-Humoreske für die Allgem.Thür.Landeszeitung Deutschland
Von Freiherr von Schlicht

in: „Aber so was!” und
in: „Weimarisches Sonntagsblatt”, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allgem.Thür.Landeszeitung Deutschland” vom 6.Nov. 1921


Geliebter Leser, und namentlich du, geliebte Leserin, die du, wenn meine Augen mich nicht täuschen, höchstens, aber auch allerhöchstens, hm-zehn, keinesfalls aber älter als Ende der letzten hmzig bist, hast auch du eine Tante Jenny, die natürlich aber auch Kathinka, Anna, Paula oder sonst irgendwie heißen kann? Wenn ja, mein herzlichstes Beileid! Wenn nein, gedenke des Wortes: Genieße, was dir Gott beschieden, entbehre gern, was du nicht hast.

Ich aber habe eine Tante Jenny. Richtiger gesagt, ich hatte eine. Warum ich keine mehr habe, erzähle ich zum Schluß.

Also meine Tante Jenny! Ganz jung ist sie nicht mehr, denn sie hat schon vor längerer Zeit ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert, aber sie fühlt sich noch so jung und so frisch, daß sie an allem, was uns, ihre Neffen und Nichten, betrifft, den regsten Anteil nimmt und daß sie es zwar nicht gerade verlangt, aber es doch als ganz selbstverständlich annimmt, daß wir sie bei allen wichtigen Entschlüssen unseres Lebens um Rat fragen, damit sie uns dann mit dem reichen Schatz ihrer Erfahrungen zur Seite stehen kann. Hieraus entwickelte sich mit der Zeit natürlich eine gewisse Art der Bevormundung, aber ebenso wie die andern Neffen und Nichten, ließ auch ich mir die gefallen, denn Tante Jenny hatte Geld, viel Geld sogar, trotz der Vermögensabgabe für das Reichsnotopfer.1) Aber ich glaube, da hat Tante Jenny nicht ganz richtig geopfert, sondern doch irgendein Loch in einem der Gesetzesparagraphen gefunden, durch das sie mit einem großen Teil ihres Geldes hindurchschlüpfen konnte. Und damit war auch ich sehr einverstanden, denn wer heutzutage nicht erschiebt und nichts ererbt, der bleibt noch viel mehr als früher ein armes Luder, bis er sterbt, ganz besonders, wenn er, wie ich, dazu verurteilt ist, sich seinen Lebensunterhalt dadurch zu verdienen, daß er Bücher schreiben muß.

Auch ich wollte erben, aber die Sache ließ von einem Monat auf den andern auf sich warten, und das lag vielleicht daran, daß ich jeden Abend betete: Lieber Gott, schenke meiner Tante Jenny noch ein langes reichgesegnetes Leben, aber schenke mir ein recht baldiges reichgesegnetes Erbe. Da wußte sicher selbst der liebe Gott nicht, wie er diese meine beiden Wünsche miteinander in Einklang bringen und erfüllen solle, und dann machte er es, wie so mancher Mensch es zu tun pflegt, wenn man sich in der Not mit einer Bitte an ihn wendet: er tat, als hätte er mich gar nicht gehört.

Tante Jenny lebte weiter und weiter, und da sah ich es eines Tages ein, ich konnte nicht länger vergebens auf ihr Erbe warten, sondern ich mußte anderweitig zu Geld kommen, das ich dringend brauchte, da ich mir eine neue Hose machen lassen mußte. Wenn ich mir früher ein solches Kleidungsstück bauen ließ, war ich dafür mit dem besten Erfolg viele Monate hindurch den Betrag von fünfzig Mark schuldig geblieben. Jetzt sollte ich für dasselbe Gebäude sechshundert Mark bar auf den Schneidertisch zahlen. Der Schneidertisch war da, den sah ich ganz deutlich vor Augen, aber nicht die sechshundert Mark. Woher sollte ich die nehmen? Mein Versuch, bei meinen Verlegern einen Vorschuß in dieser Höhe aufzunehmen, scheiterte so glänzend, wie noch nie zuvor ein finanzielles Unternehmen gescheitert ist, und so dachte ich schon daran, entweder auf die Hose zu verzichten, oder mir die aus einem alten vermotteten Mantel zurchtschneidern zu lassen, als mir in der höchsten Not der rettende Gedanke kam: Versuche dein Glück einmal in der Lotterie.

Und kaum war mir dieser Gedanke gekommen, da kam mir ein, nach meiner Ansicht noch viel besserer, nämlich der, Tante Jenny um Rat zu fragen, was sie dazu meine. Meine stille Hoffnung war selbstverständlich, Tante Jenny würde aus meinem Brief ersehen, daß es mir finanziell drei Prozent unter jedem Schweinehund ginge und daß sie mir mit einem, doch beinahe völlig wertlosen Tausendmarkschein hilfreich unter die Arme greifen würde, obgleich sie wußte, daß ich gerade an der Stelle niederträchtig kitzlig bin.

So schrieb ich Tante Jenny denn einen wunderschönen Schreibebrief, sogar einen leserlichen, was bei meiner miserablen Handschrift viel sagen will, und der Erfolg blieb auch nicht aus. Tante Jenny schickte mir zwar keinen Tausendmarkschein, nicht einmal einen halben, denn in der Hinsicht besaß sie eine fast unweibliche Selbtbeherrschung. Wohl aber schrieb sie mir, mein Gedanke, mein Glück einmal bei der Lotterie zu versuchen, sei glänzend, und sie habe sich schon längst gewundert, daß ich das nicht viel eher getan, denn ich müsse doch selbst einsehen, daß in der jetzigen Zeit nur ein Ganzidiot sich einbilden könne, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, daß er am Schreibtisch alle Augenblicke seine Feder in die Tinte tunke und diese Tinte dann in Gestalt von Buchstaben auf das Papier male. Mit der Lotterie sei das aber etwas ganz anderes. Durch die seien schon viele plötzlich reich geworden und auch ich würde es sicher werden, nur müßte ich bei dem Einkauf des Loses darauf achten, daß ich eine Nummer bekäme, deren Quersumme durch die Anzahl ihrer Zahlen teilbar sei, zum Beispiel eine Nummer wie 22 222. Die Quersumme betrüge 10, die Gesamtzahl aber bestände aus fünf einzelnen Zahlen und 10 dividiert durch 5 ginge auf, ohne daß ein Rest verbliebe.

Nur ein solches Los, aber auch nur ein solches und ganz bestimmt ein solches würde mir das Glück bringen.

Na, Tante Jenny, die mit ihren mehr als siebzig Jahren doch schließlich kein junges Mädchen mehr war, das sich in ihren Briefen irgendwelchen Unsinn zusammenschrieb, mußte es auf Grund ihrer reichen Erfahrungen ja wissen, und so machte ich mich denn gleich auf den Weg, um mir ein solches Los zu erstehen. Wohin ich meine Schritte lenken würde, wußte ich, denn ich war oft bei einem Lotterie­kollekteur vorübergegangen, an dessen Hause ein großes Schild mit der verlockenden Aufschrift prangte: Wo gewinnt man vieles Geld? Bei Gebrüder Löwenfeld.

So betrat ich denn den Laden der Gebrüder Löwenfeld, aber die Gebrüder selbst waren nicht anwesend, sondern eine junge Verkäuferin, der ich meinen Wunsch vortrug: „Verehrtes Fräulein, ich hätte gern ein ganzes Los zu der letzten Ziehung der Preußischen Klassenlotterie, aber ich bitte nur um eine Nummer, deren Quersumme sich durch die Anzahl der einzelnen Zahlen, aus denen die Gesamtzahl besteht, restlos dividieren läßt.”

Einen Augenblick sah die Verkäuferin mich an, als wisse sie nicht, wer von uns beiden verrückt sei, dann meinte sie schnippisch, aber lakonisch: „Solche Schieberlose führen wir nicht.”

„Aber ich will doch auch kein Schieberlos,” verteidigte ich mich, „sondern ein ganz reelles, und so ohne weiteres können Sie doch wohl nicht behaupten, daß Sie ein Los, dessen Quersumme durch die Anzahl der einzelnen Zahlen restlos teilbar ist, nicht führen. Da müßten Sie doch erst einmal nachsehen, und ich wäre gern bereit, mich Ihnen dafür dankbar zu erweisen.”

„Wünschen Sie sonst noch etwas?” erkundigte sich die holde Verkäuferin, ohne von meinem doch immerhin nicht gazn unerfreulichen Anerbieten auch nur die geringste Notiz zu nehmen.

„Nicht daß ich wüßte,” gab ich kleinlaut zur Antwort.

„Dann also bitte,” lautete ihre höfliche Entgegnung, die in der Hauptsache aber darin bestand, daß sie mir in sehr entgegenkommender Weise die Ladentür öffnete.

Und hinausgeworfen. wie ich mich fühlte, stand ich eine halbe Minute später wieder auf der Straße.

Wohin nun? dachte ich. Da sah ich im Geiste ein Haus vor mir, an dem ich auch schon oft vorübergegangen war und an dem ein großes mit grünen Eichenblättern bemaltes Plakat hing, das außerdem die Aufschrift trug: Fürstlich Glück ist zu erreichen nur bei Fürst, hier bei den Eichen!

Früher hatte ich über den schönen Reim und über die wohl nur des Reimes wegen auf das Plakat gemalten Eichenblätter gelächelt, jetzt aber glaubte ich an die Wahrheit dieser Worte und betrat den fürstlichen Laden, dessen Inhaber mir diensteifrig entgegeneilte.

„Sie wünschen, mein Herr?”

Ich betete meinen Vers her: „Ich hätte gern ein ganzes Los zur letzten Klasse der Preußischen Klassenlotterie, aber nur eine solche Nummer, bei der die Quersumme restlos in die Anzahl der einzelnen Zahlen, aus denen die Nummer besteht, aufgeht. Nein, umgekehrt,” verbesserte ich mich selbst, „deren Quersumme natürlich in der Summe der Anzahl der einzelnen Zahlen restlos aufgeht. Nein, das auch nicht,” verbesserte ich mich abermals, „also ein Los mit einer Nummer, bei der die Quersumme und die Summe der einzelnen Zahlen, aber nein, das auch nicht, sondern ein Los, dessen Quersumme durch die Anzahl der einzelnen Zahlen restlos teilbar ist. Ja, so ist es richtig, nicht wahr, nun habe ich mich klar ausgedrückt, und Sie haben mich hoffentlich auch verstanden?”

Aber das schien der keineswegs zu haben, denn er glotzte mich an wie — ja, wie denn nur? Halt, jetzt weiß ich's. So wie jener Arzt seinen Patienten, der zu ihm kam und also zu ihm sprach: „Sie müssen mir helfen, Herr Doktor, ich habe in meinen beiden Oberarmen ganz niederträchtige Schmerzen, das aber merkwürdigerweise nur dann, wenn ich gleichzeitig mit meinen beiden Armen einen Kreis beschreibe, dessen Mittelpunkt in der Verlängerung der beiden Zeigefinger liegt.”

Da sah der Arzt seinen Patienten genau so blödsinnig an, wie Herr Fürst mich und fragte den Kranken: „Ja, aber warum machen Sie denn auch nur so blödsinnige Armbewegungen?”

Worauf der Kranke den Arzt nicht minder blödsinnig ansah und ihn seinerseits fragte: „Ja, Herr Doktor, wollen Sie mir bitte sagen, wie ich, ohne diese Armbewegungen zu machen, in meinen Paletot hineinkommen soll, wenn ich niemanden habe, der mir in den hineinhilft?”

„Dann allerdings,” meinte der Arzt nachdenklich, und auch der Besitzer und Verkäufer des fürstlichen Glückes meinte nachdenklich: „Dann allerdings,” nachdem ich ihm noch einmal erklärt, was für eine Nummer ich suche und warum ich auf Rat meiner Tante Jenny gerade eine solche suche.

Und dann suchten wir zusammen in seinem reichassortierten Lager unverkaufter Lose, aber das, was wir suchten, fanden wir nur beinahe, und zwar in dem Los Nummer 19 991. Auch das war, wie Herr Fürst mir auseinandersetzte, eine Glücksnummer. Am Anfang und am Schluß dieselbe Zahl, und in der Mitte drei gleiche. Das wäre so gut wie ein aufgelegter großer Gewinn. Und auch sonst entspräche das Los doch beinahe völlig meinen Wünschen. Ich brauche mir doch nur die beiden Einsen fortzudenken, dann blieben drei Neunen. Quersumme 27, dividiert durch die Anzahl der Nummern, also durch drei, ergäbe neun. Das ginge auf, ohne daß auch nur der kleinste Rest verbliebe. Und wenn ich mir die beiden Einsen nicht fortdenken könne, dann solle ich mir da ruhig zwei andere Zahlen denken, entweder noch zwei Neunen oder zwei Vieren, dann betrüge die Quersumme 35 und ginge duch die fünf Zahlen auch auf und auch restlos.

Herr Fürst redete mit sämtlichen Zungen seines Stammes auf mich ein und empfahl mir das Los 19 991 als glänzenden Ersatz für das, was wir leider nicht finden konnten, immer aufs neue. Aber ich dachte an meine Tante Jenny, deren Ratschläge ich schon wegen der späteren Erbschaft befolgen mußte, und widerstand.

„Sie werden es bereuen, Herr Baron,” rief Herr Fürst mir nach, als ich mich verabschiedete.

Oder auch nicht, dachte ich meinerseits und schrieb an einen mir bekannten Berliner Kollekteur, und von dem erhielt ich drei Tage später das, was ich brauchte.

Ich hielt das Glückslos in Händen, Nummer 29 766. Quersumme 30, dividiert durch 5, die Anzahl der einzelnen Zahlen ergab 6, Rest 0.

Hurra, ich hatte gewonnen! Oder ich würde gewinnen. Nun konnte die neue Hose meinetwegen statt 600 Mark auch ruhig 700 oder 800 kosten.

Aber als dann vierzehn Tage später der Tag der Ziehung kam, da gewann meine Nummer 29 766 trotz ihrer restlos teilbaren Quersumme nichts, die Nummer 19 991 aber, die Herr Fürst mir hatte verkaufen wollen, war mit einem Gewinn von 300 000 Mark herausgekommen.

Als ich das in der Ziehungsliste gelesen hatte, fiel ich hintenüber und lag achtundvierzig Stunden, obgleich ich sonst keine alte hysterische Jungfrau bin, in Ohnmacht.

Dann aber, als ich wieder erwachte, tobte ich wie der rasende Roland in meiner Wohnung herum, daß man es draußen auf der Straße hörte und daß sich dort Menschen ansammelten, von denen schließlich einige zur Polizei und zur Feuerwehr rannten, da sie befürchteten, ich würde durch ein weiteres Toben und Rasen einen Zusammensturz des Hauses, in dem ich wohnte, herbeiführen und ebenso wie mich auch die andern Bewohner des Hauses unter den Trümmern begraben.

Die Polizei kam auf ihren Fahrrädern angesaust, die Feuerwehr auf ihrer Dampfspritze, und beide zogen erst wieder ab, nachdem ich ihnen versprochen hatte, das weitere Toben aufzugeben, nachdem sie mir aber trotzdem ein polizeiliches Strafmandat über mindestens fünf Mark wegen Veranlassung eines Menschenauflaufs in todsichere Aussicht gestellt hatten.

Na, wenn schon, was kam es mir jetzt, wo die Pleitegeier mich ohnehin schon umkreisten, auf fünf Mark weniger oder noch weniger an.

Trotzdem aber gab ich schließlich das Fluchen und Toben auf und setzte mich an meinen Schreibtisch.

Und schrieb an Tante Jenny einen Schreibebrief. Der wurde nicht ganz so höflich wie der erste, aber dafür wurde er noch leserlicher. Ich schrieb ordentlich mit h-Strich, m-Strich, und mit diesen Strichen verfluchte ich sie, wenn natürlich auch durch eine sehr zarte Blume, wegen des Streiches, den sie mir mit ihrem sogenannten guten Ratschlag gegeben habe. Dann steckte ich den Brief gleich in den Kasten, und als ich es getan, dachte ich: Nun bist du nur neugierig, was Tante Jenny dir antworten wird. Wenn sie in ihrem Geldbeutel auch nur die leiseste Spur eines Herzens besitzt, schickt sie dir wenigstens jetzt ein paar tausend Mark als Ersatz für das, was du durch ihre Schuld nicht gewonnen.

Schon nach vierundzwanzig Stunden hatte ich Tante Jennys Antwort, sogar telegraphisch, und als ich die gelesen, sah ich leider zu spät ein, daß man einer Erbtante nicht einmal durch die zarteste aller Blumen die Meinung sagen darf, denn Tante Jennys Antwort lautete kurz, aber schmerzlich und inhaltsreich: Enterbt!

Und nun wird man es mir glauben, wenn ich zu Beginn dieser wahrhaftigen Geschichte sagte, ich hatte eine Tante Jenny, denn in dem Augenblick, in dem eine Erbtante schon bei ihren Lebzeiten einen ihrer späteren Erben enterbt, hört sie damit für jeden, der als anständiger Mensch in dieser Hinsicht etwas auf sich hält, natürlich nicht nur sofort auf, seine Erbtante — sondern überhaupt seine Tante zu sein.


Fußnote:

1.) Anmerkung des Herausgebers: Gesetz über das Reichsnotopfer vom 31. Dezember 1919/30. April 1920.


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© Karlheinz Everts