Von Freiherr von Schlicht
in: „Die Lore”
Mit großen starren, beinahe entsetzten Augen las Frau Erika, die siebenundzwanzigjährige schlanke, ebenso hübsche wie elegante Gattin des in der Stadt hochangesehenen Syndikus Dr. Marquardt, immer und immer wieder das Telegramm ihres Mannes, das ihr das Mädchen vor fünf Minuten in das Zimmer gebracht hatte: „Fahre heute nacht geschäftlich sechs bis acht Tage Zürich, Briefe postlagernd.” Und dabei hatte sie mit aller, nein, wenn der Ausdruck erlaubt war, sogar mit allster Bestimmheit darauf gerechnet, daß ihr Gerhard wie schon so oft auch diesesmal, schneller als er es erwartet hatte, seine vielen geschäftlichen Angelegenheiten erledigen und sie durch eine frühere Rückkehr als ursprünglich geplant, überraschen würde. Im stillen hatte sie ihn spätestens heute mittag zurückerwartet, denn sonst hätte sie doch nie, aber auch unter gar keinen Umständen dem leider Gottes bildhübschen Maler Kuno Halde, der schon seit Monaten mit wirklich rührender Geduld und Ausdauer um sie und um ihren ersten Sündenfall bat, mit Wort und Handschlag versprochen, heute nachmittag um fünf Uhr zum Tee zu ihm zu kommen, vorausgesetzt natürlich, daß ihr Mann bis dahin nicht zurückgekehrt oder ihr seine Ankunft nicht für den Abend angemeldet habe, denn dafür hatte sie ihren Gerhard, trotzdem er sie in der letzten Zeit infolge seiner unendlich vielen Arbeit sehr vernachlässigte, doch auch heute noch zu lieb, als daß sie ihn, noch dazu zum ersten- und wenn selbstverständlich auch zum letztenmal in ihrem Leben betrügen würde, während er ihr und seinem hübschen Heim wieder entgegenfuhr.
Nun aber kam er erst in sechs bis acht Tagen. Das hieß für sie, daß sie ihr Wort einlösen, den Maler besuchen und damit ihren Mann betrügen müsse, denn wenn Kuno Halbe ihr auch versichert hatte, er bäte sie nur um ihren Besuch, um ihr seine vielen neuen Skizzen und Entwürfe, von denen er ihr schon oft gesprochen, zu zeigen und zu erklären, sie wußte nur zu genau, daß es nicht dabei bleiben würde. Das hatte ihr sein stürmischer Handkuß bewiesen, mit dem er ihr für ihre Zusage dankte, und das hatte sie selbst an dem Schlage ihres Herzens und an dem Klopfen ihrer Pulse gefühlt, als sie ihm ihre Hand, die er gar nicht wieder freilassen wollte, endlich beinahe mit Gewalt entzog.
Mit einem „Auf Wiedersehen morgen nachmittag um fünf Uhr, schönste der Frauen” hatte er sich gestern von ihr verabschiedet. Nun war der morgige Nachmittag schon da, und nur noch zwei Stunden trennten sie von ihrem ersten Rendezvous, ihrem wirklich allerersten, denn nie wäre sie früher auch nur auf den Gedanken gekommen, daß jemals die Versuchung an sie herantreten könne, ihrem Gerhard die Treue zu brechen. Und nun mußte sie die brechen, denn sie hatte dem hübschen Maler ihr Wort gegeben. Aber mußte sie das auch halten? Und vor allen Dingen, verlor ihre Zusage nicht eigentlich allen Reiz, wenn die tatsächlich eine festbindende Zusage blieb? Konnte der hübsche Kuno sich auch heute noch ebenso wie gestern auf ihren Besuch freuen, wenn er die absolute Gewißheit besaß: ich weiß, daß Frau Erika kommt. Wäre es nicht reizvoller für sie beide oder doch für ihn gewesen, wenn sie statt des Ja lediglich ein Vielleicht zur Antwort gegeben hätte? Dann würde er nun schon vom frühen Morgen an, nachdem er die Nacht sicher schlaflos verbracht, sich voller fiebernder Unruhe hundert- und aberhundertmal fragen: Wird sie auch wirklich kommen? Und wie groß, wie unbeschreiblich groß würde dann seine Freude sein, wenn sie allen seinen geheimen Befürchtungen entgegen doch käme, wenn auch nicht wie versprochen pünktlich um fünf Uhr, sondern etwas später, um halb sechs oder um sechs, oder noch besser erst um halb sieben, wenn er schon jede Hoffnung, sie heute noch zu sehen, aufgegeben hatte. Über den Punkt hatte sie einmal ein Wort gelesen, das sich ihr unwillkürlich einprägte, obgleich sie damals noch nicht ahnte, daß sie jemals davon Gebrauch machen könne, und das hatte gelautet: „Eine schöne, elegante Frau darf bei einem Rendezvous nie pünktlich sein, je unpünktlicher sie ist, desto verführerischer wirkt sie, wenn sie dann kommt. Der Reiz einer jeden Begegnung liegt nicht zum geringsten Teil in der Erwartung.”
Und sie wollte, mußte und würde ihn auch schon deshalb warten lassen, weil die Ausführung ihres Entschlusses und ihres festen Versprechens, zu ihm zu gehen, ihr nun, wo es bald so weit war, doch noch viel schwerer fiel, als sie es für möglich gehalten hätte. Aber es war ja auch ihr erstes Rendezvous, zu dem sie ging, ihr erstes und selbstverständlich auch ihr letztes, denn das schwur sie sich in diesem Augenblick, noch bevor sie ihren Gerhard betrogen hatte, zum zweitenmal würde sie das nie und nimmer tun, unter gar keinen Umständen. Und das schwur sie sich immer und immer wieder, bis ihr mitten in ihre Schwüre hinein plötzlich einfiel, daß sie noch keine Sekunde darüber nachgedacht habe, was sie für ihren ersten Sündenfall anziehen solle. Das war natürlich ganz außerordentlich wichtig, denn sie wollte ihrem hübschen Kuno doch gefallen, wenn sie zu ihm in das Zimmer trat. Aber noch viel wichtiger als das, was sie anzog, war das, was sie nachher bei ihm an Dessous und an anderen verführerischen und zarten Dingen auszog, falls es überhaupt so weit und dahin kommen sollte. Aber wenn es dahin kam, und da sie doch zu ihm kam, sah sie trotz allen Nachdenkens nicht ein, warum es nicht dahin kommen solle, dann wollte und mußte sie ihm erst recht gefallen, denn er war ja ein Künstler und hatte als solcher natürlich einen ganz besonders ausgeprägten Schönheitssinn.
Was zog sie zu ihrem ersten heimlichen Rendezvous an? Und was zog sie nachher bei ihrem ersten Sündenfall aus, wenn man es in der heutigen vorgeschrittenen Zeit noch einen Sündenfall nennen konnte, sich einem Mann, dem alle Sinne und selbstverständlich erst recht alle Herzschläge entgegenfieberten, voller Liebe und Zärtlichkeit hinzugeben? Was zog sie nur an und aus?
Da schlug die Uhr nebenan mit lauten Schlägen schon sechs und präzise fünf hatte sie bei ihm sein wollen. Schnell erhob sie sich von ihrem Platz, um ihm nun zu telephonieren, daß sie ganz, aber auch ganz bestimmt spätestens in einer halben Stunde bei ihm sei. Da fiel ihr erst wieder ein, daß die Leitung ja gestört und trotz der Versprechungen des Amtes, den Schaden sofort wieder zu reparieren, immer noch nicht gemacht sei.
Na, hoffentlich, nein, sicher wartete er auch, sowieso weiter auf sie, denn soviel wußte sie noch aus ihrer Jungmädchenzeit, ein Verehrer wartet bei einem Rendezvous, auch wenn er sich tausendmal vornimmt, nun keine zwei Minuten mehr zu warten, immer noch zwei Stunden und länger, selbst wenn er von der Angebeteten nichts weiter erhofft, als ein Wiedersehen und im besten Falle einen Kuß. Der Maler aber erwartete und erhoffte viel viel mehr von ihr, und da ihre Leidenschaft, nein da ihr Herz ihm entgegenschlug, war sie auch bereit, ihm alles, alles zu geben.
So zog sie sich denn nun so schnell sie nur konnte, sehr hübsch für ihn an, um sich nachher ebenso hübsch bei ihm ausziehen zu können, aber als sie dann endlich präzise ein halb acht Uhr statt, wie sie es versprochen, mit dem Glockenschlag fünf vor seiner Tür stand, da mußte sie zu wiederholten Malen das zwischen ihnen verabredete Glockenzeichen geben, bis er ihr endlich öffnete, und als er es dann tat, stand er ihr im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren gegenüber.
Fassungslos starrte sie ihn an, denn darauf, daß er sie so empfangten würde, war sie nicht vorbereitet gewesen. Aber sein Erstaunen und namentlich sein Erschrecken war nicht minder groß und es dauerte lange, bis er sich gefaßt und ihr zurufen konnte: „So kommen Sie also doch noch, gnädige Frau, das konnte ich nicht ahnen. Daraus, daß Sie mir auch nicht telephonierten, schloß ich, daß Ihr Gatte zurückgekehrt sie, und da vor einer halben Stunde eine andere Dame — —”
Da wußte sie genug. Was er sonst noch sagen wollte, aber ihr sich doch nicht zu sagen getraute, erriet sie aus seinem verlegenen Schweigen und das ersah sie aus seinem Schlafanzug. Wortlos wandte sie sich ab und ohne daß sie wußte, wie sie dahingekommen wäre, befand sie sich bald darauf wieder in ihrer Wohnung. Und kaum dort angelangt, warf sie sich auf ihr Bett und weinte herzzerbrechend, weil sie unverrichteter Sache und ohne etwas anderes als eine grenzenlose Enttäuschung erlebt zu haben, von ihrem ersten Rendezvous und von ihrem ersten Sündenfall, der noch dazu für immer ihr letzter gewesen sein sollte, zurückgekehrt war.
Bis sie sich plötzlich mit den heiligsten Eiden schwur, die Niederlage, die sie heute erlitten, durch einen vollen Sieg bei ihrem nächsten wirklichen ersten Rendezvous, das sie bereits in den allernächsten Tagen natürlich nicht dem Maler, sondern einem ihrer vielen anderen leidenschaftlichen Verehrer gewähren würde, und sie wußte auch schon welchem, wieder gut zu machen. Bei dem Rendezvous würde sie pünktlich sein, pünktlich auf die Minute, und damit ihr nicht auch da eine andere zuvorkäme und ihr die doch einzig und allein für sie bestimmten Zärtlichkeiten und Liebkosungen ihres Freundes fortnähme, und damit nicht auch da eine andere genösse, was sie selbst in vollen Zügen hatte genießen wollen, ging sie jetzt in ihr Ankleidezimer und in ihren kleinen Salon und stellte dort die Uhren um eine volle Stunde vor.
Und als sie das getan, war sie auf ihren Einfall sehr stolz. Allerdings, was sollte sie sagen, wenn ihr Mann sie nach seiner Rückkehr fragen würde, warum sie die Uhr so viel vorgestellt hätte? Darauf eine harmlose Antwort zu finden, würde ihr schwer, wenn nicht unmöglich sein. Aber mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen gestand sie sich plötzlich ein, daß ihr Mann ja gar nicht in Versuchung kommen würde, diese Frage an sie zu richten, denn bis dahin würden schon längst alle Uhren im Hause wieder richtig gehen.