Der stumme Kerl.

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Die Zukunft”, 12.8.1898, 24.Band, S. 294-301,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 18.9.1898,
in: „Was ist los?” und
in: „Der stumme Kerl”.


Die einfachsten Sachen, die wenigstens, die am Einfachsten aussehen, sind die schwierigsten. Wer es nicht glaubt, frage einen Circus-Clown; der wird ihm sagen: „Mein sehr verehrter Herr, ein doppelter Saltomortale ist eine große Kleinigkeit, die Jeder leisten kann. Das Schwierigste, was es für uns giebt, ist, wenn wir uns der Länge nach auf den Bauch gelegt haben, wieder aufzustehen, ohne dabei die Hände zu benutzen oder die Knie zu krümmen. Das sieht so spielend leicht aus, als wenn es gar nichts wäre, und doch ist es das Schwerste, so man hat.” Wenn Einer unter seinen guten Freunden und Bekannten, wie es ja immerhin möglich ist, keinen Circusmenschen haben sollte, so wende er sich vertrauensvoll an einen militärisch gekleideten Freund; auch Der wird ihm sicher sagen: „Lieber Sohn, die schwierigsten Exerzitien sind die einfachsten und die einfachsten die schwierigsten. Ein Karree formiren kann Jeder, wenn er bei der Ausführung des Kommandos von den hundertundzwanzig Leuten seiner Compagnie ordentlich unterstützt wird, denn allein kann natürlich kein Mensch gleichzeitig nach allen vier Himmelsrichtungen Front machen. Was aber die wenigsten Menschen können, die man Soldaten nennt, oder was, richtiger gesagt, kein homo militaris kann, einerlei, ob er sich allein auf dem großen Exerzirplatz langweilt oder ob er, gekeilt in drangvoll fürchterliche Enge, in der Compagnie seinen Platz hat, Das ist: das Stillstehen.”

Und doch ist die Sache so furchtbar einfach; wenn das Kommando kommt: „Still gestanden!” braucht man nichts Anderes zu thun, als eben still zu stehen. Aber erst können vor Lachen, wie der Berliner sagt. Stillstehen ist die Seele vom Ganzen und darum wird von den höchsten und hohen Vorgesetzten auf diese edle Kunst der höchste Werth gelegt.

Es ist Besichtigung. Ein solcher Tag soll für die Leute eigentlich ein Festtag sein, denn da bietet sich ihnen Gelegenheit, zu zeigen, was sie können, Lob und Ehre zu ernten. Aber die Tage und Wochen, die der Besichtigung vorhergehen, sind wenig erfreulich; da wird exerzirt vom frühen Morgen bis zum späten Abend, da wird „gebimmst” nach allen Regeln der Kunst, damit die Sache nur klappt, und wenn die Stunde der Besichtigung endlich da ist, dann sind die Kerls und die Herren Kerls (die Offiziere) so müde, matt und marode, daß die Feststimmung, die sie fühlen sollen, meistens eine Mißstimmung ist, zumal sie an dem Festtag „feste” herangenommen werden; da dürfen die Knochen nicht geschont werden — sie kosten ja nichts —, und wer sich dennoch als Knochenschoner entpuppt, fliegt ohne Mitleid und Erbarmen drei Tage in den Kasten.

Es ist Bataillonsvorstellung: der Herr Major soll den höchsten und hohen Excellenzen, dem Herrn General und dem Herrn Oberst, sein Bataillon vorexerziren; Von Dem, was er und seine Leute leisten, ist es abhängig, ob er noch ferner in seiner Stellung bleiben wird, oder ob man es ihm nahe legen wird „aus Gesundheitsrücksichten” seinen Abschied zu nehmen. Das Bataillon steht in der Breitkolonne in der Parade­aufstellung, am rechten Flügel die Regimentsmusik und die Spielleute. Der Herr Major hält mit seinem Adjutanten vor der Mitte seiner Truppe und ermahnt die Leute, sich Mühe zu geben, damit das Auge der Vorgesetzten mit Wohlgefallen auf ihnen ruhe.

Plötzlich heißt es: „Herr Major, Excellenz kommt.”

„Stillgestanden,” kommandirt er mit lauter Stimme; und mit hörbarem Ruck nehmen die Leute die Knochen — in diesem Fall die Füße, Kniee und Beine — zusammen und setzen sich in Positur. Brust heraus, Bauch herein, Kopf in die Höhe, Kinn an die Binde. So, nun kann Se. Excellenz kommen.

Und sie kommt.

Voran reitet der kommandirende Herr General, ihm folgt Se. Excellenz der Divisions­kommandeur, der Brigade­kommandeur, der Herr Oberst und die Schaar der Adjutanten und Generalstabs­offiziere; auch der Chef des General­stabes des Armeecorps ist im Gefolge. Der Herr Major sieht es mit Grausen, denn besagter Herr führt den Beinamen „Der Scharfrichter”, weil auch er die Lebenden zu den Toten befördert; er schlachtet gar Manchen ab und Viele sind schon seinetwegen in den Wurstkessel gekommen.

Nun ist Se. Excellenz am rechten Flügel angelangt und reitet in sausendem Schritt die Front ab, mit scharfem Auge überall hinsehend, ob auch Alles in Ordnung ist, ob nichts zu einem Tadel Anlaß giebt, und mit ihm spähen die übrigen hohen Vorgesetzten und die Adjutanten, die sich oft — nein: fast immer — einbilden, klüger und bedeutender zu sein als ihre Herren. Plötzlich hält der Kommandirende General sein Pferd an und seinem Beispiel folgen Alle, die seinem Pferd folgen. Se. Excellenz sehen sehr scharf nach einem bestimmten Punkt hin. Alle stellen sich hinter ihn und folgen der Richtung seiner Augen; was ist nur los? . . . „Ich lasse den Herrn Major zu mir bitten.”

Se. Excellenz sprichts und im Galopp saust der Adjutant zu dem Herrn Bataillons­kommandeur.

„Se. Excellenz lassen den Herrn Major bitten.”

Der Herr Major hörts: angenehm ist ihm die Botschaft nicht; klug und weise, wie er ist, ahnt er, daß irgend Etwas die Unzufriedenheit des hohen Herrn erregt hat, und Das ist nicht gut, weder zu Beginn noch zum Schluß der Besichtigung. Bildet die Unzufriedenheit das entrée, so trübt sie den Blick für die späteren guten Leistungen, und kommt sie zum Schluß, dann wird alles Gute sofort vergessen, nur das Schlechte haftet noch in der Erinnerung und die Kritik ist dann meistens wenig genußreich.

„Se. Excellenz lassen bitten,” wiederholt der Adjutant.

Mit dem „Bitten” ists beim Militär eine eigene Sache; zu bitten, ist unmilitärisch; man darf sich nur bitten lassen, aber auch nur ein einziges Mal; wer sich öfter bitten läßt, kommt leicht in den Verdacht, dickfellig und obstinat zu sein.

„Se. Excellenz lassen bitten,” wiederholt der Adjutant zum dritten Male.

Der Herr Major hörts; seine Schuld ist es nicht, daß er noch nicht neben Sr. Excellenz hält, es ist die Schuld seines Streitrosses. Der Gaul ist plötzlich verrückt geworden und klebt; er will nicht von der Truppe weg. Verdenken kann man es dem Schinder ja eigentlich nicht, denn mit seinem Pferdeverstand sagt er sich: „Gut gestanden ist immer besser als schlecht Galopp gelaufen.”

Endlich werden dem Gaul die Sporenstiche seines Reiters denn doch zu ungemüthlich: er keilt vorn und hinten aus, schlägt dem Adjutanten, der links hinter dem Kommandeur hält, beinahe die Kniescheibe ein und setzt sich dann knurrend, brummend und pustend in Bewegung, eingedenk des Wortes: „Der Klügere giebt nach.” Dieses Selbstgespräch des edlen Rosses beweist, daß es seinen Herrn entweder sehr unterschätzt oder sich selbst sehr überschätzt. Der Adjutant Sr. Excellenz reitet voran, dann kommt der Herr Major, ihm folgt sein Adjutant; der muß seinem Herrn überall hin folgen: wohin der Major reitet, muß auch er reiten, und wenn sein Kommandeur, was zuweilen ja vorkommt, „vom Gaul fällt”, läßt auch er sich auf die Erde fallen und spricht dann: „Herr Major sind wirklich zu liebenswürdig. Der Herr Major hätten nicht nöthig gehabt, abzusteigen, ich komme allein wieder hinauf.”

Nach einem kurzen Galopp ist man bei dem kommandirenden Herrn General angekommen.

„Befehl überbracht,” meldet der erste Adjutant.

„Danke,” sagt Se. Excellenz kurz und legt einen Finger, niemals zwei, an den Helm.

Der Herr Major parirt sein Roß zum Halten, salutirt mit seinem Degen, den er bisher stets auf die rechte Lende aufgesetzt hatte, und sagt: „Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle.”

Diesmal legt Se. Excellenz weder einen Finger der rechten Hand an den Helm, noch sagt er: „Danke,” sondern redet seinen Untergebenen nur mit den Worten an: „Hat etwas lange gedauert, Herr Major.”

Dem Herrn Major sind diese Worte gräulich; aber daran läßt sich nichts ändern, er nimmt sie ruhig hin, wie man als Mensch im Allgemeinen und als Soldat im Besonderen ja viel Leid geduldig über sich ergehen lassen muß.

Tiefe, erwartungsvolle Stille.

Der Herr Major denkt: „Was ist denn nur los?”

Endlich öffnet Se. Excellenz den Mund:

„Herr Major, warum stand dieser Mann — ich meine den dritten Mann vom rechten Flügel im zweiten Gliede des dritten Zuges — vorhin nicht still? Jetzt steht er still, aber vorhin rührte und bewegte er sich; sehen Sie, jetzt zuckt er wieder mit der rechten Schulter. Warum steht dieser Mann nicht still?”

Wenn der Herr Major gefragt worden wäre, warum man noch keinen lenkbaren Luftballon erfunden habe, hätte er Rede und Antwort stehen können; so aber schweigt er.

„Herr Major, ich wiederhole meine Frage: Warum steht der Mann nicht still?”

Auf eine direkte Frage gehört auch eine direkte Antwort; und so sagt der Herr Major dann: „Ich weiß es nicht, Euer Excellenz.”

Das ist schlimm, denn wie ein Minister Alles wissen muß, wonach er von mehr oder weniger neugierigen Reichstags­abgeordneten gefragt wird, so muß auch der Untergebene Alles wissen, was der Vorgesetzte von ihm wissen will, manchmal sogar noch mehr.

„Ich lasse den Herrn Hauptmann bitten.”

Se. Excellenz sprichts und im Rechtsgalopp — oder war es Linksgalopp? Ich habe nicht genau hingesehen — sprengt der Adjutant davon; gleich darauf hält der Gerufene neben dem hohen Vorgesetzten.

„Herr Hauptmann, warum rührt sich der Mann, warum steht er nicht still?”

Der Hauptmann weiß in seiner Compagnie Bescheid wie kaum ein Zweiter, er kennt sie Alle beim Namen, weiß von Jedem, welchen Beruf er hat, wo er geboren ist, wie viele Geschwister er hat, was die Einzelnen sind, ob und mit wem verheirathet, — er weiß alles Mögliche, aber das Einzige, was er jetzt wissen soll, warum der Mann nicht still steht, Das weiß auch er nicht. Das ist nicht nur schlimm, sondern sogar sehr schlimm: so zögert er denn auch mit der Antwort. Als aber Niemand ihm zu Hilfe kommt, sagt er endlich: „Ich weiß es nicht, Euer Excellenz.”

„Bitte, rufen Sie den Zugführer.”

Wieder sprengt der Adjutant davon — diesmal im Contre-Galopp, ich habe es deutlich gesehen — und eine Minute später steht der Zugführer vor Sr. Excellenz. Es ist ein noch blutjunger Offizier, kaum zwanzig Jahre alt; er sieht fast aus wie ein junges Mädchen, so blond und rosig; trotzdem er einen nicht unbedeutenden Theil seiner Zulage in Professor Migargees Barterzeuger anlegt, keimt noch kein Härchen auf den Lippen oder auf dem zarten Kinn. Dunkel färben sich nun seine Wangen, da er neben Sr. Excellenz steht: er betrachtet Das als eine hohe Auszeichnung, obgleich er ganz genau weiß, daß er wahrscheinlich Etwas auf den Helm bekommen wird.

„Herr Lieutenant, warum steht der Mann in Ihrem Zuge nicht still?”

Welchen meint die Excellenz nur? Der Offizier, der am rechten Flügel steht, sieht nur geradeaus; mag rechts und links von ihm, vor und hinter ihm die Welt untergehen: Das geht ihn gar nichts an, er hat so lange geradeaus zu sehen, bis der Vorgesetzte kommandirt „Rührt — Euch”; und geht der Vorgesetzte bei einem allgemeinen Weltuntergang mit unter, so hat er dennoch still zu stehen und zu warten, bis ein anderer Vorgesetzter kommt; kommen wird schon einer, an Vorgesetzten ist kein Mangel, — ach nein, au controleur, im Gegentheil.

Wenn man geradeaus sieht, kann man gleichzeitig nicht auch nach links sehen, es müßte denn sein, daß man zu jenen Unglücklichen gehört, die mit dem rechten Auge stets in die linke Westentasche gucken, vorausgesetzt, daß sie eine Weste tragen. Der Herr Lieutenant ist aber der glückliche Besitzer zweier gesunden Augen; also hat er natürlich keine Ahnung von Dem, was links von ihm vorgegangen ist, — junge Lieutenants haben nach der Ansicht ihrer Vorgesetzten bekanntlich nie eine Ahnung.

Der Herr Lieutenant bemüht sich, ausfindig zu machen, welcher Mann in seinem Zuge unangenehm auffällt. Während des zehnten Bruchtheiles einer Viertelsekunde denkt er daran, zu fragen: „Gestatten Euer Excellenz: welcher Mann ist gemeint:?” Aber die Frage erscheint ihm gleich darauf so vollständig unmilitärisch, daß er sich vor sich selbst schämt und sich ernstlich vornimmt, gleich nach der Rückkehr vom Exerzirplatz sich eingehend mit dem Studium der Disziplin und der Gebote der Subordination zu befassen. Vorläufig aber steht er noch auf dem „grünen Rasen” und fühlt, daß alle Blicke auf ihn gerichtet sind. Er ist jetzt die Hauptperson, er wird endlich die Frage beantworten. Wenn er nur wüßte, wer gemeint ist! Er stellt sich auf die Fußspitzen, um über die großen Leute, die im ersten Zuge stehen, hinwegsehen zu können, — vergebens. Er dreht sich in den Hüften, biegt den Oberkörper nach rechts und nach links, um zwischen den Leuten hindurchsehen zu können — Alles umsonst. Er sieht nichts, absolut nichts, aber Das darf er nicht eingestehen; so muß er denn antworten, ohne zu wissen, um wen es sich handelt. Und mit fester, klarer Stimme antwortet er: „ich weiß es nicht, Euer Excellenz.”

„Das hätten Sie auch früher sagen können,” lautet die „excellente” Entgegnung: „Sie können wieder eintreten.”

Wer da glaubt, daß das „Eintreten” so einfach ist, Der ist schief gewickelt.

Als der Herr Lieutenant sich vorhin Seiner Excellenz nahte, hatte er mit dem Degen salutirt; nun muß er erst wieder „Gewehr über” nehmen. Mit möglichster Eleganz führt er den Degen bis vor die Mitte des Leibes und mit einer zweiten Bewegung an die rechte Seite. Diese zweite Bewegung hat den Vortheil, daß man sich bei ihr mit spielender Leichtigkeit das rechte Auge ausstoßen kann. Da die meisten Soldaten nicht blind sind, hat auch kein einziger Lieutenant Neigung, „einäugiger König” zu werden, und Jeder macht deshalb ganz unwillkürlich mit dem Kopf eine kleine Bewegung nach links. Das aber darf nicht sein. „Das geht nicht, Das geht absolut nicht”: an diese Worte, die er so oft zu hören bekommen hat, denkt der kleine Lieutenant, während er vor den Augen Seiner Excellenz den Griff ausführt, — und schon hat er den Kopf nach links gedreht.

Unbegreiflicher Weise hat es der Kommandirende General nicht gesehen; aber Seine Excellenz der Herr Divisions­kommandeur hat es bemerkt und schüttelt tadelnd und mißbilligend sein Haupt. Wenn die Höheren unzufrieden sind, dürfen die Niederen nicht loben; so pflanzt sich das Kopfschütteln fort, immer stärker und stärker, und der Hauptmann sitzt schließlich auf seinem Pferd wie ein Chinese, der das Gelübde gethan hat, durch beständiges Wackeln mit seinem Kopf auch die chinesische Mauer zum Wackeln zu bringen.

Der Herr Lieutenant siehts mit Grausen; er weiß ganz genau, daß dem Herrn Oberst nachher gesagt werden wird, die Lieutenants seines Regimentes machten keine guten Griffe, und er weiß auch ganz genau, daß der Kommandirende diesen Vorwurf nicht ruhig auf sich sitzen lassen wird: er wird für die jüngeren Herren Exerzirstunden einrichten, „damit solche bummeligen Griffe” nicht wieder vorkommen.

Zur Unzufriedenheit aller Vorgesetzten hat der kleine Lieutenant also den Griff ausgeführt; nun kann er das „Eintreten” weiter fortsetzen. Zunächst macht er die Wendung „Ganzes Bataillon Kehrt” durch eine Drehung nach links; auf dem Absatz des linken und dem Ballen des rechten Fußes windet sich der Herr Lieutenant um seine Längsachse und setzt dann den rechten Fuß kurz bei. Nun steht er und giebt damit den hohen Vorgesetzten Gelegenheit, ihn auch einmal von jener Seite zu bewundern, die man meistens den Leuten zu zeigen pflegt, auf deren Urtheil und Meinung man kein besonderes Gewicht legt. Da fällt ihm wieder ein, daß er ja eintreten soll, und er beschließt, der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, diesen Befehl auszuführen. Er wirft das linke Bein in die Höhe, drückt dabei die Fußspitze nach unten, indem er sie gleichzeitig auswärts nimmmt, setzt den linken Fuß, nachdem er noch in der Luft einen Raum von achtzig Centimetern durchschnitten hat, wieder auf die Erde und hebt dann den rechten Fuß in die Höhe, um mit ihm das selbe Experiment auszuführen. Kürzer könnte man diese Thätigkeit mit den beiden Worten kennzeichnen: „er marschirt.” Er weiß, daß die Vorgesetzten ihm nachsehen; zum zweiten Male will er nicht unangenehm auffallen, so giebt er sich denn die größte Mühe und langt endlich an seinem Platz an. Hier kommandirt er sich in Gedanken: „Bataillon Halt.” Wieder steht er wie aus Erz gegossen, dann eine stramme Frontwendung, ein Blick nach links, damit er sich nach seinem Zuge ausrichtet: dann spricht er in seinem Innern ein „Gott sei Dank”, — er ist eingetreten.

Und ohne sich um Das zu kümmern, was rechts und links von ihm, was vor und hinter ihm vorgeht, sieht er wieder geradeaus, immer geradeaus, — weiter hat er augenblicklich auf dieser schönen Welt nichts zu thun. Ists auch nicht viel, so ist es doch immerhin Etwas und nur Thoren können behaupten, daß es noch weniger sei als nichts.

Für ihn ist die Frage: „Warum steht der Mann nicht still?” erledigt, vollständig erledigt.

Nicht so aber für Seine Excellenz. Noch immer sieht er auf den Sünder und immer denkt er: „Warum steht der Mann nicht still? Das muß doch irgend einen Grund haben!”

Das Bataillon hat die ganze Zeit stillgestanden. Es giebt keinen Einzigen, der sich nicht rührte; durch jeden Körper geht ein Zittern und Beben, das selbst die eisernste Willenskraft nicht zu unterdrücken vermag. Die Leute schwanken hin und her und die Helmspitzen neigen sich wie die Kornähren, wenn der Wind über das Feld streicht. Seine Excellenz bemerkt Das gar nicht; er sieht immer nur den einen Mann an: wahrhaftig, es ist keine Täuschung, jetzt schneidet er sogar Grimassen und macht die verzweifeltsten Gesichter. Länger erträgt Excellenz die Ungewißheit nicht; endlich will er klar sehen.

Und nun thut Excellenz, was er schon ruhig vor einer Viertelstunde hätte thun können, ohne daß es ihm Jemand übel genommen hätte: er giebt seinem Pferde die Schenkel — nicht die Sporen: Das könnte leicht unangenehme Folgen haben — und reitet, gefolgt von seiner Suite, zu dem Sünder hin. Jetzt ist er da und hält sein Roß an; wahrhaftig, er hat sich nicht getäuscht: der Mann steht nicht still: „Ja, ja,,” denkt die Excellenz, „ich habe gute Augen, auf die kann ich mich verlassen!”

Se. Excellenz ist mit ihrem Scharfblick sehr zufrieden. Ein Kommandirender General ist in der glücklichen Lage, nur zwei Vorgesetzte zu haben: den Armeeinspekteur und Se. Majestät den Kaiser. Wenn Niemand da ist, der ihm seine Zufriedenheit ausspricht, drückt er sie sich selbst aus; man muß sich eben zu helfen wissen.

Inzwischen steht das Bataillon noch immer in Paradeaufstellung; die Spielleute und die Regimentsmusik spielen den Präsentirmarsch nun schon zum vierundfünfzigsten Male und mit Ungeduld sehnen sie den Augenblick herbei, wo sie zur Abwechslung den Parademarsch blasen können. Einmal muß die Sache doch ein Ende nehmen.

Und sie nimmt ein Ende.

Mit väterlich wohlwollendem Ton fragt Excellenz: „Mein Sohn, warum stehst Du nicht still?”

Keine Antwort.

Se. Excellenz sieht den Herrn Major an, der Major sieht den Hauptmann an und Alle zusammen richten dann wieder ihre Blicke auf den Unglücklichen.

„Mein Sohn, hast Du meine Frage nicht verstanden?”

Und statt die einzige Antwort zu geben, die es für einen Soldaten auf der Welt giebt, die immer richtig ist, weil man sich bei ihr denken kann, was man will, und die da lautet: „Zu Befehl!” . . . nickt der Mann mit dem Kopf . . . .

Im letzten Augenblick gelingt es dem Herrn Major, den Stabs­offizier­zügel, den Sattelknopf, zu erfassen, sonst wäre er vor Schreck unfehlbar vom Gaul gefallen. Er wirft dem Hauptmann einen Blick zu, daß nicht nur diesem, sondern auch dessen Pferde die Beine vor Angst zittern. Dem nickenden Jüngling wäre besser, wenn er ohne Kopf geboren worden wäre; denn jeder seiner Vorgesetzten schwört sich, ihm diesen Kopf nachher abzureißen.

„Mein Sohn, kannst Du denn nicht sprechen?”

Se. Excellenz fragts; und statt jeder Antwort schüttelt der Mann den Kopf.

„Nun geht die Welt unter,” denken die anderen Vorgesetzten.

Unbegreiflicher Weise macht der Kommandirende ein sehr vergnügtes Gesicht; die Sache interessirt ihn: er steht vor einem psychologischen Räthsel, das er nicht zu deuten vermag.

Excellenz wendet sich an die anderen Leute des Zuges: „Vermag Einer von Euch mir zu sagen, was Eurem Kameraden fehlt?”

Die wissen es wohl, aber sie sagen es nicht. Das hat seinen Grund nicht in der bösen Absicht, Etwas verschweigen zu wollen, sondern Jeder denkt: „Laß doch den Nebenmann antworten!” Sie geniren sich, vorzutreten und angesichts so vieler hohen Herren eine Rede zu halten.

Als Niemand antwortet, wird Se. Excellenz nachdenklich. Die Sache wird ja immer komplizirter. Schon will er einen Arzt herbeiholen lassen, der den Mann untersuchen soll: da tritt ein Unteroffizier, der hinter der Front gestanden hat, vor.

„Nun, was giebts?” fragt die Excellenz.

„Euer Excellenz, ich weiß, warum der Mann nicht stillsteht.”

„Nun?”

Die Neugier, die Erwartung ist auf das Höchste gespannt, die hinten Haltenden drängen, so weit es geht, nach vorn: Alle wollen hören, was los ist.

„Nun?” fragt Se. Excellenz zum zweiten Male.

„Der Mann hat Schüttelfrost, Euer Excellenz.”

Allgmeine Enttäuschung. Das Interesse an dem Mann ist erloschen. Schön ist Schüttelfrost ja gerade nicht, den hat aber doch Jeder schon einmal gehabt, Das ist doch etwas ganz Alltägliches! Die Frage, warum der Mann vorhin nicht stillstand, ist ja nun gelöst; aber warum kann der Mann denn nicht sprechen? Das kann doch mit dem Schüttelfrost nichts zu thun haben.

„Aber deshalb wird der Mensch doch noch einen Ton reden können?” fragt Se. Excellenz und setzt, zu dem Unteroffizier gewandt, hinzu: „Ihre Antwort hat mich nicht befriedigt; treten Sie ein.”

Das kommt davon, wenn man sich zum Wort meldet, ohne direkt gefragt zu sein. „Gehe nicht zu Deinem Fürst, wenn Du nicht gerufen wirst,” lautet ein altes wahres Wort, das auch beim Militär sinngemäße Anwendung findet.

Mit etwas betrübtem Gesicht geht der Unteroffizier wieder auf seinen Platz zurück; er weiß ganz genau, daß er nun von allen Kameraden geneckt und gehänselt, und wo immer er sich auch sehen läßt, ob im Kasino oder in der Kneipe, hören wird: „Ihre Antwort hat mich nicht befriedigt; treten Sie ein.”

Daß er Excellenz völlige Aufklärung hätte geben können, wenn ihm nicht das Wort entzogen worden wäre, wird ihm Niemand glauben.

Se. Excellenz giebt es vorläufig auf, der Sache auf den Grund zu kommen, zumnal ihn sein Adjutant darauf aufmerkdsam zu machen wagt, daß die Leute schon eine halbe Stunde unter präsentirtem Gewehr stehen und, wenn nicht alle Anzeichen trügen, bald umfallen werden.

Excelenz reitet weiter und versammelt gleich darauf die berittenen Offiziere vor der Front zur Kritik, um den Leuten Zeit zu geben, sich zu erholen.

„Meine Herren,” sagt Se. Excellenz endlich, „ich habe keine Zeit, mich noch länger mit dem einen Mann, der mir da ganz besonders aufgefallen ist, zu beschäftigen. Das ist auch nicht meine Sache. Aber der Fall interessirt mich und ich möchte Sie, Herr Major, bitten, heute Mittag durch den Untersuchung führenden Offizier ein Protokoll mit dem Mann aufnehmen zu lassen und mir dann zu melden, warum der Mann nicht stillgestanden, vor allen Dingen aber, warum er nicht geantwortet hat. Ich bitte, auch den Arzt heranzuziehen und ihn zu fragen, ob dieses Schweigen, dieses Nicht-Sprechen-Können irgendwie mit dem Schüttelfrost in Verbindung zu bringen ist. Die Entscheidung darüber, ob der Mann bestraft werden soll oder nicht, behalte ich mir vor. Ich danke Ihnen sehr, meine Herren.”

Und gleich darauf nimmt die Besichtigung ihren Fortgang.

Zweiundsiebzig Stunden später gelangt auf dem vorgeschriebenen Instanzenwege — vom Bataillon an das Regiment, vom Regiment an die Brigade, von der Brigade an die Division, von der Division an das Generalkommando — ein dickes Aktenstück in die Hände Se. Excellenz(1).

Die Akten tragen den Vermerk: „Eilt sehr.”

Se. Excellenz legt die Papiere bei Seite; nach dem Abendbrot, wenn Niemand ihn mehr stört, will er sich in aller Ruhe dem Studium der ihn, wie gesagt, sehr interessirenden Frage hingeben. Als er die Akten durchgelesen hat, ist er sehr enttäuscht. Die Untersuchung hat ergeben, daß dem Mann am Tage vor der Besichtigung im Lazareth sechs Zähne ausgezogen und in Folge dieser Operation ihm die Kiefern so angeschwollen waren, daß er die noch übrigen Zähne nicht auseinanderzubringen vermochte. Das ärztliche Gutachten lautet dahin, daß das Nicht-Still-Stehen und der Schüttelfrost zum Theil wohl auf die großen Schmerzen, die der Mann ausgestanden habe, zurückzuführen sei und daß es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sei, zu sprechen, wenn man den Mund nicht aufmachen könne. Excellenz ist sehr enttäuscht.

Aber die Schuld trägt er selbst. Waum fragt er so viel?


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es: „Sr. Excellenz”. (zurück)


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