Das große Sterben.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Exzellenz ist wütend”


Von Zeit zu Zeit kommt ein großes Sterben über die Menschen. Bösartige Epidemien treten plötzlich auf und raffen Tausende und Abertausende dahin. Ein allgemeines Entsetzen und Mitgefühl ergreift die von der Epidemie verschonten Länder und Provinzen und überall werden Sammlungen veranstaltet, um das große Elend nach Möglichkeit zu lindern.

Gott sei Dank sind solche Epidemien selten, aber es gibt noch ein anderes großes Sterben. Das vollzieht sich alljährlich einmal und nur militärische Kreise werden davon betroffen.

In jedem Jahr geht zum Schluß des Manövers der militärische Würgeengel durch die Lande, in jeder, auch der kleinsten Garnison, im Norden, Süden, Westen, Osten hält er Umschau, und jeder der für den miltärischen Tod reif ist, fällt ihm erbarmungslos zum Opfer.

Und alle, die zur Strecke gebracht worden sind, finden ihr Schicksal in dem großen Militärwochenblatt verzeichnet, das kurze Zeit nach Beendigung der Herbstmanöver erscheint.

Und so mancher liest da seine Verabschiedung in Genehmigung des eingereichten Abschieds­gesuches und kann sich trotz seines tadellosen Gedächtnisses nicht darauf besinnen, jemals ein solches Gesuch eingereicht zu haben. Liebenswürdige Vorgesetzte haben das für ihn besorgt, aber trotzdem er ihnen doch eigentlich dafür dankbar sein müßte, daß sie ihm die Arbeit abnahmen, er dankt es ihnen gar nicht. Im Gegenteil, er schilt und flucht wie toll, und das nicht ohne Grund, denn mit dem militärischen Tod kommt die geringe Pension und damit kehren die Sorgen ein. Da heißt es arbeiten und Verdienst finden und der Kampf der Offiziere a D. um das tägliche Brot ist ein noch nicht gelöstes, soziales Problem.

Von den zum Tode bestimmten entgehen nur diejenigen dem großen Sterben, die schon vor dem Manöver den miltärischen Tod erleiden.

Aber die meisten spart man sich für das große Sterben auf.

Es ist im Manöver.

Harmlos und friedlich wie immer hat die Sache angefangen. Bei den Übungen im Regiment geht es verhältnismäßig noch gemütlich zu. Zwar wundert sich der eine oder der andere Hauptmann darüber, daß er mehr auf den Hut bekommt, als er nach seiner Meinung verdient, aber er denkt sich im Stillen nichts dabei. Er ahnt es noch nicht, daß er bereits auf der Liste steht, die der Herr Oberst den höheren Behorden einreicht und auf der diejenigen aufgeführt sind, die sich nach seiner Meinung nicht für höhere Kommandostellen eignen.

Bei dem Brigadeexerzieren passiert es hin und wieder auch schon den Stabsoffizieren, daß sie mehr auf den Hut bekommen, als sie es nach ihrer Meinung verdienen. Aber sie legen der Sache keine tiefere Bedeutung bei. Der Herr General hat vielleicht schlecht geschlafen oder sich irgendwie den Magen verdorben, denn auf den Gedanken, daß diese Anschnauzer die Vorboten des militärischen Todes sind, kommen sie gar nicht. Sie sind doch erst vor kurzem aufgefordert worden, über ihre Offiziere zu berichten und ein Mann, auf dessen Urteil man solchen Wert legt, dem man die Entscheidung über das Schicksal Anderer anvertraut, den wird man doch nicht selbst umbringen? Nein, das ist ganz ausgeschlossen.

Wenn die Divisionsmanöver beginnen, bekomen auch die Herren Generäle, die sich bisher, da sie die „obersten” waren und keinen Höheren über sich hatten und sich infolgedessen auch für die Klügsten hielten, zuweilen aus dem Munde der Exzellenz Worte zu hören, die nicht die geringste Anerkennung enthalten. Aber sie nehmen das absolut nicht tragisch. Im Gegenteil, sie wissen ja aus eigener Erfahrung, daß man sehr häufig nur deshalb etwas tadelt, um noch klüger zu erscheinen, als man das nach der Ansicht der Untergebenen sowieso schon nicht ist. Auf den Gedanken, daß die Vorboten des nahenden militärischen Todes sich bei ihnen einstellen, kommen sie gar nicht. Gewiß sterben auch Generäle, in dieser Charge grassiert das militärische Sterben sogar am stärksten, aber trotzdem, daß sie selbst — nein, das ist ganz ausgeschlossen, sie fühlen sich noch so jung und frisch und geistig so bedeutend, nein, der Würgeengel denkt nicht an sie, eher bringt er sich selbst um.

Für die letzten Manövertage erscheint der kommandierende General und da passiert es oft, daß selbst die Exzellenzen nach Ansicht der höchsten Exzellenz bei der Führung ihrer Division nicht alles so gemacht haben, wie die höchste Exzellenz es gemacht haben würde, wenn er noch Divisions­kommandeur wäre.

Eine Frage, die niemand beantworten kann, ist die, ob die höchste Exzellenz es schon früher als Divisions­kommandeur so gemacht hätte oder aber, ob er es erst jetzt, da er nicht mehr Divisions­kommandeur ist, anders gemacht haben würde.

Und weil man die Antwort auf diese Frage nicht erfährt und auch niemals erfahren wird, regen sich die Exzellenzen über das, was die höchste Exzellenz sagt, auch absolut nicht auf. Sie halten ja selbst Kritiken ab, in denen sie nur deshalb tadeln, um ihr eigenes geistiges Licht um so heller leuchten lassen zu können. Sie selbst verlangen es zwar von ihren Untergebenen, daß diese bei den Kritiken jedes Wort für bare Münze nehmen und nach den Ermahnungen handeln. Aber daß die höchste Exzellenz von einer anderen Exzellenz dasselbe verlangt wie eine Exzellenz von einem Oberst oder Hauptmann, nein, das ist ganz ausgeschlossen. Für so dumm darf eine Exzellenz die andere nicht halten, denn dann wäre die zweite Exzellenz ja wirklich so dumm, wie die höchste Exzellenz es zu glauben scheint.

Auf den Gedanken, daß die Worte der höchsten Exzellenz die Vorboten des nahenden militärischen Todes sind, kommt keine Exzellenz.

Nach einem alten Wort trägt jeder französische Soldat dem Marschallstab im Tornister und in unseren Kriegsartikeln steht geschrieben, daß jedem Soldaten nach Maßgabe seiner Fähigkeiten der Weg zu den höchsten Ehrenstellen im Heere offen stehe. Trotzdem bringt es aber kein französischer und kein preußischer Musketier zum Generalfeldmarschall. Eine Exzellenz aber bringt es dahin, wenigstens bis zum kommandierenden General, denn wenn er das nicht werden soll, hätte man ihn gar nicht erst zum Divisions­kommandeur zu machen brauchen, sondern hätte ihn schon lange vorher umbringen können.

Da hat er recht, oder auch nicht.

Es ist der vorletzte Tag des Manövers und gefolgt von seinem Stabe reitet der kommandierende General durch das Gelände, um sich den Angriff der roten Partei der einen Division gegen die von der anderen Division als blaue Partei besetzte Stellung in allen Einzelheiten anzusehen. Ihm gefällt sehr vieles nicht und das nicht ohne Grund. Er hat schon vor dem Manöver die Nachricht erhalten, daß die Exzellenz der roten Partei für den Posten eines kommandierenden Generals nicht in Aussicht genommen ist. Dessen Schicksal ist also besiegelt, er muß nachher bei der Kritik abgehalftert und nach Möglichkeit dahin gebracht werden, daß er seinen Abschied selbst einreicht.

Und nach der gewissenhaften Überzeugung des kommandierenden Generals verdient die Exzellenz auch kein besseres Los, denn die eine Brigade, für deren Ausbildung Exzellenz verantwortlich ist, macht nichts wie Dummheiten. Allerdings hat der Divisions­kommandeur ihn schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß der Herr General sich niemals zum Divisions­kommandeur eignen würde, da er kaum seine Brigade führen könne, aber trotzdem, solange der die Brigade noch hat, ist Exzellenz dafür verantwortlich, daß in seiner Division nicht solche Schweinereien vorkommen.

Und der kommandierende General wird sich nachher auch den Brigade­kommandeur gehörig vornehmen. Der wird natürlich die ganze Schuld auf die beiden Regiments­kommandeure zu wälzen versuchen. Gewiß, der hat ihn ja schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß die beiden Obersten zwar sehr strebsam, aber durchaus keine Leuchten der Wissenschaften sind und für ein Avancement gar nicht in Frage kommen. Das hat der Herr General schon oft erklärt, aber wenn die beiden anderen auch keine Generäle werden, so ist der General dafür verantwortlich, daß die beiden, solange sie die Regimenter noch führen, ihre Sache auch gut machen.

Jeder Regimenstkommandeur wird natürlich versuchen, die Schuld auf seine Bataillons­kommandeure abzuwälzen. Kein Oberst kann sein Regiment führen, wenn er sich nicht absolut auf seine Stabsoffiziere verlassen kann. Aber daß er es nicht kann, ist lediglich seine Schuld, er muß die Herren eben so erziehen, daß er sich auf die verlassen kann. Gewiß hat ein jeder von ihnen schon zwei seiner Bataillons­:kommandeure als reif für den Abschied bezeichnet, aber dann müßte wenigstens der dritte seine Sache so viel besser machen, aber auch der genügt nicht allen Anforderungen.

Und wenn der Kommandierende die Bataillonskommandeure fragen wird: „Herr Major, wie ist in Ihrem Bataillon so etwas möglich?”, dann werden die auf die Hauptleute deuten: „Exzellenz, mit solchen Kompagnie-Chefs kann ich nicht arbeiten.”

Und auf den Hauptleuten wird dann die ganze Schuld dafür sitzen bleiben, daß die Division ihre Sache falsch gemacht hat.

Ein Hauptmann ist und bleibt nun einmal der Sündenbock für alles.

Es ist der höchsten Exzellenz bekannt, daß jetzt schon viele von ihnen auf den Listen stehen, aber er wird doch sein Augenmerk darauf richten, ob die Liste auch vollständig ist. An Leutnants, die es bis zum Hauptmann bringen, ist in der Armee kein Mangel. Wenn also die vorhandenen Kompagnie-Chefs nicht absolut allen Anforderungen entsprechen, dann weg mit ihnen.

Und Exzellenz reitet wie der Würgeengel durch das Gelände und sucht sich seine Opfer aus, heute bei der roten Partei, morgen bei der anderen.

Und wenn er auch die besichtigt hat, dann kommt das Signal: „Das Ganze halt!”

Und dann ist Schluß des Manövers, aber dann beginnt die Kritik.

Und mit der Kritik beginnt das große Sterben.

Die beiden Exzellenzen sehen es plötzlich mit Schrecken: Die höchste Exzellenz mutet es ihnen tatsächlich allen Ernstes zu, seine Worte für bare Münze zu nehmen und an ihre eigene Unfähigkeit zu glauben.

Von den vier Brigadekommandeuren kommen drei zu der Erkenntnis, daß ihre Gesundheit doch nicht so gut ist, wie sie es bisher immer annahmen. Auf den wohlwollenden Rat des kommandierenden Generals hin werden sie sich am Nachmittag von dem Oberstabsarzt untersuchen lassen und der wird dann schon etwas finden und ihnen einen „Totenschein” ausstellen, auf Grund dessen sie pensioniert werden.

Auch von den zwölf Regimentskommandeuren der Infanterie, die ein Armeekorps hat, müssen verschiedene daran glauben, daß das Urteil, das sie über andere abgaben, für die Beurteilung ihrer eigenen Persönlichkeit ohne jeden Wert ist. Und während der kommandierende General ihnen noch in schonender Weise klar zu machen versucht, daß nicht jeder Oberst Exzellenz werden kann, rechnen sie schon im Geiste, wie sie später mit ihrer Pension auskommen sollen und überlegen, ob ihnen ein Strohhut mit einem schwarzen oder einem bunten Band besser stehen wird. Das bunte ist ja jetzt allerdings Mode, aber trotzdem will es überlegt sein.

Für die Bataillonskommandeure ist es nur ein schwacher Trost, daß die Hauptleute, die in erster Linie an ihrem militärischen Tod schuld sind, mit ihnen zusammen in die Wurstmaschine kommen. Die Toten beider Chargen ergeben sich in ihr Schicksal, es bleibt ihnen ja auch nichts anderes übrig, aber nicht zum ersten Mal verwünschen sie die Stunde, in der sie sich entschlossen, Offizier zu werden.

Die Kriti ist endlich beendigt, das große Sterben hat seine Opfer gefordert.

Am Nachmittag haben die Telegraphenämter vollauf zu tun. Alle, die da starben, telegraphieren ihrer Gattin: Wohnung kündigen, möglichst für sofort neue Mieter suchen.

Am Abend desselben Tages sitzen die Frauen zu Haus und weinen bittere Tränen. Die Toten aber fahren mit den Trupppen in langen Extrazügen ihrer Garnison wieder entgegen. Sie verlassen das Schlachtfeld, auf dem sie Scheingefechte aufführten, und es ist ihnen in ihrem Kummer nur ein schwacher Trost, daß sie infolgedessen auch nur Scheintote sind.


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