Die Staubwolke

Von Freiherrn von Schlicht
in: „Simplicissimus”, IX.Jahrgg. Nr. 54, S. 3, 31.12.1905,
in: „Der Dichterleutnant” und
in: „Der Gefechtsesel”


Heute war der erste Tag der Brigademanöver, und zur Feier dieses Ereignisses und gleichzeitig um als Schiedsrichter und oberster Kritiker über dem Ganzen zu schweben, war Seine Exzellenz, der Herr Divisions­kommandeur, eingetroffen, um heute bei der Ostpartei dem Gefecht beizuwohnen. Je größer die Truppenverbände sind, in denen manövriert wird, um so größer sind auch die Anstrengungen, und so hatten denn gestern abend Tausende von Lippen zum Himmel gefleht: „Laß das Wetter morgen kalt und regnerisch sein.” Aber der Himmel erbarmte sich nicht, und die Sonne schien schon am frühen Morgen so warm wie nur möglich. „Die Sache kann gegen Mittag gut werden,” sagten sich die Leute beim Antreten, dann ging es in langen Kolonnen dem Rendezvousplatz entgegen. Seit Wochen hatte es nicht geregnet, alles war in der Natur wie erstorben, kein Luftzug rührte sich, welk, wie im Herbst, fielen die Blätter von den Bäumen, und die anrückenden Truppen wirbelten unendliche und undurch­dringliche Staubwolken auf, die sich fingerdick auf die Gesichter und auf die Uniformen der Mannschaften niederlegten. Trotz der frühen Morgenstunde marschierten die Leute schon mit geöffneten Röcken und ohne Halsbinde, nur um in dem Staub überhaupt atmen zu können.

Endlich erreichte man den Rendezvousplatz, und alle warfen sich wie tot auf die Erde. Da erschien ein Adjutant: „Seine Exzellenz wird gleich erscheinen, die Mannschaften sollen unter allen Umständen liegen bleiben, Exzellenz wünscht nur die Offiziere zu sprechen.”

„Als wenn unsereins nicht genau so müde wäre, wie die Kerls,” meinte ein Leutnant, „wir tragen zwar keinen ,Affen' auf dem Buckel, dafür aber sind wir zehn Jahre älter, und der Musketier macht nur zwei Manöver mit, und unsereins wenigstens vierzehn, bis man sich glücklich zu Pferde setzen kann. Na, hoffentlich faßt Exzellenz sich kurz und schmerzlos.”

Aber Exzellenz dachte nicht daran, er hatte zuviel auf dem Herzen, aber endlich schwieg er doch. Alle atmeten auf, man hörte ordentlich den Seufzer der Erleichterung, der sich den verschiedenen Brüsten entrang.

„Und nun die Hauptsache, meine Herren.”

Alle knickten vor Entsetzen in die Knie, und selbst das Pferd eines Hauptmanns fiel vor Schrecken, noch mehr von der Weisheit Seiner Exzellenz anhören zu müssen, in die Knie, und über den Kopf hinweg, flog der Hauptmann in den Sand.

„Pflegen Sie immer auf diese Art und Weise abzusteigen?” fragte Exzellenz ironisch, dann fuhr er fort: „Meine Herren, ich bin dem Himmel dankbar, daß er uns für den heutigen Tag dieses Wetter beschert hat. Das bißchen Wärme geniert ja nicht, schöneres Manöverwetter können wir uns überhaupt gar nicht wünschen. Es muß und wird für alle eine Freude sein, unter dieser lachenden Sonne zu kämpfen, und wofür ich dem Himmel besonders dankbar bin, ist der dichte, absolut undurchdringliche Staub, den jede Bewegung der Truppen hervorruft.”

Leise und verstohlen sah sich ein Oberleutnant um, seine Augen suchten den Oberstabsarzt, „Exzellenz muß ja über Nacht einen Gehirnknaps(1) bekommen haben, anders sind seine Worte ja gar nicht zu erklären,” sagte er sich, „der Doktor muß ihn mal untersuchen, so geht das nicht weiter. Wo steckt der Pflasterkasten denn nur?” Aber als er ihn nicht fand, nahm er seine Nase wieder gradaus.

„Meine Herren,” fuhr Exzellenz fort, „wie ich aus den Rapporten ersehe, ist der Gesundheitszustand der Pferde bei den Schwadronen kein allzu guter, die letzten heißen Tage haben die Gäule angestrengt, deshalb möchte ich sie heute etwas schonen, und sie nicht allzuviel Patrouillen reiten lassen. Ich kann das heute um so eher, als die dichten Staubwolken Ihnen, Herr General, ja schon von weitem die Annäherung des Feindes melden. Diese Staubwolken sind ja sehr verschieden. Sie wissen, meine Herren, daß die Staubwolke, die anmarschierende Infanterie aufwirbelt, eine ganz andere ist als die eines trabenden Kavallerie­regiments oder einer auffahrenden Batterie. Nicht wahr, meine Herren, das ist Ihnen doch allen bekannt?” Kein Mensch hatte davon eine Ahnung, am allerwenigsten der General, trotzdem nickten alle zustimmend mit dem Kopf, und der General brachte sogar das Kunststück fertig, „aber selbstverständlich, Euer Exzellenz”, zu sagen.

„Nun, das freut mich, Herr General, dann haben Sie wohl die Liebenswürdigkeit, Ihre Herren jetzt gleich noch einmal darüber zu instruieren, vielleicht weiß einer der jüngeren Offiziere doch nicht ganz genau Bescheid. Mir fällt eben ein, daß ich vergessen habe, mit meinem Adjutanten eine wichtige Sache zu besprechen.”

Exzellenz trat mit seinem Generalstabsoffizier etwas beiseite, und dem armen General trat der Angstschweiß auf die Stirn. „Das hat mir gerade noch gefehlt. Nun soll ich hier über eine Sache instruieren, von der ich selbst keine Ahnung habe,” aber da Exzellenz es ausdrücklich befohlen hatte, blieb ihm ja nichts anderes übrig. So sagte er denn: „Meine Herren, die Staubwolken. Wie Ihnen allen bekannt sein wird, müssen wir zunächst zwei Arten von Staubwolken unterscheiden, und zwar die freundlichen und die feindlichen. Die feindlichen Staubwolken sind bekanntlich diejenigen, die der Feind mit seinen Füßen aufwirbelt, während die freundlichen diejenigen sind, die wir verursachen. Unsere eigenen Staubwolken gehen uns natürlich nichts an, bleiben wir also bei den feindlichen. Wie Seine Exzellenz, der Herr Divisions­kommandeur, vorhin sehr richtig bemerkt hat, sind die Staubwolken, die die einzelnen Truppen aufwirbeln, sehr verschieden, ich möchte sogar sagen, grundverschieden.” Wenn ich nur wüßte, worin der Unterschied bestände, dachte der General, dann fuhr er fort: „Es gibt solche und solche, große und kleine, dichte und dünne, lange und breite, und welche Art der Staubwolken entsteht, ist natürlich abhängig von dem Truppenteil, der sie aufwirbelt, da wäre zunächst die Infanterie. Meine Herren, über die Staubwolke der Infanterie brauche ich ja wohl nichts zu sagen, die ist Ihnen ja allen bekannt, ebenso die der Kavallerie und der Artillerie. Sie alle haben ja schon mal die Staubwolken der verschiedenen Waffengattungen gesehen, an diese brauchen Sie heute morgen nur zu denken, und dann werden Sie gleich wissen welche Truppe im Anmarsch ist.”

Der General atmete erleichtert auf, als er mit seiner schönen Instruktion zu Ende war. Wenn seine Unterführer nun nicht Bescheid wußten, dann konnte er ihnen nicht helfen. —

Exzellenz kam mit seinem Adjutanten zurück. „Instruktion beendet?”

„Zu Befehl, Euer Exzellenz.”

„Sehr schön,” meinte der hohe Herr, „dann bitte ich jetzt die Herren Hauptleute, die Mannschaften über das, was Sie soeben selbst gelernt haben, auf das Eingehendste zu instruieren, und besonders bitte ich den Herrn Rittmeister der Avantgarde–Kavallerie, die Leute ganz besonders genau zu unterrichten.”

„Ich werd' dem Teufel was tun,” gelobte sich der Rittmeister im stillen, „wenn die Kerls keine Meldung bringen, ist es nicht recht, und wenn sie auf Grund der Staubwolken falsche Meldungen bringen, ist es auch nicht recht. Ich werde die Leute Patrouillen reiten lassen wie sonst, aber ihnen natürlich einschärfen, daß sie auf Befragen stets antworten, sie hätten das, was sie melden, aus der Formation der verfluchten Staubwolken geschlossen. Dann wird Seine Exzellenz zufrieden sein, und ich werde das höchste Lob ernten.”

Exzellenz sah nach der Uhr: „Nur noch zehn Minuten, Herr General, dann bitte ich Sie, antreten zu lassen.”

Pünktlich auf die Minute ließ der General die Avantgarde antreten, zuerst die Kavallerie, dann die Infanterie, und in gehöriger Entfernung dahinter das Gros.

„Ich bin nur neugierig, was die Kavallerie für Meldung bringen wird,” dachte der General, aber seine Angst war unnötig. Schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit war er über den heranrückenden Gegner genau unterrichtet. Er ließ seine Avantgarde halten, das Feuer auf den Feind wurde eröffnet und bald war das Gefecht im Gange. Und auch jetzt noch meldete die Kavallerie so fleißig und so genau, daß der General selbst gar nicht in Versuchung kam, den Inhalt irgendeiner Staubwolke erraten zu müssen.

Da erschien plötzlich Exzellenz mit seinem Stab und hielt unmittelbar neben dem General. „Daß dich der Teufel hole,” stöhnte dieser, aber der hohe Herr blieb ruhig, wo er war.

Und immer weiter tobte der Kampf, bis plötzlich in einer Entfernung von etwa 1200 Metern auf einer Anhöhe dichte Staubwolken sichtbar wurden: „Nun, Herr General, was ist das?” erkundigte sich Seine Exzellenz.

Der hatte keine Ahnung, aber aus der Entfernung und daraus, daß der Gegner auf einer Anhöhe auftauchte, schloß er nicht ohne Grund, daß es feindliche Batterien wären, und so sagte er denn: „Es ist Artillerie, Euer Exzellenz.”

„Sehr richtig,” meinte Exzellenz, der die Definitionen der Staubwolken im Grunde seines Herzens auch nicht verstand, aber aus den gleichen Gründen, wie der Herr General auf Artillerie geschlossen hatte.

Aber kaum hatte Exzellenz sein „Sehr richtig” gesprochen, da kantterte plötzlich von der Anhöhe herab lebhaftes Infanteriefeuer.

Der General bekam einen mordsmäßigen Schrecken, und auch Exzellenz war sehr verwundert, aber zugeben, daß er sich getäuscht und geirrt hatte, durfte er nie und nimmer. So sagte er denn: „Sehen Sie nun, Herr General, wie recht ich hatte, als ich Ihnen vorhin voller Ironie die Worte ,Sehr richtig' zurief?”

Von Spott und Ironie hatte der General aus den Worten Seiner Exzellenz absolut nichts herausgehört, aber das lag natürlich an ihm; warum hatte er nicht bessere Ohren?

Und immer weiter tobte die Schlacht, die Kanonen donnerten, die Infanterie verschoß Tausende von Platzpatronen, mit lautem „Hurra” machte eine Kompagnie einen Bajonettangriff, der in Wirklichkeit total mißlungen war, der aber in Anbetracht der großen Hitze, damit die Leute nicht wieder zurückzugehen brauchten, als geglückt bezeichnet wurde, Adjutanten sausten hin und her, kurz, es war alles so, wie es sein sollte.

Da kam auf schnaubendem Pferd ein Husar angesprengt: „Meldung von der Husarenpatrouille No. 3. In einer Entfernung von drei Kilometern ist bei Adorf ein feindliches Bataillon in Anmarsch, das anscheinend die Absicht hat, unsere rechte Flanke anzugreifen!”

Exzellenz kannte den Angriffsplan des Gegners ganz genau. Der wollte doch versuchen, auf dem linken Flügel des Feindes anzugreifen, sollte der General der anderen Parteki plötzlich ohne jeden zwingenden Grund seinen Entschluß geändert haben? Das war doch kaum anzunehmen, und so sagte er denn: „Mein Sohn, Sie irren sich, dort rechts kann kein Feind sein, wer weiß, was da die Staubwolke aufgewirbelt hat, vielleicht unsere Bagagewagem oder sonst irgendwelches Fuhrwerk.”

Aber der Soldat blieb bei dem, was er gesagt hatte. „Ganz bestimmt, Euer Exzellenz.”

„Wirklich?” Exzellenz wurde ganz nachdenklich: „Was mag denn das nur für ein Bataillon sein?” sagte er mit halblauter Stimme vor sich hin.

Der Husar fühlte sich verpflichtet, Seiner Exzellenz zu helfen, und so sagte er denn: „ Es ist das zweite Bataillon vom Infanterie­regiment Herzog Paul Leopold.”

Wiederum versank Exzellenz in tiefes Nachdenken: „Allerdings, das könnte sein, gerade dieses Bataillon hatte der Herr General da drüben sich ja als Reserve zurückbehalten.” Dann aber wandte er sich an den Husaren: „Sagen Sie mal, mein Sohn, woher wissen Sie denn so genau, daß es gerade das zweite Bataillon ist, woran haben Sie denn das erkannt?”

Und der Husar — der natürlich mit seiner Nase mitten im Bataillon drin gesteckt hatte — antwortete, seiner Instruktion gemäß: „An der Staubwolke, Euer Exzellenz!”


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „Gehirnklaps”. (zurück)


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© Karlheinz Everts