Zu spät.

Eine Erzählung aus dem Circus.
Von Freiherrn v. Schlicht.

In: „Hamburger Fremdenblatt” vom 16. und 17.März 1898


Wir hatten früher als sonst unser Diner eingenommen, um den Abend ganz zu unserer Verfügung zu haben und saßen nun im Café Bauer bei einer Tasse Mokka und einer Cigarre und überlegten, wohin wir uns begeben sollten. So paradox es klingt, Niemandem wird die Beantwortung dieser Frage schwerer, als dem Fremden; so viel des Guten wird geboten, und wer die Wahl hat, hat die Qual. Dreimal hatte mein Freund mir schon den ganzen Vergnügungsanzeiger von oben bis unten vorgelesen, ohne daß wir uns schlüssig geworden wären.

„O, gib mir einmal die Zeitung,” bat ich, aber auch ich entdeckte, trotz eifrigen Suchens Nichts, was uns lockte.

„Zu langweilig,” sagte ich, und pessimistisch angehaucht meinte mein Begleiter: „Um sich am Abend zu langweilen und mehr oder weniger stumpfsinnig sein Glas Bier zu trinken, braucht man sich doch nicht der Möglichkeit eines Eisenbahnunfalles auszusetzen und nach Berlin zu fahren. Ein ander Mal bleibe ich hübsch daheim. Nun aber Schluß, Clavigo, irgend wohin wird heute Abend hingegangen, also nun kurz und bündig, wohin?”

Da waren wir wieder genau so weit, wie wir gewesen waren.

„Darf ich mir erlauben, den Herren den Vorschlag zu machen, heute Abend den Circus aufzusuchen? Sie werden eine brillante Vorstellung haben.”

Wir sahen auf; an einem kleinen, runden Tisch, unmittelbar neben dem unserigen, wo jedes Wort unserer Unterhaltung zu hören gewesen sein mußte, saß ein sehr elegant gekleideter Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren. Der ganze Schnitt seines Anzuges, der tadellose Cylinder, die ganze Art und Weise wie der Herr sich trug, verrieten auf den ersten Blick, daß wir es mit einem Jünger der jeunesse dorée zu thun hatten. Die ganze Erscheinung war chic vom Wirbel bis zur Zehe, keine dandymäßige Eleganz, sondern wirkliche, natürliche Vornehmheit.

Wir lüfteten artig den Hut: „Wir sind Ihnen für Ihren Rath sehr dankbar, wenn Sie uns den Circus wirklich empfehlen können —” und bald waren wir im lebhaften Gespräch über Alles, was nur irgend mit der circensischen Kunst zu thun hat.

Mein Freund und ich waren damals noch Officiere, wir waren zusammen auf einer kurzen Urlaubsreise, und für junge Krieger birgt ein Circus ja immer genug des Geheimnißvollen.

Der Fremde hatte auf unsere Aufforderung hin an unserem Tische Platz genommen und sich uns als ein Herr Raoul vorgestellt, und wir bedauerten nicht, ihn kennen gelernt zu haben, denn er war amusant, lustig und weit in der Welt herumgekommen; er wußte nicht nur gut zu erzählen, sondern auch gut zuzuhören und bewies durch manche Zwischenfrage, daß er unsern Worten aufmerksam Gehör schenkte. Nie wieder habe ich einen Menschen kennen gelernt, der so herzlich lachen konnte und wenn er sich, während ihm die Thränen in die Augen traten, vor Vergnügen schüttelte, suchte er sich durch ein lautes „Hoppla Cousin” gewissermaßen wieder in Gewalt zu bekommen, nicht zu ausgelassen lustig zu werden

Schnell ging die Zeit dahin, wir mußten uns beeilen, wenn wir zu Beginn der Vorstellung dort sein wollten.

Wir wollten uns von dem liebenswürdigen Fremden verabschieden.

„Wie ist es?” fragte ich einer plötzlichen Eingebung folgend, „haben Sie heute Abend Etwas vor, oder wollen Sie uns die Freude machen, uns zu begleiten?”

„Sehr liebenswürdig, wenn ich nicht störe, auch mein Weg führt mich nach dem Circus.”

In einer Droschke fuhren wir davon und verabredeten uns schon während der Fahrt, hinterher gemeinsam in einem bekannten Restaurant das Abendessen einnehmen zu wollen.

Wir nahmen in einer Loge Platz und ließen Nummer auf Nummer des reichhaltigen Programms an uns vorübergehen.

Plötzlich erhob sich unser Begleiter: „Die Herren müssen mich jetzt einen Augenblick entschuldigen, ich habe zu arbeiten, in einer kleinen halben Stunde kehre ich zurück. Au revoir, messieurs.”

Mir war das Wort „arbeiten” aufgefallen, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, da die Vorgänge in der Manege meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Selbtst ein leidenschaftlicher Turner und Reiter, gibt es für mich kaum ein größeres Vergnügen, als einen Abend im Circus zu verbringen.

Der Vorführung der sechs in Freiheit dressirten Rapphengste war der Schulreiter gefolgt: von brausendem Beifall begleitet, hatte er die Bahn verlassen.

Geschäftig eilten Diener und Stallmeister herbei, um die Manege zu harken, ein großer Teppich wurde hereingerollt und ausgebreitet.

Hoppla Cousin!

Mit einem doppelten Saltomortale kam ein Clown über seinen vor ihm gehenden Kameraden hinweg in die Bahn gesprungen.

Hoppla Cousin!”, aber der Cousin schien wenig davon erbaut zu sein, daß sein College über ihn weg gesprungen war, er trat auf ihn zu, um ihn anscheinend zur Rechenschaft zu ziehen — aber Der ließ sich nicht fassen, wie ein Gummiball sprang er hin und her, rechts und links, vorwärts und zurück, und wenn der Cousin glaubte, ihn zu haben, sprang der Andere mit einem Salto aber Doppel-Salto wieder über ihn hinweg. Es war eine enorme Springleistung, die da unten vorgeführt wurde und der Zuschauer vergaß bei dem fröhlichen Lachen und dem lustig klingenden „Hoppla Cousin” ganz, wie schwer es ein mußte, die schwierigen Tricks zu machen.

Plötzlich stieß ich meinen Freund an: „Weißt Du, wer der Spring-Clown dort unten ist?”

Er bückte sich, um den Zettel aufzuheben, der von der Brüstung heruntergefallen war.

„Laß ihn nur ruhig liegen,” sagte ich, „wir brauchen ihn nicht, der Clown ist kein Anderer als unser Bekannter aus dem Café Bauer, der Herr Raoul.”

„Du bist verrückt!”

„Tausend Dank für Dein Compliment, aber Recht habe ich doch; wollen wir wetten? Meinetwegen zehn gegen eines, ich nehme Alles an, ich bin meiner Sache sicher — an seinem Lachen und an seinem „Hoppla Cousin” habe ich ihn wieder erkannt; sieh ihn nur einmal genau an.”

Und als wüßte er, daß wir von ihm sprächen, sah Raoul in diesem Augenblick zu uns herauf und grüßte uns leise lächelnd.

„Wahrhaftig, er ist's — ne, weißt Du, Das finde ich aber von ihm stark.”

„Was findest Du stark?” fragte ich. „Daß er es selbst ist?”

„Red' doch nicht solchen Unsinn, daß er sich uns vorgestellt und mit uns in der Loge gesessen hat.”

Junge Lieutenants sind in ihrem Umgang häufig sehr wählerisch, theils aus innerster Ueberzeugung, theils weil der Stand es verlangt.

Einen Augenblick stimmte ich dem Kameraden in Gedanken bei, dann sagte ich: „Lieber Freund, die Zeiten, wo das fahrende Volk zu den Geächteten zählte, sind Gott sei Dank vorüber; ein Clown ist ebenso gut ein Mensch wie wir, und daß Dieser sogar sehr liebenswürdig und gebildet ist, hast Du ebenso gut bemerkt wie ich. Also nur keine falsche Scham.”

Wenn auch mit innerem Widerstreben, stimmte der Kamerad mir bei, und auch er reichte gleich mir dem Clown die Hand und sagte ihm Worte der Anerkennung, als dieser bald darauf wieder in tadellosestem Civil in unsere Loge zurückkehrte.

Mich reizte das Neue dieser Bekanntschaft und ich richtete allerlei Fragen an ihn, die sich auf seinen Beruf und auf seine Thätigkeit bezogen; aber anstatt von sich selbst zu erzählen, that er, als ob er meine Worte nicht hörte und machte mich auf die Leistungen seiner Collegen aufmerksam, ihnen warmes Lob und hohe Anerkennung zollend, ohne jede Spur von Neid und Mißgunst.

Am Abend aber, als wir nach der Vorstellung in einer lauschigen Ecke des großen Resrtaurant saßen, konnte ich der Versuchung doch nicht widerstehen, noch einmal auf seinen Beruf mit einigen Fragen zurückzukommen; mich lockte es, Etwas von dem geheimnißvollen Leben und Treiben hinter den Coulissen zu erfahren, in Sonderheit aber interessirte es mich, zu hören, wie er dazu gekommen sein, Clown zu werden —, er, der gebildete Mensch, dem seinen Manieren nach jeder Salon offen stand.

„Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel,” bat ich.

„Davon kann doch gar keine Rede sein,” erwiderte er höflich, „wenn es Sie interessirt, erzähle ich es Ihnen gern.”

„Wie ich Clown geworden bin? In Hamburg, als Sohn eines Kaufmanns, bin ich geboren. Wir waren drei Geschwister und im Wohlstand, wenn auch nicht im Reichthum, wuchsen wir unter der strengen Zucht des Vaters auf. Die Mutter war schon früh gestorben, ich selbst habe sie nicht mehr gekannt und eine entfernte Verwandte meines Vaters vertrat ihre Stelle. Sie hat stets wenig Liebe für uns gehabt und wir haßten sie von ganzem Herzen. — Das wußte sie und anstatt zu versuchen, unsere Zuneigung zu erlangen, war sie falsch und heimtückisch, erzählte jede, auch die kleinste Unart dem Vater und ruhte nicht eher, bis wir dafür gezüchtigt worden waren; ich glaube, selten haben Kinder so viele Schläge bekommen wie wir. So war es natürlich, daß wir uns zu Haus nicht sonderlich wohl fühlen und uns dort nicht mehr aufhielten, als unumgänglich nöthig war. Der Vater war fast den ganzen Tag im Bureau — wir trieben uns schon umher, damit die Tante ihm bei seiner Heimkehr am Abend keine Unarten von uns zu berichten wußte. Nirgends kann man als Junge so schön herumstrolchen, wie in der schönen Handelsstadt mit ihrem herrlichen Hafen; dort waren wir immer zu finden und gut Freund mit den Schiffern und Matrosen. Wie oft bin ich auf den Schiffen herumgeklettert, bin in die Masten hinaufgestiegen und habe mich dort oben von dem Wind hin und her wiegen lassen. Hoppla Cousin, Das war schön, noch schöner aber war es, wenn Renz kam. „Der Renz, der hat mir's angethan, Schuld hat allein der Circusmann,” möchte ich sagen. In keiner Sonntags-Nachmittags-Vorstellung habe ich gefehlt, woher ich das Geld nahm, weiß ich selbst kaum noch, ich lieh es mir von den Freunden, ich borgte und bettelte, und es langte immer. In den Gängen und Stallungen strolchte ich herum und lernte mit der Zeit so fast Alle im Circus kennen — ich konnte es nicht fassen, daß die Leute, die in ihrer Stallmeister-Livree am Eingang standen, dieselben waren, die kurz vorher in schmucker Tracht auf buntgezierten Rossen Quadrille geritten oder in schillerndem Tricot hoch oben in der Luft geturnt hatten. Wie ich sie beneidete, die Männer, die dort oben, dicht unter der Circusdecke am Trapez arbeiteten — ich selbst war ein ausgezeichneter Turner, gewandt und kräftig, und mein sehnlichster Wunsch war es, gleich ihnen, von dem Jubel und dem Beifall der Menge begleitet, meine Künste zeigen zu können. An Muth und Gewandtheit fehlte es mir nicht und schneller als ich glaubte, sollte mein Wunsch in Erfüllung gehen.

Als ich nach Unterprima versetzt werden sollte, fiel ich mit höchster Eleganz durch — mit dem Griechischen hatte ich mich nie befreunden können und meinen Vater oft gebeten, mich auf die Realschule zu schicken, aber er gab es nicht zu, es war sein Wille, daß ich studiren sollte und sein Wille war unbeugsam.

Mit harten Worten stellte er mich zur Rede, als er erfuhr, daß ich sitzen geblieben sei, es kam zu einer scharfen Aussprache, erlassen Sie mir das Nähere.

„So geh denn hin zu Deinen Circusleuten, zu denen Du gehörst.”

Auf bäumte mein Trotz: „Ich gehe.”

„Und ich ging, meinen Vater habe ich nie wieder gesehen.”

Der Erzähler schwieg einen Augenblick und sah vor sich; im Geiste schien er noch einmal jene Minuten zu durchleben, die ihn für immer von dem Vater trennten, denn ein trauriger Ausdruck trat in seine sonst so heiteren Augen.

„Ein halbes Jahr später trat ich zum ersten Mal öffentlich auf: ich weiß es noch wie heute, und es sind doch schon viele Jahre her. Die Reclame hatte geschickt für mich gearbeitet, ein volles Haus und starker Beifall empfing mich; ich arbeitete am einfachen Reck und der Beifall wuchs von Minute zu Minute, ich war zum ersten Mal, seitdem ich in die Fremde gegangen, wieder glücklich, und alles Leid und Ungemach, das ich in der Lehrzeit hatte ertragen müssen, war vergessen. So glücklich war ich, daß ich das Seltsame eines öffentlichen Auftretens in dem bunten Costüm gar nicht empfand; der Mensch, wenn ich mich so ausdrücken darf, erstarb in diesem Augenblick in mir, der Künstler erwachte. Mein Ehrgeiz war, in dem Beruf, den ich nun einmal erwählt hatte, Großes zu leisten, berühmt und bekannt zu werden. Viel Arbeit, unendliche Arbeit und Mühe hat es gekostet, bis ich mein Ziel erreicht — was weiß das Publicum davon, wie es auf den Proben zugeht, wie ein Trick, der hinterher spielend leicht aussieht, tausend und abertausend Mal geübt werden muß, bis er geht; wie man täglich sein Leben aufs Spiel setzt, wie man oft blutig und zerschlagen nach Haus kommt. Welche Energie, welche Ausdauer gehört nicht dazu, von dem Trick, den man sich ausgesonnen hat, nicht nachzulassen, immer und immer wieder zu proben, bis es geht und dann nicht ausruhen dürfen, sondern gleich wieder Neues, noch Schwereres aussinnen und einüben zu müssen. So kommt es auch, daß wir Künstler nie unsolide sind — ein klarer Kopf, eine sichere Hand ist für uns Lebensfrage; leichtlebig sind wir wohl, wir denken nicht viel darüber nach, was uns der morgige Tag bringt, leichtsinnig Das ist Keiner von uns.

Drei Jahre hatte ich allein gearbeitet, zuerst am einfachen, dann am doppelten und schließlich am dreifachen Reck. Da führte mich der Zufall eines Abends mit einem Collegen zusammen, er hatte mich arbeiten sehen und machte mir nun den Vorschlag, ob wir uns nicht vereinigen, fortan zusammen auftreten wollten. Sein Partner war gestorben, lange schon suchte er einen Stellvertreter, in mir glaubte er ihn gefunden zu haben.

Ich willigte ein, auch ich hatte schon oft daran gedacht, eine neue Nummer zu schaffen. Das sollte nun unsere gemeinsame Arbeit sein. Wir zogen uns für ein Vierteljahr zurück, wir Beide hatten Geld und Ersparnisse genug, um auch länger ohne Verdienst leben zu können und verschwanden für alle Circus und Agenturen vollständig von der Erdoberfläche. Wir übten unsere neue Nummer ein, für die wir das dreifache schwebende Trapez wählten; auf keinem anderen Gebiet ist die Concurrenz so groß, wie auf dem der Specialitäten; wer nicht immer Neues bringt, ist vergessen und untergegangen, bevor er einen Namen errungen hat. Wir haben in den Monaten rein wahnsinnig gearbeitet, aber als wir mit unserer Nummer an die Oeffentlichkeit traten, da war es ein Erfolg, wie wir ihn selbst nie zu erhoffen gewagt hatten. In der Artistenwelt ging unser Name von Mund zu Mund und Agenten und Directoren überboten sich in glänzenden Anerbietungen, wir hatten Tricks, die kein Anderer uns nachmachte, wir waren, wie es bei uns heißt: sans concurrence.

Als Gebrüder Koller traten wir auf, von irgend welcher Verwandtschaft war natürlich nicht die Rede, aber ich hatte Max, so hieß der Freund mit Vornamen, lieb als wäre es mein Bruder; was mich besonders zu ihm hinzog, war, daß auch er, ebenso wie ich, aus gebildeten Kreisen hervorgegangen war. Er hatte das Abiturientenexamen bestanden und dann nach kurzem Besuch der Universität aus einem mir unbekannten Grunde Schiffbruch erlitten. Daß er dann in den Circus ging, darf Sie, meine Herren, nicht wundern — glauben Sie mir, unter den Künstlern befindet sich so Mancher, der es sich in seiner Jugend nicht träumen ließ, daß er sich dereinst in der Manège sein Brot verdienen würde; ist doch einer unserer berühmten Clowns, der sich einen Weltruf erworben hat, bevor er zum Circus ging, Prediger in England gewesen.

So hatte auch Max gleich mir gar nicht das richtige Circusblut in sich, wir gingen zu den Proben und zu den Aufführungen gleichsam, als wenn wir Kaufleute wären und ins Bureau gingen, war die Arbeit fertig, lebten wir ganz unseren Interessen, die wesentlich verschieden von denen unserer Collegen waren.

„Max,” fragte ich den Freund einmal, als ich ihn, wie schon so oft, wieder bei seinen wissenschaftlichen Büchern fand, „hat es Dir wirklich noch nie leid gethan, Deine Carrière aufgegeben zu haben?”

„Nie,” gab er mir zur Antwort, „noch niemals und es wird mir auch nie leid thun! Für mich ist die Circusarbeit, der Beifall der Menge, die Aufregung, die unser Beruf mit sich führt, geradezu ein Lebensbedürfniß, ich wüßte nicht, wie ich ohne Dies existiren sollte.”

Und doch kam die Zeit, da er es bitter bereute, ein wenn auch noch so berühmter und gefeierter Künstler zu sein.

Ich weiß es noch ganz genau, es war an einem Donnerstag-Abend an dem, wie jede Woche an diesem Tag, die sogenannte Sportvorstellung stattfand. Max und ich kamen aus der Garderobe, wir sollten bald auftreten und gingen nun, da wir noch einen Augenblick Zeit hatten, in den Gängen auf und ab. Da begegnete uns, aus dem Stall heraustretend, eine Gesellschaft von jungen und älteren Officieren und zwischen ihnen als einzige Dame ein etwa zwanzigjähriges junges Mädchen, wie ich später erfuhr, die Tochter eines Oberstlieutenants. Sie war von großer kräftiger und doch schlanker Figur, ein entzückendes Pelzjaquette umschloß ihre schlanke Taille und zwischen dem hochgeschlagenen Kragen sah ein vornehm geschnittenes Gesichtchen mit großen dunklen Augen in die Welt.

Max mochte die Gesellschaft zu spät gesehen haben; mit einem lauten „Hoppla” schlug er einen doppelten Salto, wie er ihn später auch am Trapez, von dem einen zum anderen fliegend, machte.

Ein lauter Aufschrei — und erschrocken sprang das junge Mädchen zur Seite.

Max trat suf die Dame zu: „Ich bitte sehr um Verzeihung, meine Gnädigste,” und ehe wir wußten, wie es kam, waren wir von den Officieren, die uns von unserem früheren Auftreten her kannten, in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, an dem sich auch die junge Dame betheiligte. Max wich nicht von ihrer Seite, mit Bewunderung ruhten seine Augen auf der vornehmen, hübschen Gestalt und mir war, wie wenn auch sie an seinem offenen, ehrlichen Geischt und an seiner musculösen und dabei doch so eleganten Erscheinung Gefallen fände.

Da ertönte unser Glockenzeichen und nach flüchtiger Verabschiedung eilten wir davon.

Als wir an dem Tau zu dem Trapez hinaufgezogen wurden, sahen wir die Officiere nebst der Dame die Loge betreten.

„Heut müssen wir unsere Sache gut machen,” flüsterte er mir zu.

Es war das erste Mal, daß er so Etwas zu mir sagte, darum fielen mir seine Worte auf, ohne daß ich ihnen eine besondere Bedeutung beilegte.

Gleich darauf saßen wir auf dem Trapez,; es liegt ein eigenthümlicher Reiz darin, von schwindelnder Höhe auf das Publicum hinabzusehen, man fühlt, man sieht alle Blicke in gespanntester Erwartung nach oben gerichtet — noch eine kleine Pause, um die Spannung zu erhöhen, dann beginnt unter den Klängen der Musik die Arbeit.

Und gut müssen wir unsere Sache an jenem Abend gemacht haben, denn donnernd klang der Beifall zu uns herauf, und als wir uns mit einem Tauchersprung von oben herab in das Schutznetz hinabgelassen hatten, wurden wir immer und immer wieder hervorgeholt, dankend grüßte ich nach allen Seiten, Max schien nur Augen für das junge Mädchen in der Loge zu haben.

Noch an demselben Abend gestand er mir, daß sie es ihm auf den ersten Blick angethan habe, daß er sie liebe.

Ueber die Liebe haben wir Circusleute etwas andere Ansichten als die Anderen. Wir nehmen sie nicht so tragisch, so leicht stirbt unsereiner nicht an gebrochenem Herzen, bald sind wir hier, bald dort, heute arbeiten wir in Paris, drei Tage später vielleicht in Petersburg, wir haben ja keine Heimat, wir fliegen hin und her; was wir lieben, lassen wir, wenn wir gehen, zurück und die neuen Eindrücke, die wir empfangen, lassen uns gar schnell, oft nur zu schnell, das Alte vergessen.

Lachend schlug ich Max auf die Schulter: „So was gibt sich, ja Das gibt sich mit der Zeit,” suchte ich ihn zu beruhigen, aber nur zu bald mußte ich einsehen, daß seine Liebe sich nicht gab, sondern daß sie wuchs von Tag zu Tag.

Ich weiß nicht, wie es ihm gelungen war, ihren Namen und ihre Adresse zu erfahren, überhaupt wurde Max, der mir sonst Alles anvertraute, verschwiegen und wenig mittheilsam gegen mich, nur durch einen Zufall erfuhr ich, daß zwischen Beiden ein Einvernehmen bestand, daß sie sich einander schrieben und häufig zusammentrafen.

Ich stellte ihn deswegen zur Rede, ich bat ihn, den Ruf der jungen Dame zu schonen und versuchte, ihn auf das Aussichtslose seiner Liebe aufmerksam zu machen. Alles vergebens. Es war nicht mit ihm zu sprechen. „Sind wir denn die Parias der Gesellschaft?” gab er mir einmal zur Antwort, „warum soll ich es nicht wagen dürfen, einer gebildeten Dame meine Liebe zu gestehen? Ich werde sie heiraten, das ist selbstverständlich, und warum nicht? Ich habe eine gründliche Erziehung genossen, gründlicher vielleicht als so mancher junge Officier, der sich mehr zu sein glaubt als ich; was soll mich hindern, vor den Vater hinzutreten und um die Hand der Tochter zu bitten?”

„Der Beruf, dem Du jetzt angehörst,” erwiderte ich ihm. „Glaubst Du allen Ernstes, daß eine Familie der sogenannten ersten Gesellschaft ihre Tochter einem „Luftkönig” zur Frau geben wird? Das ist ja Alles Unsinn, was Du redest.”

„So werde ich meinen Beruf aufgeben und wieder die Universität besuchen; in wenigen Jahren kann ich das Examen gemacht haben und bin dann ein freier Mann.”

„Gewiß,” erwiderte ich, „aber Du selbst sagtest mir einmal, Du könntest die Luft, der Du jetzt angehörtest, nicht entbehren, Du könntest Dir ein Leben ohne Deinen jetzigen Beruf nicht denken. Aber selbst wenn Du es vermöchtest, wieder zu studiren, Dein Examen zu machen, glaubst Du, daß Das viel an der Sachlage ändern würde? Stets wirst Du bleiben, was Du jetzt bist — auch als Blondin ein alter Mann geworden, war er immer noch für die Welt der Seilläufer, und die Loisset, die einen Prinzen heiratete, blieb doch stets die Circusreiterin. Ja, wärest Du Student geblieben, dann —”

„Ja, wäre ich doch nur Student geblieben,” wiederholte er meine Worte, und sah träumerisch vor sich hin; auch ohne daß ich die Thränen sah, die in seine Augen gestiegen waren, wußte ich, daß er in diesem Augenblick seinen Ruhm und sein Geld mit Freuden hingeben würde, wenn er als Student wieder in seiner Klause sitzen könnte.

Woche auf Woche verging, nie wieder hatten wir davon gesprochen, ich hatte es absichtlich vermieden, darauf zurückzukommen, ich hoffte, sein Verstand hätte den Sieg über seine Leidenschaft davongetragen — aber wen die Liebe ergriffen hat, der trägt nicht allzu schwer an seinem Verstande! Viel mehr als einen Fingerhut voll pflegt man ja in der Zeit davon nicht zu haben.

So kam unser Benefiz-Abend heran. Von unserer Wohnung bis zum Circus waren es nur wenige Schritt, wir hatten sie in wenigen kurzen Minuten zurückgelegt und wollten schon die kleine Pforte öffnen, die durch einen schmalen Gang zu unserer Garderobe führte, als Max mich zurückhielt.

„Was gibt's?” fragte ich ihn.

„ich will es Dir doch lieber sagen,” antwortete er nach kurzem Zögern, „ich habe heute um sie angehalten.”

„Du bist von Sinnen,” rief ich, „und was war die Antwort?”

„Ich weiß es noch nicht,” gab er zurück, „ich schrieb ihr, wenn ich hoffen dürfe, sie dereinst ganz mein zu nennen und wenn sie glaubte, daß ihre Eltern ihre Einwilligung geben würden, so solle sie heute Abend im Circus erscheinen und an der Brust einen Strauß roter Rosen tragen. Ihr letzter Brief hat mir noch gezeigt, wie sehr sie mich liebt, es wird ihr gelungen sein, den letzten Widerstand der Eltern zu brechen, ich glaube es bestimmt: sie kommt!”

„Und wenn sie nun nicht kommt, was dann?”

„Dann — ja dann ist es mit mir aus, ganz aus. Aber sie kommt, verlaß Dich darauf, sie kommt!”

Aus seinen Worten sprach eine solche Zuversicht, daß auch mir der Zweifel zu schwinden begann.

Als wir eine halbe Stunde später, von dem Beifall des Publicums begrüßt, die Manège betraten, war die Loge leer — sie war nicht da.

Ich sah Max an, er war leichenblaß, ein Zittern ging durch seinen Körper, und dreimal glitt er mit dem Fuß aus, als er ihn in den Bügel, in dem er in die Höhe gezogen wurde, setzen wollte.

Nun saßen wir oben.

Sonst arbeiteten wir so, daß Max allein turnte, daß dann ich an die Reihe kam und daß wir zum Schluß gemeinsame Uebungen machten.

„Fang Du heute an,” bat er mich, „ich kann noch nicht, vielleicht kommt sie doch noch.”

Aber sie kam nicht.

Jetzt war Max daran zu arbeiten.

„Bitte, paß auf,” flüsterte er mir zu.

Und während Max in gewaltigem Schwung von einem Trapez zum anderen flog, während er einen Salto nach dem andern schlug, während er einen Trick nach dem andern ausführte, sah ich mit gespanntester Aufmerksamkeit nach dem Eingang.

Max hatte seine Solo-Arbeit beendet und schwang sich nun unter dem donnernden Beifall der Zuschauer auf das Trapez, auf dem auch ich saß.

„Nun?” fragte er mich und aus seinen Mienen, aus seinen Augen sprach eine solche Erwartung und Erregung, daß ich nicht den Muth fand, ihm zu antworten.

„Nun?” fragte er noch einmal.

„Das Haus ist ausverkauft,” gab ich ausweichend zur Antwort, „vielleicht hat sie trotz aller Bemühungen keinen Platz bekommen.”

„Das wäre möglich,” gab er zurück, „aber ich habe ihr heute Morgen Billette gesandt, sie kiommt nicht, das Lied ist aus. Nun aber los.”

Eine Secunde später hatten wir die Arbeit wieder aufgenommen; es war ein leichtsinniges Spiel, das wir da oben mit unserem Leben ausführten, während wir von Trapez zu Trapez flogen, uns gegenseitig bald an den Füßen, bald an den Händen auffangend und dann mit starkem Schwung wieder zu unserem Trapez zurückkehrten. Die feierliche Stille, die sich der Zuschauer bemächtigte, drang zu uns herauf, zuweilen auch hörten wir einen halb unterdrückten, ängstlichen Schrei; aber wir selbst empfanden die Gefahr weniger als die Anderen, wir waren unserer selbst sicher.

Wir machten eine kleine Pause, um uns auszuruhen, zu dem Letzten frische Kräfte sammelnd.

„Immer noch nicht?” fragte Max.

Mit Falkenaugen spähten wir hinab — ihr Platz war leer.

„Behüt Dich Gott — es wär' zu schön gewesen,” sagte Max, dann schickten wir uns zum letzten, zum Haupttrick an.

Mit der Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit einer Katze kletterte Max in die Höhe, schwang sich von Seil zu Seil, bis er ein schmales Brett erreicht hatte, das in schwindelnder Höhe angebracht war. Hier stellte er sich auf und ergriff ein Trapez, das dort befestigt war.

Ich selbst hatte mich, nur mit den Kniekehlen am Trapez hängend, mit dem Oberkörper nach unten gelassen, das Gesicht dem Freunde zugewandt; ich klatschte in die Hände, Max damit ein Zeichen gebend, daß ich ihn erwarte. Mit beiden Füßen sollte er sich von dem Brett abstoßen, während des Fluges durch die Luft das Trapez loslassen, einen doppelten Saltomortale ausführen und dann mit seinen Händen die meinen ergreifen.

Das war der Trick, den noch Keiner uns nachgemacht hatte, durch den wir unerreicht dastanden.

Die Musik war verstummt, voll ängstlicher Spannung sah das Publicum zu uns herauf, Max zögerte noch.

Zum zweiten Mal klatschte ich in die Hände.

Da winkte Max mir mit der Hand, zum Zeichen, daß er mich verstanden habe, dann stieß er sich mit den Füßen ab, auf das Genaueste muß der Schwung berechnet sein, eine Kleinigkeit zu viel oder zu wenig hat einen Sturz zur Folge.

Aber was war Das? Mit Schrecken sah ich, wie das Trapez in viel zu starkem Flug die Luft durchschnitt, es war, als wenn Max mit seinen Füßen die hohe Decke des Circus zu erreichen suchte. Selbst ich wagte kaum hinzusehen.

Da ließ Max plötzlich die Hände frei, ein Ueberschlag in der Luft — so weit von mir entfernt, daß ich den Freund, obgleich ich mein Trapez in Schwingung setzte, nicht erreichen konnte und dann ein Schrei aus Tausenden von Kehlen: Max war gestürzt.

Wie ich selbst an jenem Abend von meinem Sitz herabgekommen bin — ich weiß es nicht.

Blutüberströmt, eine unförmige Masse, lag Max in der Manège, das Leben war entflohen.

Wir hoben ihn auf, um ihn davon zu tragen, da gellte plötzlich ein wahnsinniger Schrei durch die Stille. Ich wandte mein Auge nach dem Eingang, woher der Angstschrei gekommen war und sah ein junges Mädchen, das einen Strauß frischer rother Rosen an der Brust trug, ohnmächtig zusammenbrechen.

Armer Max, so hattest Du doch Recht gehabt mit Deinem Wort: „sie kommt”. Sie war gekommen, aber zu spät für Dich, der Du Dir ein Leben ohne sie nicht denken konntest und einen schrecklichen Tod einem nach Deiner Meinung schrecklicheren Leben vorzogst.

Nie wieder habe ich seit jenm Abend geturnt; ich löste meinen Contract und reiste fort — herum in der halben Welt, nur um das Schreckliche zu vergessen.

Das Geld, die Ersparnisse gingen darauf; ich mußte wieder daran denken, zu verdienen, und dann ward ich Das, was ich jetzt bin. Die Zeit und die Jugend haben die Erinnerung an den furchtbaren Abend schwächer werden lassen, aber noch heute kann ich keinem Turnen zusehen; noch heute nach vielen Jahren verzichte ich auf einen Theil meiner Gage, nur um nicht als Stallmeister mit in der Eingangsthür stehen und vielleicht wieder einmal Zeuge eines solchen Vorfalles sein zu müssen.”

Der Erzähler schwieg und starrte vor sich hin.

„Und haben Sie jemals Etwas wieder von dem Mädchen gehört?” fragte ich nach langer Pause.

„Drei Tage, nachdem wir Max beerdigt hatten, wurde auch sie zur letzten Ruhe gebracht; einem Nervenfieber ist sie erlegen. Hinterher habe ich erst erfahren, wie sehr sie Max liebte; sie hat nicht nachgelassen, die Eltern um ihre Einwilligung zu bitten; sie hat gewußt, daß er sterben wollte, wenn sie nicht käme. Auf den Knieen hat sie vor dem Vater gelegen und ihn um seinen Segen beschworen und aus Liebe zu seinem einzigen Kinde, um ein blühendes Menschenleben zu schonen und zu retten, gab er endlich sein „Ja” — noch früh genug, um der Tochter vor ihrem Tode eine glückselige Minute zu bereiten, um das Leben des Freundes zu retten — zu spät.”


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