Ein Soldatendiner.

Heitere Soldaten-Geschichte von Freiherr von Schlicht,
in: „Militaria”


Seit dem frühen Morgen waren wir unterwegs. Es war der vorletzte Tag im Manöver, morgen sollten wir mittels der Eisenbahn langsam, aber sicher, wie stets bei Militärzügen, in unsere Garnison zurückbefördert werden, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Morgen Abend war Ruhe, heute aber schien dieses Wort sämtlichen Vorgesetzten unbekannt zu sein. Wir hatten die schöne Chaussee und die zwar staubigen, aber immer doch noch bequemen Feldwege nun schon seit einer Stunde verlassen und marschierten über Stoppelfelder und frisch gepflügte Äcker, auf denen die Erdschollen von der glühend heißen Sonne in eine feste, steinharte Masse verwandelt worden waren. Gar mancher Seufzer wurde zum Himmel aufgeschickt, gar mancher kräftige Fluch entrang sich unseren Lippen, wenn wir auf einer Höhe angekommen, sahen, daß sich vor unseren Blicken, soweit das Auge reichte, nichts befand, als nur Brachfelder, über die wir im Schweiße unseres Angesichts wandern mußten. Endlich, unsere Kräfte waren fast erschöpft, hatten wir den Platz erreicht, von dem aus wir in das Gefecht eingreifen und dem Feind in die Flanke fallen sollten. Wir besetzten den Rand eines kleinen Gehölzes und eröffneten ein lebhaftes Feuer auf den Gegner, der uns auf etwa achthundert Meter gegenüberlag. Schon frohlockten wir, eingedenk des Wortes unseres Reglements, daß ein Feind, der gleichzeitig in der Front und in der Flanke angegriffen wird, sich nicht lang in seiner Stellung halten kann; schon sahen wir im Geiste den Feind die Position räumen, schon hörten wir das Signal „Halt”,das dem Gefecht und unseren Leiden ein Ende bereiten sollte, da brachten uns die Seitenpatrouillen die Meldung, daß drei Compagnien des Gegners zum Angriff gegen uns vorgingen. Drei gegen eins, das war ein böses Verhältnis, nun hatte sich das Blatt gewendet, nun wurden wir in der Front und in der Flanke beschossen und es dauerte nur noch wenige Minuten, da ertönte das Kommando: „Kehrt — Marsch”.

Wir erhoben uns von unseren Plätzen und gingen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, über dieselben Felder, Wiesen und Äcker. Da sprengte auf schaumbedecktem Pferd ein Adjutant auf uns zu: „Die Compagnie erhält den Auftrag, die dort drüben auf der Höhe auffahrende Batterie zu beschützen.”

Ich dachte, mich würde der Schlag rühren. Nur wer es selbst einmal durchgemacht hat, weiß, was das Wort „Artilleriebedeckung” für den Infanteristen bedeutet. Sich immer in unmittelbarer Nähe der Batterie aufhalten, ihr in jede neue Stellung hineinfolgen, möglichst gleichzeitig mit ihr eintreffen, damit sie nicht einen plötzlichen Überfall zu fürchten braucht, immer zu Fuß hinterherlaufen, wohin sie mit ihren sechs Pferden in sausender Carriere fährt, das ist ungefähr das, was man unter „Artilleriebedeckung” versteht. Gewöhnlich kommt man gerade dann bei der von der Artillerie erwählten Stellung an, wenn sie dieselbe wieder verläßt, um in einer neuen aufzufahren. So ging es auch uns; wie ein perpetuum mobile wanderten wir herum, überall kamen wir zu spät und wurden stets von dem freundlichen Grinsen der davonfahrenden Kanoniere und ihrem Ruf: „Auf Wiedersehen!” begrüßt.

Doch endlich erreichte auch unser Marschieren ein Ende, der Feind räumte die Stellung und das lang ersehnte Signal „Halt” ließ uns alle erleichtert aufatmen. Ich sah nach der Uhr, es war die vierte Stunde nachmittags, wir waren genau zwölf Stunden auf den Beinen und hatten während der ganzen Zeit nur von der Erinnerung an das gestrige, großartige Diner in unserem Quartier gezehrt.

Ich näherte mich meinem Compagniekameraden, der gleich mir vor Hunger und Durst auf und ab rannte.

„Freue dich, nur noch eine Stunde, dann werden wir zusammen bei dem schönsten Bivouacdiner sitzen.”

Bei dem Worte „Diner” flog ein seliges Lächeln über seine Züge, gleich darauf aber schüttelte er den Kopf: „Ich glaube es nicht, nein, ich glaube es nicht, mein Hunger ist zu groß, ich erlebe es nicht mehr, daß ich noch einmal satt werde, so viel Lebensmittel wie nötig sind, um mich wieder auf den status quo ante zu bringen, giebt es auf der ganzen Welt nicht. Aber was hast du denn heute Mittag für uns zu essen?”

Ich war damals glücklicher Bräutigam und hatte mir von meinen Schwiegereltern ein fürstliches Diner erbeten, das sie mir rechtzeitig zu schicken versprochen hatten. Ich begann die Leckerbissen aufzuzählen: „Zuerst klare Bouillon, fix und fertig gekocht, braucht nur aufgewärmt zu werden, dann kalte Küken, hierauf Beefsteak, wird in fünf Minuten gebraten und last not least Gänseleberpastete direkt von Fischer in Straßburg bezogen. Ist zwar eine etwas sonderbare Zusammen­stellung, aber man muß mit den Verhältnissen rechnen. Dazu trinke wir Cliquot, mein Schwiegervater schrieb mir, er habe zwölf Flaschen geschickt, er hoffe, das genüge. Eis habe ich mir durch den Fourier besorgen lassen, der den Sekt gleich kalt stellt. Nun was sagst du zu diesem Soldatendiner?”

„Du lügst,” antwortete er, „du lügst.”

„Aber er laube einmal,” unterbrach ich ihn, „zuerst, was soll dieser unparlamentarische Ausdruck und dann — weshalb soll ich denn lügen?”

„Weil du mich künstlich am Leben erhalten willst, weil es so schöne Dinge, wie du in fünf Minuten aufgezählt hast, überhaupt auf der ganzen Welt gar nicht giebt. Nein, so viel Schönes existiert nicht, das sind Gebilde deiner überhungerten Phantasie.”

Das Kommando: „An die Gewehre” machte unserm Gespräch ein Ende.

Eine Stunde später war der Bivouacsplatz erreicht, auf dem wir uns für die nächsten zwölf Stunden häuslich niederlassen sollten. Es war ein frisch gepflügter Acker, der keine Naturschönheiten bot, aber er erfüllte alle Anforderungen, die man mit der bekannten militärischen Bescheidenheit an ihn stellte, er lag in der Nähe eines Waldes, einer Quelle und weit ab von der staubigen Landstraße.

Die Gewehre wurden zusammengesetzt und mit Windeseile ging es an das Einrichten des Bivouacplatzes. Während ein Teil der Mannschaften zum Wasserholen ging, grub der andere Teil Kochlöcher, schälte Kartoffeln und tauschte seine Ansichten darüber aus, wie man die zu erwartenden Konserven am schmackhaftesten zubereiten könnte. Als ein Einjähriger aus dem ihm von seiner alten Mutter mitgegebenen Kochbuch vorlas: „Man nehme einige Lorbeerblätter” — belohnte ihn das Gelächter seiner Kameraden für seinen Witz.

Während unsere darin geübten Burschen unser Zelt aufbauten, hatte ich unserem Mundkoch, der in seinem Civilleben sich eines großen Rufes als „Kopfäquilibrist auf dem schwebenden Trapez” erfreute, die von der Heimat erhaltenen Speisen anvertraut. Ich selbst beaufsichtigte das Decken des Tisches, denn selbst das feinste Diner schmeckt bekanntlich nicht, wenn es nicht sauber serviert wird. Mit ganz besonderer Sorgfalt stäubte ich den Tisch ab, das Tischtuch, das sich vom letzten Bivouac her leider in keiner salonmäßigen Verfassung befand, wurde durch zwei Handtücher ersetzt, die Zinnteller und Becher wurden rein abgewaschen — das Diner konnte beginnen. Ich hatte, um der Sache einen möglichst feierlichen Anstrich zu geben, von unserem Compagnieschreiber drei Speisekarten anfertigen lassen und führte nun meinen Hauptmann und meinen Kameraden feierlichst zu der festlich geschmückten Tafel.

„Man bringe die Suppe.”

Die Burschen brachten drei dampfende Teller herbei und setzten sie vor uns hin. Mit glückstrahlenden Augen betrachteten wie die vor uns stehende kräftige Suppe; man wird bescheiden, wenn man zwölf Stunden gehungert hat.

„Siehst du wohl,” wandte ich mich an meinen Kameraden, „siehst du wohl, daß ich die Wahrheit sprach?”

„Es ist zu schön,” entgegnete er, „ich kann das Glück noch immer nicht fassen, fast fürchte ich, daß eine höhere Macht uns noch in der letzten Minute die Freude raubt.”

„So zögere nicht länger,” erwiderte ich, „und höre endlich auf, mit dem Löffel herumzurühren, und laß es dir gut schmecken.”

Gleichzeitg füllten wir drei unsere Löffel, gleichzeitig führten wir sie zum Mund und gleichzeitig sprangen wir, nachdem wir gekostet — von unseren Stühlen in die Höhe. Ich rief den Oberkoch herbei.

„Was hast du mit der Suppe gemacht?”

Er starrte die dicke, braune Flüssigkeit an: „Ja, Herr Lieutenant,” meinte er entschuldigend, „ich kann da auch nichts dafür, mir kam sie auch man gleich höllisch was komisch vor, ich glaub, die ist ein büschen was zu stark geraten.”

„Ja, aber warum nimmst du Esel denn nicht mehr Wasser?” fuhr ich ihn an, „Dieses Gift kann doch kein Mensch essen.”

Wir gossen zu der Suppe einen tüchtigen Schuß kochenden Wassers, rührten die Geschichte ordentlich um und machten uns dann mit frischem Mut nochmals an den ersten Gang unseres Diners: „Klare Bouillon.” Sie schmeckte besser, viel besser, das war keine Frage, der Hunger that auch seine Schuldigkeit, aber dennoch atmeten wir erleichtert auf, als wir unsere Teller geleert hatten. Gleich darauf aber wurde mir gar sonderbar zu Mute; ich empfand starken Schwindel und große Übelkeit, es flimmerte mir vor den Augen, der dicke Schweiß trat mir auf die Stirn und nur mit der größten Anstrengung hielt ich mich aufrecht. Ich sah mich nach den Kameraden um, auch sie waren kreideweiß und der Schweiß perlte auf ihren Schläfen. Eine Minute später war uns allen so schlecht, daß wir unseren Platz verlassen und uns Bewegung machen mußten und nach gegenseitiger Versicherung haben wir alle drei uns noch nie so schlecht befunden wie nach dem Genuß der klaren Bouillon.

Von einer Fortsetzung des Diners war keine Rede mehr, uns schauderte bei dem Anblick der Speisen und für kein Geld hätten wir einen Tropfen Sekt getrunken. Wie hießen die Burschen die schönen Sachen wieder einpacken. Traurig blickte mein Kamerad auf die Schätze, die vor seinen Augen wieder verschwanden. „Ich wußte es ja,” jammerte er, „daß ich heute nichts zu essen bekommen würde —”

„Bitte sehr,” unterbrach ich ihn, „das ist einzig und allein deine Schuld, es steht alles zu deiner Verfügung, wenn ich dir noch einen Teller Suppe —”

Er sah mich mit einem so entsetzten Blick an, daß ich sofort verstummte, dann stürzte er davon, indem er sich krampfhaft das Taschentuch vor den Mund hielt.

„Nun,” fragte mich meine Braut vierundzwanzig Stunden später, als ich nach Tisch die Erlaubnis erhalten hatte, bei der Tasse Mokka eine Cigarre zu rauchen, „nun erzähl' mir bitte, wie gestern euer Diner ausgefallen ist.”

Ich wollte sie nicht kränken, wußte ich doch, daß sie selbst alles bereitet hatte, deshalb antwortete ich: „ Es war ja alles ganz gut und ganz schön, aber die Suppe, weißt du, die klare Bouillon, die war denn doch ein bißchen gar zu stark.”

„Suppe, klare Bouillon?” entgegnete sie staunend, „das habe ich dir ja gar nicht geschickt.”

„Nicht?” fragte ich, „aber dann sag mir bitte, was war denn in der Bierflasche drinnen?”

Lächelnd schaute sie mich an. „Das war ja der denkbar stärkste Kaffee-Extrakt, ich weiß, du trinkst ja so gern guten Kaffee. Aber das mußt du doch gemerkt haben, den habt ihr doch unmöglich löffelweise gegessen?”

Ich nickte stumm, sprechen konnte ich nicht, aber mit Entsetzen schob ich die vor mir stehende Mokkatasse weit zurück, ganz weit und nie in meinem bisherigen Leben habe ich sie wieder angerührt. Mir ward der letzte Kaffee gekocht.


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