Sofort.

Skizze aus dem Militärleben von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 13.Sep. 1901,
in: „Der höfliche Meldereiter”,
in: „Die Kommandeuse” und
in: „Meiers Hose”.


Der Herr Oberst sitzt mit seinem Adjutanten in dem „Allerheiligsten”, auf dem Regiments­bureau, und regiert. Er liest die Briefe durch, die von vorgesetzten und untergebenen Behörden zu Dutzenden eingelaufen sind, und durchfliegt die zahllosen Papiere, die ihm zur Unterschrift vorgelegt werden. „Ja in Spanien, ja in Spanien ist es schwer, Minister sein,” heißt's in dem Liede, aber ein preußischer Regiments­commandeur zu sein, ist noch viel schwerer, der muß sich sein Geld sauer verdienen. Ach, und das Gehalt ist doch nur sehr gering, und die Pension erst recht, Alles in Allem viertausend Mark. Wie soll man davon leben, wenn man Frau und Kinder hat? Und doch, wer bringt es bei der heutigen Zeit überhaupt bis zum Oberst — die Meisten bekommen schon viel, viel eher den Laufpaß. Und deshalb tritt der wahrhaft Weise garnicht erst in die Armee ein, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, frühzeitig verabschiedet zu werden und dann gezwungen zu sein, eine Stellung als Weinreisender oder Versicherungsagent anzunehmen. Wenn man selbst früher Leute, die einem unangenehm waren, an die frische Luft befördern ließ, ist es doppelt unangenehm, sich nachher selbst hinauswerfen zu lassen.

Aber an dies Alles denkt der Oberst nicht, während er regiert, noch ist er in Amt und Würden, noch hat er die Macht in Händen, und vorläufig geschieht auf Erden nur sein Wille.

Plötzlich legt der Oberst die Acten, in denen er blättert, bei Seite.

„Uebrigens, ehe ich es vergesse — — ich möchte Leutnant von Stern einen Augenblick sprechen.”

„Und zu welcher Stunde befehlen der Herr Oberst?” fragte der Adjutant.

Der Commandeur denkt einen Augenblick nach, dann sagt er: „Wenn es geht, möglichst sofort, sonst vergesse ich am Ende wieder, was ich auf dem Herzen habe.”

Der Adjutant erhebt sich und geht in das Nebenzimmer, in dem der Regiments­schreiber mit seinen Unterschreibern sitzt.

Der Adjutant sagt dem Schreiber Bescheid und geht dann in sein Zimmer zurück. Der Herr Sergeant aber wirft einen verwunderten und tadelnden Blick auf die Ordonnanzen, die sich stets auf dem Bureau aufhalten müssen, um für etwaige Botengänge sofort zur Hand zu sein.

„Nun, habt Ihr nicht gehört, der Herr Oberst wünscht sofort den Leutnant von Stern zu sprechen — ist noch Keiner von Euch unterwegs?”

Die Ordonnanzen dösen und schlafen, da sie seit einer Stunde nichts Besseres zu thun haben. Nun springen sie verstört in die Höhe und suchen nach ihrem Helm und Seitengewehr.

Der Mayer ist zuerst fertig mit seinem Anzug. Er stürzt davon, ohne erst zu fragen, wo er den Leutnant wohl findet. Er wird ihn eben suchen und mit Gottes Hülfe auch finden. Und er sucht ihn überall: auf dem Casernenhof, im Compagnierevier, in seiner Wohnung — — aber Alles ist vergebens. Nach zwanzig Minuten kehrt Mayer auf das Bureau zurück.

„Na, lange genug hat es gedauert,” herrscht der Unterofficier ihn an. „Wann kommt der Herr Leutnant?”

„Ich habe ihn nicht gefunden,” lautete die Entgegnung.

„Schafskopf,” sagte der Schreiber, und er sagt es so laut, daß aus dem Allerheiligsten ein noch lauteres „Ruhe nebenan!” ertönt.

„Wo haben Sie ihn denn gesucht, Sie — — Sie Nachtwächter?” fährt der Herr Sergeant fort, und als er Antwort erhalten, sagt er: „So dumm können auch nur Sie sein, bekanntlich sind die Herren nie da, wo man sie sucht, sondern immer anderswo.” Er blättert in den Dienstzetteln, die die Compagnien täglich dem Regiment einreichen müssen, damit die hohe Behörde auch die Gewißheit hat, daß die Hauptleute ihre Kerls und ihre Herren Kerls in einer dem Vaterlande nutzenbringenden Weise beschäftigen. Dann sagt er: „Leutnant von Stern ist mit seiner Compagnie draußen auf dem großen Exercierplatz. Gehen Sie hin, aber schnell, der Herr Oberst wartet.”

Die Ordonnanz ist Kummer und Elend gewöhnt, aber jetzt stöhnt sie doch laut auf. Der Exercierplatz ist anderthalb Stunden entfernt, und den weiten Weg bei der heute herrschenden großen Hitze allein zurückzulegen, ist wahrhaftig kein Vergnügen.

„Sie überlegen sich die Sache wohl erst noch?” fragt der Schreiber, „Das gibt es nicht, das Ueberlegen lassen wir den Civilisten, wir handeln blos. Und nun machen Sie, daß Sie fortkommen, aber etwas plötzlich, sonst mache ich Ihnen Beine!”

Die Ordonnanz macht sich auf den Weg und legt, innerlich fluchend, einen Kilometer nach dem anderen zurück. Am liebsten würde er seine Unlust dadurch zum Ausdruck bringen, daß er so langsam wie möglich ginge. Aber Das wagt er doch nicht; denn er hat vor dem Regiments­schreiber einen heillosen Respect, und vor dem Herrn Oberst erst recht, er weiß aus Erfahrung, daß Beide von einer Grobneit sind, die ihrer Charge garnicht entspricht. Der Oberst kann fluchen und schelten wie ein Unterofficier und der Sergeant setzt sich, wenn er seine Untergebenen anfährt, in Positur, als wäre er Regiments­commandeur. So beschleunigt er fast wider Willen seine Schritte mehr und mehr, und je schneller er geht, gesto heißer wird ihm, und je heißer ihm wird, desto mehr flucht er, aber es nützt ihm Alles nichts, der Weg wird dadurch nicht kürzer.

Unterdeß exercirt auf dem großen Platz das Bataillon. Ursprünglich wollten die vier Compagnien für sich exerciren und der Major wollte sich die Sache nur mal ansehen. Aber das, was er sah, gefiel ihm gar nicht, und damit es besser würde und die Bummelei endlich aufhörte, hat er selbst das Commando übernommen und das Schwert gezogen. Aber auch unter seinem Oberbefehl klappt die Sache nicht. Woran liegt Das? Selbstverständlich nur an der mangelhaften Ausbildung, die die Leute seitens ihrer Hauptleute und Zugführer erhalten haben. So ruft er denn die Herren Officiere zusammen und hält ihnen eine lange Rede.

Da erscheint schweißtriefend und rothgesotten wie frisch­gekochter Hummer, die Ordonnanz auf dem Exercierplatz. Er hört die donnernde und scheltende Stimme des Vorgesetzten, und, schlau wie er ist, sagt er sich: Wo Alle etwas auf den Hut bekommen, wird Leutnant von Stern auch nicht fern sein, Der sicher am allerwenigsten, denn wenn der Herr Oberst ihn sofort sprechen will, hat er natürlich etwas ausgefressen. — So nähert er sich dem Kreis der Officiere.

Der Adjutant erblickt den Mann, der in vorschrifts­mäßiger Haltung, in vorschrifts­mäßiger Entfernung dasteht, zuerst. Er reitet zu ihm hin und fragt nach seinem Begehr, und als er erfahren, um was es sich handelt, reitet er zu seinem Commandeur zurück.

„Herr Major — —”

„Herr — jetzt spreche ich!” unterbricht ihn der Vorgesetzte. „Was Sie mir zu sagen haben, wird wohl nicht so eilig sein.”

„Vielleicht doch,” denkt der Adjutant, „aber ganz wie Du meinst. Wenn Du den Oberst warten lassen willst, ist Das Deine und nicht meine Sache.”

Der Major redet weiter und weiter, aber endlich erblickt auch er die Ordonnanz.

„Was wollen Sie denn hier?” fährt er den Mann an. „Was wollen Sie hier, Kerl, machen Sie gefälligst das Maul auf.”

Bei dem gänzlich unerwarteten Anpfiff hat der Mann schon lange vor Erstaunen den Mund aufgemacht, aber zum Sprechen ist er noch nicht gekommen. „Der Herr Oberst wünscht den Herrn Leutnant von Stern sofort auf dem Regiments­bureau zu sprechen,” sagte er schließlich.

Er betont das Wort „sofort” so scharf, so energisch, daß Alle errathen: es handelt sich um etwas sehr Wichtiges.

Alle sehen Leutnant von Stern an, und dieser ist ganz blaß geworden. Er hat noch keine Ahnung, um was es sich handelt, und die Unruhe macht ihn ängstlich und läßt ihn das Schlimmste erwarten. So frei von jeglicher Schuld und Fehle ist kein Leutnant, daß er nicht immer ein mehr oder weniger schlechtes Gewissen hat, wenn er zu einem Vorgesetzten gerufen wird.

„Was haben Sie denn nun schon wieder ausgefressen?” fragt der Major in strengem Ton.

Es ist zwar das erste Mal, daß Stern eine Dummheit gemacht hat, aber das hindert den Vorgesetzten doch nicht, die Worte „nun schon wieder” zu gebrauchen.

„Ich weiß es wirklich nicht, Herr Major,” gibt Leutnant von Stern zur Antwort.

„Machen Sie keine Ausflüchte,” fährt der Vorgesetzte ihn an. „Wenn Sie es nicht wissen, wer soll es denn wissen?”

„Ja, Das möchte ich auch wissen,” denkt der Leutnant.

„Herr Major, der Herr Oberst wünscht den Leutnant sofort zu sprechen!”

„Warum haben Sie nicht gleich gemeldet, was die Ordonnanz wollte?” tadelt der Vorgesetzte. „Wenn Sie vorhin Ihre Rede nicht mit den Worten „Herr Major”, sondern mit „Der Herr Oberst” angefangen hätten, würde ich gleich auf Sie gehört haben.”

„Das glaube ich,” denkt der Adjutant, „denn das Wort „der Herr Oberst” genügt, um Deinen Körper trotz seines Gewichts von einhundertachtzig Pfund in allen Fugen erzittern und erbeben zu lassen.”

Aber genützt hat die Bemerkung des Adjutanten doch etwas: Leutnant von Stern wird entlassen und strebt dem Regiments­bureau entgegen.

In vorschriftsmäßiger Entfernung folgt die Ordonnnanz.

„Wissen Sie denn nicht, was los ist?” fragt Leutnant von Stern seinen Begleiter, als sie außer Hörweite des Bataillons sind.

„Nein, Herr Leutnant,” sagt Der, dann setzt er hinzu: „Es muß aber etwas sehr Wichtiges sein, denn ich habe den Herrn Leutnant erst überall in der Kaserne suchen müssen, und dann bin ich hierher geschickt, und dabei ist mir gesagt, ich müsse mich beeilen, so viel ich könnte.”

Die Unruhe des Officiers wächst. Aus den Worten der Ordonnanz geht klar hervor, daß der Commandeur schon lange wartet, und es ist nie gut, einen Vorgesetzten warten zu lassen.

Leutnant von Stern beschleunigt seine Schritte. Jetzt, wo er den Weg nicht in der Truppe, sondern allein zurücklegen muß, merkt er erst, wie lang er ist, er nimmt gar kein Ende.

Und der Oberst wartet und wartet.

Da, als die Noth am größten, ist die Hülfe am nächsten. Er begegnet einem jungen Kameraden, der seinen dienstfreien Vormittag dazu benutzt, auf seinem Rad in der Welt herumzufahren. Leutnant von Stern ruft ihn an: „Sie müssen mir Ihr Rad leihen, der Oberst wartet auf mich, er will mich sofort sprechen. Sie haben es ja nicht mehr weit zur Stadt, in dreiviertel Stunden sind Sie da.”

Erst will der Kamerad nicht, als aber Stern von einer, dann von zwei, und schließlich von so vielen Flaschen Sect spricht, wie der Andere bei Tisch nur trinken will, steigt er ab. Stern schwingt sich auf das Rad, und wie der Blitz saust er davon, selbst die starken Steigungen, die der Weg macht, sind nicht im Stande, ihn in seinem rasenden Tempo aufzuhalten.

Als er auf dem Regimentsbureau dem Commandeur gegenüber steht, ist er vollständig außer Athem und in Schweiß gebadet. Seine Lungen arbeiten so stark und seine Brust keucht so, daß er kaum sein „Zur Stelle, Herr Oberst” sagen kann.

„Aber Stern, wie sehen Sie denn aus — setzen Sie sich, sonst werden Sie mir noch umfallen, — woher kommen Sie denn?”

„Es ist mir gesagt worden — der Herr Oberst wünschten mich sofort zu sprechen — und eine Ordonnanz hat mich von dem großen Exercierplatz weggeholt.”

Ueberrascht blickt der Commandeur auf. „Habe ich wirklich das Wort „sofort” gebraucht? Das ist mir garnicht in Erinnerung. So war es auf jeden Fall nicht gemeint. Ich wollte Sie eine gleichgültige, mit dem Dienst garnicht zusammenhängende Sache fragen — was war es doch noch?”

Der Oberst stützt sinnend den Kopf in die Rechte.

„Herrgott — was war es doch noch? Man hat wahrhaftig so viel um die Ohren, daß es ganz unmöglich ist, Alles zu behalten. Nehmen Sie es mir nicht übel, Stern, ich hab's wahrhaftig wieder vergessen, aber wenn es mir wieder einfallen sollte, schreibe ich Ihnen gleich ein paar Zeilen. Vorläufig danke ich Ihnen vielmals.”

Und Leutnant von Stern, den der Herr Oberst sofort sprechen mußte, ist entlassen.


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