Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Richtung, Fühlung, Vordermann!” und
in: „An die Gewehre”
Darüber herrschte im Kasino während des Mittagsessens nur eine Ansicht: Der heutige Silvesterabend würde mal wieder schön stumpfsinnig werden. Es war ja schon für gewöhnlich langweilig, den ganzen Abend im Kasino zu sitzen, aber nun ausgerechnet auch noch Silvester! Über den Stumpfsinn half kein noch so steifer Punsch und kein noch so fetter und noch so dick mit Zucker bestreuter Pfannkuchen hinweg.
Das waren so ungefähr die Gedanken, die die Kameraden untereinander austauschten. Alle waren pessimistisch angehaucht, nur einer nicht, der kleine Scholten: der war lustig und guter Dinge und freute sich sogar auf den bevorstehenden Abend.
Die Kameraden erklärten ihn für verrückt, und der dicke Stern, ein großer Verehrer guter Speisen und noch besserer Getränke, rief einem Kameraden zu: „Nehmen Sie dem Scholten mal seine Flasche Selterwasser fort. Ich sag's ja immer, Leute, die für gewöhnlich den Alkohol meiden, können geistig nicht normal bleiben. Das Wasser ist gefährlich, nicht nur, weil man darin ertrinken kann, sondern weil es ins Gehirn geht. Man bekommt Wasserstoffgasvergiftung, und das ist tausendmal schlimmer, als irgend eine andere Krankheit. Gießen Sie Scholten mal ein Glas Mosel in den Magen, das wird ihn wieder vernünftig machen. Die Gifte in unserem Magen müssen sich gegenseitig auffressen, sonst fahren sie mit uns in die Grube.”
Der kleine Scholten kam aus Respekt vor dem Alter dem Rat des Kameraden nach, aber auch hinterher hielt er an seiner Ansicht fest: „Paßt auf, es wird gar nicht so stumpfsinnig werden. Es kommt in der Hinsicht immer anders, als man denkt. Die Zeit wird viel schneller vergehen, als wir glauben, und ehe wir uns dessen versehen, schlägt es zwölf, und der Silvesterabend ist zu Ende.”
Aber der dicke Stern widersprach: „Sie werden heute abend schon anders urteilen. Wenn man auf Urlaub bei den Eltern oder den Verwandten ist, geht die Zeit im Fluge dahin, aber im Kasino? Da gehen die Uhren nicht vorwärts, sondern zurück, und es wird überhaupt nicht zwölf. Das Warten ist von allen Erfindungen die scheußlichste. Und nichts ist so stumpfsinnig, als an einem Silvesterabend darauf zu warten, daß es endlich zwölf schlägt. Na, lassen wir das Thema, es ist überhaupt ungesund, bei Tisch soviel zu sprechen. Da soll man den Mund nur aufmachen, um Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, denn der Mensch lebt, um zu essen, und er trinkt, um zu leben.”
Und damit hüllte der Dicke sich in tiefes Schweigen.
Mit Rücksicht darauf, daß es am Abend noch ein opulentes Mahl gab, war das Mittagesse heute eigentlich nicht viel anderes als ein warmes Fühstück. So saß man denn auch nicht lange bei Tisch, und als man den Kaffee getrunken hatte, gingen alle nach Haus. Auch der kleine Scholen suchte seine Wohnung auf, um einen Brief an seine Eltern zu schreiben, aber er war mit seinen Gedanken nicht recht bei der Sache. Beständig dachte er darüber nach, wie er den Dicken davon überzeugen könne, daß der mit seiner Behauptung unrecht habe. Er zermarterte sich lange sein Gehirn, aber mit einem Mal kam ihm ein Gedanke. Er machte ein ganz glückliches Gesicht, und obgleich er so unmusikalisch war, dß er erst kürzlich die Ouvertüre zum Tannhäuser für den Walzer aus der Lustigen Witwe gehalten hatte, pfiff er doch vergnügt die Melodie des Liedes vor sich: „Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir.”
In Wirklichkeit aber war es die Melodie: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
So sah er denn den kommenden Stunden voller Ruhe entgegen und machte sich dann später frühzeitg auf den Weg, um alle Vorbereitungen für das Gelingen seines Planes zu treffen.
Mit dem Glockenschlag acht Uhr setzten sich die Herren zu Tisch, und der mit sehr viel Liebe gebratene Fasan und das mit noch mehr Liebe und reichlichem Champagner zubereitete Sauerkraut, auf dem zum Überfluß noch zahlreiche Austern lagen, versetzte selbst den Dicken in eine frohe Stimmung. Man hatte ja Zeit, so aß man langsam und bedächtig. Erst nach einer Stunde wurden die Zigarren in Brand gesteckt, und auch da hielt die gute Laune noch an, denn Menschen, die ein gutes Diner bei einer guten Zigarre verdauen, können garnicht schlechter Laune sein.
Aber dann war es nach einer weiteren halben Stunde doch so weit, daß man sich gegenseitig ansah und sich fragte: Was nun?
„Wie spät oder wie früh am Tage ist es denn eigentlich?” fragte der dicke Stern und griff in die Tasche, aber er hatte seine Uhr vergessen. So wandte er sich denn an seinen Nachbar, aber auch der hatte seine Uhr zu Hause liegen lassen, und den anderen Herren ging es nicht besser.
Niemand ahnte etwas davon, daß der kleine Scholten durch seinen Burschen die anderen Burschen beauftragt hatte, ihren Herren, wenn sie diesen beim Ankleiden halfen, absichtlich die Taschenuhr nicht mitzugeben. So sahen sich denn alle ganz erstaunt an, und keiner begriff es von dem anderen, daß der ebenso vergeßlich hatte sein können, wie er selbst.
Eine Ordonnanz wurde in das Nebenzimmer geschickt, um nachzusehen, was dort die große Standuhr zeige, aber noch war der nicht zurück, als die Uhr plötzlich zu schlagen anfing. Einer der Offiziere zählte laut: 1-2-3-4-5-6-7-8-9-
Mitten im Zählen hielt er erstaunt inne: „Was, schon so spät?”
Und kaum hatte er zu Ende gesprochen, da schlug es nebenan zwölf.
Da kam auch die Ordonnanz wieder zurück: „Es hat eben zwölf geschlagen. Wenn ich mir ganz gehorsamst erlauben dürfte, ein vergnügtes neues Jahr zu wünschen.”
„Sie sind verrückt,” herrschte der Dicke ihn an, „verrückt wie die Uhr da nebenan. Gehen Sie mal in das Billardzimmer und sehen Sie dort nach.”
Aber kaum war die Ordonnanz gegangen, als man durch die offen gelassenen Türen die Uhr schlagen hörte.
Es war zwölf.
Die Herren sahen sich ganz erstaunt an. Plötzlich sprang der Dicke auf: „Irgend jemand hat sich den Spaß gemacht, die Uhren zu stellen, aber wir werden gleich dahinter kommen, wie spät es in Wirklichkeit ist. Ordonnanz, gehen Sie mal in die Küche, oder noch besser, ich werde dort selbst nachsehen.”
Schon nach wenigen Minuten kam er zurück, und seine Gesicht verriet deutlich das höchste Erstaunen: „Ich weiß nicht, mir ist ganz sonderbar zu Mute, und wenn das so weiter geht, werde ich heute noch blödsinnig. Die Uhr in der Küche ist fünf Minuten vor zwölf, und das ganze Küchenpersonal steht schon frisch gewaschen da, um hier zur Gratulation zu erscheinen, sobald es Mitternacht geschlagen hat.”
„Aber das ist doch ganz unmöglich,” riefen die anderen, und eine Ordonnanz erhielt den Auftrag, nachzusehen, wieviel die große Uhr über dem Portal der Kaserne sei, aber die stand, die war schon gestern kaput gewesen und ein unglücklicher Leutnant hatte beinahe Selbstmord verübt, als es(1) garnicht elf werden wollte, sondern beständig fünf Minuten nach zehn blieb.
„Es soll ein Mann auf die Wachtstube gehen,” befahl der Dicke, „ich lasse den Unteroffizier bitten, mir fünf Minuten seine Taschenuhr zu leihen.”
Eine Ordonnanz eilte davon — als er mit der Uhr zurückkam, war es sieben Minuten nach zwölf.
Aber draußen auf dem Korridor schlug es in diesem Augenblick erst zwölf und gleichzeitig erschien die Kasinowirtin mit ihren jungen Mädchen, um ein vergnügtes neues Jahr zu wünschen.
Es war ein alter Brauch, daß die Gratulanten zu Punsch und Pfannkuchen geladen wurden, so bildete man denn „Gruppe”, aber trotzdem war allen Leutnants noch garnicht „prositneujährlich” zu Mute, und der Dicke meinte endlich: „Darauf, daß es noch nicht zwölf ist, lasse ich der Hydra sämtliche Köpfe abschlagen, aber wissen möchte ich doch, wie spät es eigentlich ist,” und um diese Streitfrage definitiv zu entscheiden, wurde eine Ordonnanz auf die Straße geschickt, um einen Zivilisten nach der Uhr zu fragen.
Auch diesen Fall hatte der kleine Scholten vorausgesehen und auch in dieser Hinsicht alle Ordonnanzen eingehend instruiert.
Die Kaserne lag etwas außerhalb der belebten Stadtteile, so wunderte sich niemand, daß die Ordonnanz solange fortblieb. In Wirklichkeit war er natürlich garnicht auf die Straße gegangen, sondern hatte während der genazn Zeit in der Küche gesessen und darüber nachgedacht, ob er schon zurück sein könne.
Endlich trat er wieder in das Zimmer und meldete: „Als ich fragte, war es zehn Minuten nach zwölf, jetzt muß es halb eins sein.”
Aber statt dessen schlug im Nebenzimmer die Uhr, die vorhin schon zwölf geschlagen hatte, jetzt nochmals zwölf.
„Kinder, hier spukt's,” rief der Dicke, „die Uhr scheint mir anstatt mit Öl mit Punsch geschmiert zu sein, die ist weiß Gott besoffen,” und ehe sich noch alle von ihrem Erstaunen erholt hatten, hörte man es im Billardzimmer auch wieder zwölf schlagen.
„Zum Donnerwetter, wer morckst denn da immer bei den Uhren herum,” rief ein Kamerad und eilte nach nebenan, aber er kam unverrichteter Sache zurück, er hatte nichts verdächtiges gefunden.
Da schlug es von neuem zwölf, dieses mal wieder auf dem Korridor. Und als alle plötzlich wie auf Kommando in die Küche stürzten, um dort nach der Uhr zu sehen, war die auch wieder gerade zwölf und holte zum Schlagen aus.
Und so blieb es den ganzen Abend. Fortwährend schlugen alle Uhren zwölf, ob es halb oder voll war, das schien den Uhren heute ganz einerlei zu sein.
Die Gäste aus der Küche hatten sich schon lange wieder entfernt, um sich schlafen zu legen, aber die Offiziere dachten noch nicht daran, zu Bett zu gehen, die saßen zusammen und plauderten und tranken, bis plötzlich einer sagte: „Kinder, jeder Spuk geht auf natürlichem Wege zu, auch mit den Uhren. Morgen werden wir schon dahinter kommen, wer uns den Streich spielte, aber trotzdem, so schnell wie heute ist es noch nie Mitternacht geworden und es scheint beinahe, als wenn der kleine Scholten das heute mittag voraus geahnt hätte, als er seine kühnen Behauptungen aufstellte!”
Unwillkürlich richteten sich in diesem Augenblick aller Augen auf den kleinen Scholten, der sich bemühte, ein möglichst unbefangenes Gesicht zu machen, aber es half ihm nichts, denn mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, sagte der Dicke plötzlich: „Man hänge den Delinquenten auf.”
Mit einem Mal wußte alle, wer ihnen den Streich gespielt hatte, und, wenn natürlich auch nur im Scherz, fielen alle plötzlich über ihn her.
Und da wurde plötzlich unter seinem Waffenrock seine Uhrkette sichtbar.
Hurrah, Scholten hat eine Uhr. Alle riefen es durcheinander und jeder suchte sie ihm zu entreißen.
Aber Scholten verteidigte sie mit dem Mut der Verzweiflung. Für einen Augenblick hatte ihn der Schrecken gelähmt, als die anderen seine Uhr entdeckten, die er absichtlich eingesteckt hatte, um feststellen zu können, wann es wirklich zwölf sei. Aber er mußte der Übermacht unterliegen und plötzlich hielt der Dicke die Uhr in Händen: „So, Kinder,” meinte er, „jetzt wollen wir einmal feststellen, wie spät es in Wirklichkeit ist. Ich fordere Euch alle auf, das, was ich Euch zu melden habe, mit jenem Ernst entgegen zu nehmen, der allein in diesem Falle angebracht ist. Also, meine Herren, ich werde jetzt hier auf diesen Knopf drücken. Ich tat es und Sie sehen, daß der Deckel zurückgesprungen ist. Ich habe jetzt das Zifferblatt vor meinen Augen und teile Ihnen mit: Die Uhr ist —”
Aber weiter kam er vorläufig nicht, mit ganz entsetzten Augen starrte er auf die Uhr, dann aber sagte er: „Kinder, auch diese Uhr ist entweder verrückt oder betrunken, sie ist genau zwölf.” Und sich dann an Scholten wendend, bat er: „Sagen Sie die Wahrheit. Ist das hier ein Zufall oder haben Sie Ihre Uhr im letzten Augenblick gestellt?”
Der kleine Scholten erhob die Hand zum Schwur: „Mein Wort darauf, ich habe nichts an den Zeigern gemacht, ich habe die Uhr überhaupt den ganzen Tag noch nicht in den Händen gehabt.”
„Dann also ist jetzt wirklich der feierliche Augenblick, in dem das alte Jahr zu Ende gegangen ist,” meinte der Dicke. Ein neues Prosit Neujahr-Rufen begann und mit einem Mal fühlten jetzt alle, wie die richtige Silvesterstimmung über sie kam.
Wohl noch eine Stunde blieb man im Kasino zusammen, dann machten sich die Herren auf den Heimweg, aber kaum hatten sie die Stadt erreicht, als die Kirchenuhren anfingen zu schlagen und als alle Glocken zu läuten begannen: Überall ein lautes Prosit Neujahr. Jetzt war das alte Jahr wirklich zu Ende.
Die Kameraden blieben unwillkürlich stehen und sahen sich ganz verdutzt an. Das ging über ihren Horizont, nun spukte es nach ihrer Meinung wirklich, das konnte doch nicht mit richtigen Dingen zugehen.
Aber wie die meisten Rätsellösungen, war auch diese sehr einfach. Als der dicke Stern vorhin die Uhr des kleinen Scholten in Händen hielt, hatte er zwar gesehen, daß sie zwölf war, aber eins hatte er nicht gesehen, daß die Uhr stille stand. Und eins hatte er nicht sehen können, daß die Uhr mittags genau um zwölf Uhr stehen geblieben war.
(1) In der Fassung von „An die Gewehre” heißt es hier zusätzlich „als es während des Silvester gar nicht elf werden wollte”. (zurück)