Im Sektquartier.

Manöverhumoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Deutsche Romanzeitung” 45. Jahrgg. Bd.4, S.317-320 und 352-354 und
in: „Die Fürstengondel”


Die letzten drei Manövertage waren wirklich keine reine, ungetrübte Freude gewesen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend hatten die Truppen bei glühendster Hitze marschieren und kämpfen müssen, um dann erst, nach Eintritt der Dunkelheit, in die Quartiere zu kommen.

Und wie miserabel waren nicht die Quartiere gewesen! Man hatte sich in armen Gegenden befunden, in denen man in erster Linie mit dem guten Willen der Wirte zufrieden sein mußte. Was die sonst noch gaben, war kaum zu sehen, und zu essen und zu trinken erst recht nicht. Nun aber kam man in die Gefilde der Seligen, in das Land, in dem man bei dem Anblick des dort fließenden Honigs selig werden sollte.

Ein ganz besonders schönes Quartier winkte dem ersten Bataillon des Infanterie–Regiments Herzog Paul Otto. Das kam nicht nur für heute, sondern auch für den morgigen Ruhetag nach Schloß Betzow. Na, und was das bedeutete, das wußte jeder. Der Ruf solcher Quartiere pflanzt sich fort und fort und lebt dankbar in der Erinnerung aller. So wußten die Manschaften schon im voraus, daß sie dort an einem Tage mehr zu essen bekommen würden, als sonst in einer Woche, und für die Offiziere war Schloß Betzow das idealste Sektquartier, das es nur geben konnte.

Wenn der Baron die Einquartierung in diesem Jahr auch nur halb so gut aufnahm, wie bei früheren Gelegenheiten, dann mußte man sich einfach wie im Paradiese dort fühlen.

Und als das Bataillon dann endlich das Rittergut erreichte, und als die Offiziere, nachdem sie ihre Leute untergebracht hatten, mit dem Hausherrn zusammen bei einem mehr als apulenten Frühstück saßen, dem um sieben Uhr abends das Diner folgen sollte, da war es ihnen, als weilten sie nach den Tagen der Not und der Entbehrung am Hofe des Kalifen von Bagdad. Hergott, tat das gut, sich an all den Delikatesse laben und seinen Durts mit köstlichem Müchner Bier und einer wunderbaren Sektbowle stillen zu können.

„Aber wo steckt nur der dünne Landsdorf?”

Plötzlich wurde die Frage aufgeworfen, als der Baron heimlich die Köpfe seiner Gäste zählte und dabei die Entdeckung machte, daß ihm ein teures Haupt fehle.

Zuerst wußte niemand darauf eine Antwort zu geben, bis ihnen dann einfiel, daß der Oberst dem Kameraden, der erst kürzlich von einem Kommando bei den Pionieren zurückgekehrt war, den Auftrag gegeben hatte, mit seinem Zug die Schützengräben, die am Morgen draußen im Gelände aufgehoben worden waren, wieder zuzuwerfen.

Da konnte es unter Umständen noch länger als zwei Stunden dauern, bis der ins Quartier kam. Angesichts der vollen Fleischtöpfe, hinter denen sie es sich gut sein ließen, empfanden sie alle Mitleid mit ihm, und einer mahnte, nicht zu viel zu essen, damit für den andern noch etwas nachbliebe, bis der Hausherr ihnen lachend versicherte, er würde schon dafür sorgen, daß ihr Kamerad in keiner Weise zu kurz käme.

Der dünne Landsdorf, im Regiment auch der „Skelettmensch” genannt, war fast ein Riese an Kraft und Körpergröße. Er erfeute sich bei allen Vorgesetzten und Kameraden, ebenso wie bei seinen Untergebenen der allergrößten Beliebtheit; er war harmlos wie ein Kind und nahm es nie übel, wenn er geneckt und geuzt wurde. Und wenn er auf irgendeinen Scherz der anderen hineinfiel, so freute er sich selbst am allermeisten darüber.

Und plötzlich stand es bei ihnen fest: sie wollten den Dünnen auch jetzt hineinlegen; der sollte sich nicht umsonst drei Tage und ebensoviel Nächte auf das Sektquartier gefreut haben.

„Aber meine Herren, das geht denn doch nicht,” meinte der Schloßherr, als sie ihm ihren Plan entwickelten; aber sie sprachen so lange auf ihn ein, bis er endlich unter der Bedingung nachgab, daß er für seine Person jede Verantwortung für die etwaigen Folgen ablehne.

Der gute Landsdorf ahnte unterdessen nichts von dem, was die anderen gegen ihn im Schilde führten. Er stand immer noch mit seinen Leuten draußen im Gelände, auf demselben großen Acker, auf dem vom frühen Morgen an die unblutige Schlacht getobt hatte, und brachte nun wieder die Natur in Ordnung, wie er es nannte. Das war keine kleine Arbeit; aber endlich war sie doch geschehen, und fröhlich zog er nun mit seinen Leuten dem Sektquartier entgegen. Es war bis dahin noch ein weiter Weg von mehr als zwei Stunden, aber er träumte die ganze Zeit hindurch von dem opulenten Frühstück, das seiner harrte, und das kürzte ihm den Marsch.

Und die Freude auf das gute Frühstück wurde ihm auch dadurch nicht getrübt, daß ihn bei seiner Ankunft nicht der Hausherr in eigener Person, sondern nur der Kammerdiener empfing: „Der Herr Baron lassen den Herrn Leutnant willkommen heißen und sich bis zum Diner am Abend entschuldigen. Das Frühstück wird sofort serviert werden.”

Um so besser, dachte Landsdorf, dann sieht keiner, was ich alles essen und wie ungeheure Quantitäten ich trinken werde. Dann brauche ich mich in keiner Weise zu genieren und habe es vor allen Dingen auch nicht nötig, die Zeit mit einer völlig unnötigen Unterhaltung zu vergeuden.

Die anderen Herren hatten sich schon alle schlafen gelegt; so nahm er ganz allein in dem Jagdzimmer Platz, und gleich darauf erschien der Diener wieder. Auf einem Tablett trug er eine nicht allzu große Schüssel mit Butterbroten, die nur teilweise belegt und so dünn und klein geschnitten waren, als sollten sie bei einm five o'clock tea mit dem Kuchen zusammen einer Damengesellschaft präsentiert werden.

Und zu trinken gab es vorläufig überhaupt nichts, bis der Diener endlich fragte: „Befehlen der Herr Leutnant vielleicht ein Glas Milch?”

Der gute Landsdorf machte ein Gesicht, als habe er nicht richtig verstanden: „Was soll ich trinken — —?” Er brachte es gar nicht fertig, das Wort Milch nur auszusprechen, denn er hatte keine Ahnung mehr, wie sich das schrieb. Seitdem er in seinen jungen Tagen seine Amme leergetrunken hatte, war ihm die Milch in des Wortes wahrster Bedeutung nie wieder über die Lippen gekommen. Und nun sollte er als erwachsener Mensch — noch dazu heute, wo er vor Durst dem Umfallen nahe war — wieder mit diesem keimfreien Kindergetränk anfangen?

„Oder wenn der Herr Leutnant vielleicht ein Glas Schorle-Morle befehlen?”

Landsdorf erwachte aus seinem Entsetzen und verfiel beinahe in einen Freudentaumel. Schorle-Morle! Das war ja sein Leib- und Magengetränk; Mosel, Selter, Zucker, etwas Zitrone und dazu eine halbe oder eine ganze Flasche Sekt, das bildete für ihn den Inbegriff aller Seligkeit. Wenn dieses Getränk in der richtigen Mischung in einem großen Weißbierglas vor ihm stand, dann durchströmte jedsmal von neuem ein wollüstiges Glücksgefühl all seine Glieder, dann fand er das Leben unbeschreiblich schön und vergaß alles Leid und Ungemach.

„Ach ja — Schorle-Morle!”

Das klang wie die Stimme eines sterbenden Menschen, der da Erbarmen und Mitleid herbeifleht.

Gleich darauf erschien das Getränk. Aber schon, als er es sah, wurde er ganz blaß, und als er es leise und vorsichtig kostete, wurde er grün und gelb im Gesicht, wie ein Mensch, der auf hoher See fährt und sich sagt: Entweder brechen die Wellen sich nun bald oder ich breche mich.

Selbst der Kammerdiener hatte Mitleid mit dem armen Leutnant, aber er mußte seine Rolle zu Ende spielen und seiner Instruktion gemäß handeln.

„Das ist ja Himbeersaft mit Selterwasser,” stöhnte Landsdorf endlich. „Sagen Sie es, bitte, dem Herrn Baron nicht wieder, das wäre mir peinlich, aber das kann ich nicht trinken, und wenn mir jemand dafür ein Schloß in Berlin schenkt. Dann stecken Sie schon lieber eine Kuh frisch für mich an, da werde ich dann doch Mi–Mi–Mi–Milch trinken.”

Nur schwer rang sich das Wort über seine Lippen.

Aber als die Milch dann vor ihm stand, wurde ihm doch wieder schwach auf der Brust. Dreimal nahm er das Glas zur Hand, dreimal führte er es an den Mund, ebensooft setzte er es unberührt wieder ab.

Dann nahm er endlich seine ganze Energie zusammen und schob das Glas für immer ganz weit von sich fort.

Mochten sich andere mit diesem Kuheuter den Magen verderben, er hatte dazu seine Gesundheit viel zu lieb.

Dann wandte er sich an den Diener: „Ich habe mich geirrt, ich verspüre gar keinen Durst, ich muß mir das eingebildet haben. Aber vielleicht können Sie mir jetzt mein Zimmer zeigen und dann veranlassen, daß mein Bursche erfährt, wo ich untergebracht bin. Ich möchte etwas schlafen und mich dann umziehen.”

Der Diener ging ihm voran. „Der Herr Baron läßt sich bei dem Hernn Leutnant entschuldigen, daß der Herr Baron kein besseres Zimmer zur Verfügung hat; — es ist eben alles besetzt. Aber hoffentlich werden der Herr Leutnant doch zufrieden sein.”

Also auch das noch, dachte Landsdorf im stillen, so gut wie nichts zu essen, gar nichts zu trinken, und nun auch noch eine so elende Bude, daß man sich im voraus deswegen entschuldigt. Na, in meinem Leben freue ich mich auf kein Sektquartier mehr, so viel weiß ich.

Ganz geknickt schlich er hinter dem Diener her, aber als er das Zimmer betrat, glaubte er sich in ein Märchenland versetzt. Es war ein prachtvoller, großer Raum, auf das eleganteste möbliert, mit einem herrlichen Reformbett nebst seidenen Decken, und durch eine offenstehende Tür sah man in das Badekabinett. Dichte Jalousien und schwere Gardinen hielten die Sonnenstrahlen ab und dort auf dem Tisch — er wußte nicht, ob er wache oder träume, er ergriff den Diener am Arm, und erst, als dieser einen leisen Schmerzensschrei von sich gab, wußte er, daß es doch Wirklichkeit sei — dort auf dem Tisch stand ein Frühstück für ihn bereit, wie es sich opulenter kein Lukullus wünschen konnte: kalter Hummer, Geflügel und Braten, alles, was es gab, war da zurechtgestellt, und aus den Sektkübeln steckten die Mosel- und Sektflaschen ihre Hälse hervor, und nun konnte er sich eine wirkliche Schorle-Morle brauen.

Und jetzt merkte er auch, daß die anderen ihn wieder einmal absichtlich hineingelegt hatten, und er schwur sich, dafür an ihnen Rache zu nehmen. Die Enttäuschung, die sie ihm bereitet hatten, war ihm doch zu groß gewesen — dieses Mal sollten sie es büßen.

Es war halb sieben, als das Tam-Tam geschlagen und damit das Zeichen gegeben wurde, sich zum Diner umzuziehen, und als Landsdorf unten im Salon als letzter erschien, da sein Bursche nicht gleich zur Stelle gewesen war, wurde er mit lautem Hallo empfangen. Selbst die Damen stimmten in die Heiterkeit mit ein, denn sie wußten ja alle, welchen Streich man ihm gespielt hatte.

Der Hausherr hieß ihn herzlich willkommen und wälzte alle Schuld auf die andern. Auch die Baronin behandelte ihn mit der größten Aufmerksamkeit. Man merkte, daß sie alles dareinsetzten, ihn den Streich vergessen zu machen, den die Kameraden ihm gespielt hatten.

Und es war wohl mehr als ein Zufall, daß er der Tochter des Hauses den Arm reichen durfte, als es nun zu Tisch ging.

In dem großen Speisesaal war die Tafel gedeckt, und die schönen Räume, das üppige Diner, vor allen Dingen aber die Anwesenheit so vieler junger Damen ließ gleich im Anfang eine fröhliche Stimmung aufkommen.

Von seiner Tischdame ließ Landsdorf sich nochmals die Namen der anderen Gäste nennen. Es waren meist Töchter der Gutsnachbarn, die selbst keine Einquartierung hatten, teilweise aber auch junge Damen aus der Stadt. Für sie war ein Manöver und alles, was Einquartierung hieß, etwa sehr Lustiges, so waren sie denn gern der Einladung gefolgt, um hier ein paar frohe Tage zu verleben.

Mit prüfendem Blick musterte er die Schar der jungen Mädchen. Fast alle waren sehr hübsch, aber die hübscheste war doch die junge Baroneß selbst: groß und schlank gewachsen, mit einer vollendet schönen Figur, einem vornehmen feinen, zarten Gesicht und auffallend dunklen Augen.

Landsdorf sah, wie alle Kameraden ihn darum beneideten, daß gerade er bei Tisch neben ihr sitzen dürfe, und das gab ihm plötzlich einen Gedanken ein: „Na wartet, Kinder,” sagte er sich, „nun weiß ich auch, wie ich mich räche. Ich werde der Baroneß ganz einfach derartig auf Tod und Leben den Hof machen, daß Ihr alle vor Neid platzt, und ich werde dafür sorgen, daß Ihr nicht Gelegenheit findet, auch nur ein einziges Wort mit ihr allein zu wechseln.”

Gleich darauf aber gestand er sich ein, daß das der jungen Dame gegenüber nicht recht wäre. Die konnte dann vielleicht wirklich glauben, daß sein Herz Feuer gefangen habe, sie würde dann naturgemäß in ihrem Wesen ihm immer kühler und zurückhaltender werden, um ihm von Anfang an jede Hoffnung zu nehmen; und er erreichte dann das Gegenteil von dem, was er wollte.

So weihte er sie denn plötzlich in seinen Plan ein. „Sie dürfen das aber, bitte, nicht falsch auffassen, Baroneß. Ich bin wirklich der gutmütigste Europäer von der Welt, und ich will die Kameraden doch nur im Scherz ärgern. Außerdem würde von den anderen Ihnen doch sicher einer den Hof machen, wenn nicht sogar alle zusammen, warum soll ich da nicht der Glückliche sein? Und übermorgen früh gehen wir ja für immer wieder fort; da hat das Spiel sowieso ein Ende.”

Zuerst war sie von seinen Worten etwas überrascht, dann aber lachte sie fröhlich auf: „Sie haben ganz recht, die anderen verdienen wirklich eine Strafe. Ich habe Papa sehr gescholten, daß er überhaupt auf den Scherz einging, und ich habe ihn auch schließlich dahin gebracht, daß Sie wenigstens in Ihrem Zimmer ein Frühstück vorfanden. Erst sollten Sie bis zum Diner hungern, und man wollte Sie sogar in eine Dienerstube stecken, die schon für Sie hergerichtet war.”

„So 'ne Schwefelbande!” schalt Landsdorf, und es war ihm mit seinem Verdruß wirklich ernst. Er dankte ihr herzlich für das Mitleid, das sie mit seinem hungrigen Magen und seiner mehr als ausgetrockneten Kehle empfunden hatte. Dann meinte er: „Nun müssen Sie aber wirklich wieder einmal mit mir anstoßen, denn sonst denken die anderen, unsere Freundschaft sei schon wieder zu Ende.”

Lachend stieß sie mit ihm an, und sie unterhielten sich bei Tisch so lustig und lebhaft miteinander, daß sie ganz betrübt waren, als die Tafel aufgehoben wurde.

Wie aus einem Mund sagten sie beide: „Schade!” Und wenn die Baroneß auch erst ein klein wenig verlegen wurde, weil sie ihre Gedanken so deutlich verraten hatte, so stimmte sie doch in sein fröhliches Lachen ein. Sie hatte sich wirklich sehr gut mit ihm unterhalten! Wieviel Einquartierung war nicht in der letzten Zeit bei ihnen gewesen. Vor wenigen Tagen erst ein sehr vornehmes Kavallerie­regiment, aber wie wenig waren die Leutnants nach ihrem Geschmack gewesen. Die hatten es als ganz selbstverständlich betrachtet, daß sie im Sturm jedes Mädchenherz eroberten. Wie ganz anders dagegen ihr heutiger Tischherr. Trotzdem sie ihm erlaubt hatte, ihr, wenn auch nur zum Schein, den Hof zu machen, war er in seinem ganzen Wesen bescheiden und zurückhaltend gewesen; kein fades Kompliment war über seine Lippen gekommen; er hatte keine verliebten Augen gemacht und nicht getan, als merke er erst in ihrer Nähe, wie schön das Leben sei.

Die jungen Damen hätten natürlich nach Aufhebung der Tafel am liebsten sofort getanzt, aber der Hausherr widersprach: „Ein gutes Diner ohne eine ebenso gute Zigarre ist wie ein Rheinwein ohne Blume oder wie das Leben ohne Liebe.”

Das setzte er der tanzlustigen Gesellschaft auch auseinander, und so vereinigten sie sich denn alle im Rauchzimmer. erst nach einer Stunde ging man in den inzwischen ausgeräumten Speisesaal zum tanzen. Der Herr Major eröffnete den Reigen mit der Dame des Hauses, die anderen Paare folgten; aber der Klavierspieler, der eigens aus der Stadt verschrieben war, erwies sich sehr bald als ein solcher Stümper, daß Landsdorf plötzlich seine Dame stehen ließ und an den Flügel eilte: „Verzeihung, Baroneß, aber das kann ich nicht mit anhören.”

Ja, können Sie denn spielen? wollte sie ihn ganz überrascht fragen, denn das hätte sie ihm am allerwenigsten zugetraut. Aber als er nun in die Tasten griff, merkte sie sehr bald, daß ein wirklicher Künstler am Klavier saß.

Von allen Seiten ertönten laute Bravorufe und immer wieder hieß es: „Weiter, weiter!” Es schien, als solle er gar nicht wieder aufhören, und den jungen Damen war, als hätten sie noch niemals nach einem so himmlischen Walzer getanzt.

Nur die Baroneß war ärgerlich; sie sah es voraus, daß er den ganzen Abend den Platz am Klavier behalten würde. Von den Freundinnen würde jede einzige sich genieren, ihn abzulösen, und auch sie selbst konnte seine Stellung nicht einnehmen. So leidenschaftlich sie auch die Musik liebte, das Spielen selbst machte ihr gar kein Vergnügen, sie hatte es über dem Reiten und dem Sport ganz vernachlässigt und es deshalb kaum zu irgendwelchen nennenswerten Fähigkeiten darin gebracht.

Sie war wirklich verdrießlich, daß ihr Tischherr nun den ganzen Abewnd hindurch für sie verloren sei, daß sie kaum noch Gelegenheit finden würde, sich heute weiter mit ihm zu unterhalten. Und auch für ihn ärgerte sie sich. Anstatt daß er nun mit ihr zusammen an den Kameraden fröhliche Rache nahm, mußte er ihnen stundenlang zum Tanz aufspielen. Es tat ihr leid, daß gerade er von dem heutigen Abend so gar kein Vergnügen mehr haben solle, und ihre Gedanken verratend, fragte sie plötzlich: „Warum müssen denn gerade Sie so ausgezeichnet spielen können?”

„Muß der Mensch nicht eine gute Eigenschaft haben?” gab er mit leiser Selbstironie zurück, während sie am Flügel neben ihm stand. „Wieviel Fehler ich als Soldat habe, vermögen nur meine Vorgesetzten zu beurteilen, — aber sonst? Ich brauche nur in den Spiegel zu sehen, da weiß ich ganz genau Bescheid, und für die lieben Mitmenschen ist doch das Äußere in erster Linie maßgebend. Was fragen die nach dem andern? Da versöhne ich sie oft durch mein Spiel und sichere mir so auf den Gesellschaften wenigstens das, was der Schauspieler auf der Bühne einen guten Abgang nennt.”

Und gleichsam, als wolle er ihr sein Können zeigen, ging er plötzlich zu dem Faust-Walzer von Gounod über und spielte ihn mit solcher Vollendung und beispiellosen Technik, daß sie ihm plötzlich zurief: „Bitte, spielen Sie nicht weiter, denn es ist ein Verbrechen an der Kunst, so schön zum Tanz aufzuspielen.”

Mit einem schnellen Schlußakkord brach er ab, und auch die allgemeinen Rufe der Enttäuschung vermochten nicht, ihn zum Weiterspielen zu bewegen. Er war aufgestanden und hatte sich neben die Baroneß gestellt, und jetzt sah sie erst seine schönen, schlanken Hände, die eigentlich in gar keinem Verhältnis zu dem mächtigen, starken Körper standen.

Einige Kameraden traten auf ihn zu: „Landsdorf, seien Sie kein Spielverderber! Setzen Sie sich doch wieder ran ans Klavier! Sie verderben uns ja allen die Freude.”

Fragend sah er die Baroneß an, da sah er, wie sie leise, kaum merklich den Kopf schüttelte, und so blieb er auch jetzt unerbittlich.

Der Tanz nahm trotzdem so gut es ging, seinen Fortgang, und es blieb den jungen Damen nichts anderes übrig, als sich gegenseitig am Klavier abzulösen; sie taten es wider Willen und keine versäumte, dem guten Landsdorf zu erkennen zu geben, daß sie sein Verhalten und seine Ungefälligkeit eigentlich nicht verständen.

Und er selbst verstand es eigentlich auch nicht. Wenn er den anderen damit einen Gefallen tat, warum denn nicht? Aber wenn die Baroneß es nicht wollte, hatte er sich ihr zu fügen.

Pflichtgemäß forderte Landsdorf jede Dame einmal auf, dann kehrte er immer wieder zur Baroneß zurück, um mit ihr zu plaudern, und auch sie tanzte nicht mehr, als sie es mit Rücksicht auf die Gäste ihres Vaters mußte. Sie schützte so oft Müdigkeit vor, daß die Herren sie schließlich gar nicht mehr aufforderten, — aber dem Kameraden wollten sie nachher ganz gehörig ihre Meinung sagen. Was fiel dem ein, die Tochter des Hauses derartig mit Beschlag zu belegen?

Aber noch war es nicht so weit, noch mußten sie es weiter mit ansehen, wie er allein für die junge Baroneß zu existieren schien. Die beiden merkten nichts von den Blicken, die zu ihnen hinüberflogen; sie unterhielten sich, wie vorhin bei Tisch, erzählten einander aus ihrem Leben, sprachen von ihrem Tagewerk und von ihren kleinen Sorgen und von dem, was sie interessierte und beschäftigte. Sie merkten es selbst nicht, wie sie immer vertrauter mit einander wurden.

Endlich erschien der Hausherr, um seine Gäste aufzufordern, draußen auf der Veranda noch einen Imbiß einzunehmen. Tanzen mache hungrig und durstig, und lachend setzte er hinzu, wenn es schon einmal hieße, daß die Herren bei ihm im Sektquartier wären, dann müsse er seinem Rufe doch auch Ehre machen. —

Die Damen hatten sich schon lange zurückgezogen, als sich die Herren endlich erhoben. Zuerst hatte man immer eine Flasche nach der anderen getrunken und dann immer eine vor der anderen, bis schließlich die allerletzte an die Reihe kam.

Aber ehe die Leutnants sich niederlegten, galt es noch, Landsdorf dafür zu bestrafen, daß er ihnen allen die Baroneß abspenstig gemacht hatte. Unter dem Vorsitz des Adjutanten wurde in einem Zimmer Kriegsgericht über den Schuldigen abgehalten, ohne daß der etwas davon ahnte, denn er hatte sich sogleich schlafen gelegt.

Unterdessen berieten die Richter, was mit ihm geschehen solle. In der übermütigen, ausgelassenen Sektstimmung, in der sich alle befanden, daurte es lange, bis sie sich geeinigt hatten.

Auf den Zehenspitzen schlichen sie dann alle den Korridor entlang zu Landsdorfs Schlafzimmer, um mit lautem Hurra über ihn herzufallen, aber sie fanden die Tür fest verschlossen. Die Verständigen mahnten jetzt zur Rückkehr, um die übrigen Bewohner des Hauses nicht zu wecken, aber die andern hörten nicht darauf. Lachend und lärmend schlugen sie gegen die Tür, bis der Schläfer endlich erwachte. Er sprang aus dem Bett, um die Kameraden zur Ruhe zu verweisen, aber kaum hatte er die Tür geöffnet, da flogen ihm Decken und Kissen an den Kopf, kaltes Wasser wurde ihm ins Gesicht gespritzt, und ein volles Glas Wasser wurde ihm hinten am Hals in das Nachthemd gegossen. Als wären sie noch Kadetten, so fielen sie alle über ihn her und wollten sich in ihrer übermütigen Stimmung totlachen, wenn sich aus den herbeigeholten Schüsseln und Krügen immer neue Wasserstrahlen über den Schuldigen ergossen.

Landsdorf tat das klügste, was er tun konnte, er ging auf den Unsinn, den die andern trieben, ein und setzte sich schon deshalb nur lachend zur Wehr, um bei einer vollen Entwicklung seiner Kräfte niemand einen ernstlichen Schaden zuzufügen. Aber die auch nur im Übermut von ihm ausgeteilten Rippenstöße waren keine Mückenstiche, und das veranlaßte die Kameraden zu immer neuen Angriffen.

Aus dem Nebenzimmer hatten zwei junge Leutnants einen großen Eimer mit Wasser herbeigeschleppt. In der Tür machten sie halt, zählten eins — zwei — drei, und auf Kommando flog ihm der ganze Wasserstrahl ins Gesicht.

Da riß ihm aber doch die Geduld. „Seid Ihr denn ganz verrückt geworden?” schalt er, „da hört denn doch wirklich der Spaß auf.”

Mit Händen und Füßen stieß er um sich, um die übermütige Gesellschaft zur Tür hinauszudrängen. Der eine Kamerad stand gerade, weit vornüber gebeugt, in einer Position da, die es direkt zur Pflicht machte, sie nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. Landsdorf hob das rechte Bein, um ihm einen Fußtritt auf das im Mondenschein helleuchtende Hinterteil zu geben, er stieß mit ebensoviel Liebe wie Energie zu, und wenn der andere den Stoß bekommen hätte, wäre er sicher durch die Wand hindurch auf den Korridor geflogen. Aber ein gütiges Geschick schwebte über seinem rückwärtigen Haupt. er machte ganz zufällig einen Bewegung nach vorn und entging dadurch der drohenden Gefahr.

Das ärgerte Landsdorf. Die anderen hatten ihn so oft getroffen, daß nun auch er sein Ziel nicht verfehlen wollte. Er beugte sich weit vornüber, um dadurch das rechte Bein noch länger zu machen, als es schon in Wirklichkeit war, aber er dachte dabei nicht daran, daß dann das linke Bein die ganze Last seines schweren Körpers allein tragen müsse. Unter normalen Verhältnissen hätte es sicher auch standgehalten, jetzt aber war der Boden, auf dem es ruhte, klitschenaß, und so kam, was kommen mußte. Während er das eine Bein energisch nach vorn warf, rutsche das andere nach hinten aus, seine Beinen weiteten sich, wie die einer Cancantänzerin oder die eines Turners, der die Gretsche macht. Und plötzlich fiel er hintenüber, sein Kopf schlug gegen den Tisch, dann gegen den Ofen und endlich gegen das Bettgestell.

Der Länge nach lag er auf der Erde, und wie auf der bekannten Marmorgruppe „Der Nil und seine Töchter”, kletterten nun mit einem Male alle Leutnants auf ihm herum und kitzelten, piekten, kniffen und knutschten ihn.

Aber sonderbarerweise setzte Landsdorf sich gar nicht zur Wehr, so daß einer der Kameraden ihm zurief: „Aber Menschenskind, so hauen Sie doch wieder, sonst macht doch die ganze Balgerei keinen Spaß.”

Nun wurden auch die andern aufmerksam. Einer nach dem andern ließ von ihm ab und plötzlich starrten alle voller Schrecken auf den Kameraden, der leblos dalag.

Mit einem Male war der Champagnerrausch verflogen, blaß und entsetzt sahen sich alle an, niemand sprach es aus, aber alle dachten dasselbe: Landsdorf ist tot.

Der Adjutant faßte sich zuerst: „Schnell einer zum Arzt!”

Drei Kameraden stürzten gleichzeitig davon, um den Arzt, einen Einjährigen, zu wecken, der mit im Schloß einquartiert war und auch schnell zur Stelle war. Aber es dauerte lange, bis er die Untersuchung beednet hatte, dann sagte er: „Gott sei Dank, er lebt, aber wenn nicht alle Anzeichen trügen, hat er sich eine schwere Gehirnerschütterung durch den Sturz zugezogen. Auf jeden Fall möchte ich die Behandlung nicht allein übernehmen.”

Es blieb nichts anderes übrig, als den Schloßherrn zu wecken; und bald darauf jagte ein Wagen durch die Nacht, um den Oberstabsarzt aus seinem Quartier herbeizuholen. Als der nach Stunden eintraf, hatte der Einjährige Arzt die frohe Genugtuung, daß seine Diagnose für richtig erklärt wurde, — das war aber auch das einzig Frohe an der ganzen Geschichte.

Wie Verbrecher schlichen am nächsten Tage die Leutnants durch das Schloß. Das Lachen war verstummt, und auch bei den Mahlzeiten saßen sich alle schweigend gegenüber.

Am Tage darauf rückte das Bataillon wieder ab, nur Landsdorf, der immer noch ohne Besinnung dalag, blieb im Schloß zurück, da an einen Transport in das nächste Lazarett nicht zu denken war, und auch als er endlich wieder die Augen aufschlug, blieb er als Rekonvaleszent bis zu seiner völligen Genesung auf dem Gut.

Als er endlich wieder zu den Kameraden zurückkehrte, war er, im Verhältnis zu früher, wirklich beinahe zum Skelett abgemagert, aber jetzt nannte ihn keiner mehr bei seinem Spitznamen. Alle schämten sich ihres Verhaltens ihm gegenüber, und sie hörten nicht auf, ihn um Verzeihung zu bitten, bis sie plötzlich den Verlobungsring an seiner linken Hand bemerkten. Da erst beruhigten sich die andern — um eine solche Braut, wie die Baroneß, zu erringen, hätte jeder von ihnen gern eine Gehrinerschütterung durchgemacht.

Aber eine traurige Folge hatte der übermütige Abend doch für sie alle. Schloß Betzow hörte auf, ein Sektquartier zu sein; der Baron hatte geschworen, während der Einquartierung nie mehr Champagner servieren zu lassen, und fortan gab es denn wirklich nur Milch und Himbeersaft nebst Selterwasser.

Durch ihre eigene Schuld hatte sich für sie alle das Sektquartier nach dem Ausspruch eines Kameraden in eine gänzlich alkoholfreie kohlensaure Destille verwandelt.


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© Karlheinz Everts