Von Freiherr von Schlicht.
in: „Die Zukunft”, 7.10.1905, Band 53, S. 112-115
in: „Seine Hoheit”.
Für die Dauer der großen Herbstübungen war dem sehr feudalen Infanterie–Regiment Von Dingsda Seine Hoheit der Prinz Karl Oskar zugewiesen worden. Der hohe Herr sollte einmal wieder praktischen Dienst thun und seine reichen Kenntnisse noch mehr bereichern. Als geborener Prinz war Seine Hoheit natürlich auch geborener Soldat, was ja deutlich daraus hervorging, daß er nicht nur, weil es alter Brauch ist, sondern auch, weil er über genügende militärische Kenntnisse verfügte, schon im Alter von zehn Jahren zum Lieutenant avancirt war. Zur Feier dieses großen Ereignisses hatte der Prinz nach seiner Einstellung in die Armee mit den Offizieren seines Regimentes im Kasino gefrühstückt; und da der Leibarzt am Tag vorher genau Herz, Leber, Nieren und Lunge untersucht und dabei konstatirt hatte, daß es dem Organismus Seiner Hoheit nicht schaden würde, durfte der hohe Jüngling bei dem Frühstück sich in sein Glas Selterswasser drei Tropfen Champagner gießen. Und als er „Sekt” trank, kam er sich wie ein wirklicher Lieutenant vor.
Im Lauf der Jahre war Seine Hoheit immer älter geworden, wie es allgemein üblich ist, wenn man nicht inzwischen stirbt, und hatte auch viel gelernt. Zum Beispiel: die Kunst, Champagner ohne Selterswasser zu trinken. Nach ähnlichen Beweise geistiger Reife war Seine Hoheit dann eines Tages Oberlieutenant und jetzt sogar Hauptmann geworden. Nun sollte er zum ersten Mal eine Compagnie führen, um rasch die Qualifikation zum Major zu erlangen.
Als der Oberst die Nachricht von der bevorstehenden Ankunft Seiner Hoheit erhielt, rührte ihn beinahe der Schlag. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er hatte in seinem Regiment schon genug Hauptleute, die nach seiner Ansicht keine Ahnung hatten. Nun als Extra–Zulage auch noch einen Prinzen. Das war mehr, als ein erwachsener Mensch allein zu ertragen im Stande ist. Natürlich verstand Seine Hoheit vom Dienst absolut nichts. Das war ja auch nicht zu verlangen. Der Prinz hatte während seiner kurzen Lieutenantzeit nur sehr selten Dienst gethan und diesen dann auch nicht praktisch, sondern nur theoretisch. Jetzt sollte er eine Compagnie selbständig führen, ganz allein, ohne jede fremde Hilfe. Das konnte schön werden. Dem Oberst thaten die Kerls der Compagnie leid. Am liebsten hätte er sie Alle gegen Unfall versichert. Das ging ja aber nicht. So sah er den kommenden Ereignissen mit Entsetzen entgegen. Selbst die Gewißheit, daß er nach Beendigung der Manöver von dem herzoglichen Vater einen hohen Orden bekommen würde, ließ ihm das Schreckliche nicht weniger schrecklich erscheinen.
Der Tag kam und mit ihm Seine Hoheit. Zuerst der Kammerdiener mit den übrigen Dienern, dann die Pferde und Wagen, dann das geruchlose Torfklosett, das Seine Hoheit auf all seinen Reisen mitzuführen pflegte; und dann kam Seine Hoheit selbst. Ein junger, liebenswürdiger, frischer Mensch, dem die Unkenntniß aller Dinge aus hellblauen Augen leuchtete. An der Spitze des Offiziercorps hieß der Herr Oberst ihn herzlich willkommen, gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß gerade er die hohe Ehre habe, Seine Hoheit während des Manövers in seinem Truppentheil zu sehen, versicherte, daß das Regiment diese Auszeichnung nie vergessen werde, und sprach die Hoffnung aus, bald in einem Krieg durch die That beweisen zu können, daß sich das Regiment stets dieser hohen Ehre würdig zeigen werde. Und nach dieser Rede (bei der sich außer dem Prinzen, der tief gerührt war und Alles glaubte, was der Oberst ihm erzählte, kein Mensch Etwas dachte) brachte der Kommandeur ein dreifaches Hoch auf Seine Hoheit aus. Und dann empfahl er, allerdings nur im Stillen, aber darum nicht minder dringend, sich selbst, sein Regiment und besonders die geehrte Compagnie der Gnade des allmächtigen Gottes. (Seine Hoheit empfahl er dem Allerhöchsten nicht erst; Fürsten von Gottes Gnaden sind mit ihrer Nachkommenschaft da oben ja schon gut genug angeschrieben.)
Am nächsten Tage exerzirte Hoheit seine Compagnie und es ging über alles Erwarten gut. Allerdings machte er nur die einfachsten Sachen durch; er kommandirte eine geschlagene Stunde „Rechtsum! Linksum! Front! Kehrt!” und die nächste Stunde lang „Gewehr über! Gewehr ab!” Dann marschirte er mit seinen Leuten auf den Platz vor der Kaserne, um dort Zielübungen vornehmen zu lassen. Zum Glück hatte er vorher gesagt, wohin die Kerls sollten, sonst hätte er sie vielleicht doch nicht dahin bekommen; so aber machten sie auch nach falschen Kommandos Alles richtig und standen plötzlich da, wo sie stehen sollten. Seine Hoheit freute sich, obgleich er ein Prinz war, darüber wie ein gewöhnlicher Sterblicher; und die Kerls freuten sich königlich.
Nach acht Tagen gings ins Manöver. Viel hatte Seine Hoheit natürlich inzwischen nicht gelernt; aber da er es mit seinem Dienst sehr gewissenhaft nahm, verstand er wenigstens schon beinahe Etwas. Wenn man ihm keinen schwierigen Auftrag gab und wenn die Kerls nicht Das thaten, was er befahl, sondern Das, was sie selbst für richtig hielten, und wenn von den höheren Vorgesetzten Niemand hinsah, dann konnte die Sache vielleicht noch einigermaßen leidlich verlaufen. Das war so ungefähr der Gedankengang des Herrn Oberst. Der hatte sich in der letzten Woche schon angewöhnt, beide Augen ganz fest zuzukneifen, wenn er Seine Hoheit ansah; machten die anderen Vorgesetzten es eben so, dann konnte Seine Hoheit höchstsich für einen ungemein befähigten Offizier halten. Es kam nur darauf an, wie der Herr Brigadier und der Herr Divisionär über diesen Punkt dachten. Na, Die einigten sich am ersten Manövertag dahin, eben so zu denken wie der Herr Oberst. Du großer Gott: was hing denn schließlich für das Vaterland davon ab, ob Seine Hoheit eine Compagnie führen konnte oder nicht? Ein Krieg war ja vorläufig nicht zu befürchten, und wenn es trotzdem dazu kam, dann ritt Seine Hoheit ja in irgend ein Hauptquartier und konnte da beim besten Willen keinen Schaden anrichten. Und warum sollte der Prinz Das denn wollen? Er war ein viel zu liebenswürdiger Mensch, um absichtlich etwas Böses zu thun.
Da, als die Corpsmanöver begannen, erschien Seine Excellenz der Herr Kommandirende General auf dem Manöverfelde. Das war ein sehr feiner, höflicher Herr, der geborene Hofmann, der einen Prinzen schon deshalb liebte, weil er eben ein Prinz war. Das sollte und durfte ihn aber nicht abhalten, bei der Kritik streng und gerecht zu sein. Das war er nicht nur Seiner Majestät, sondern auch sich selbst, den anderen Offizieren des Armeecorps, vor allen Dingen aber auch Seiner Hoheit schuldig. Das sagte er auch dem Prinzen; und der Prinz war dafür sehr dankbar. „Ich bitte Euer Excellenz, mich in keiner Weise zu schonen. Ich bin ja nicht als Prinz hier, sondern als Hauptmann, und wenn ich Fehler mache, so bitte ich, mir sie zu nennen, damit ich daraus lerne.”
„Gewiß, Hoheit,” erwiderte die Excellenz; dann nahm das Gefecht seinen Anfang. Der Feind zeigte sich im Vorgelände, die Infanterie und die Artillerie fingen zu feuern an, die Kavallerie jagte über die Felder und that, als ob sie kolossal viel zu thun habe, und auf einer Anhöhe hielt Excellenz mit seinem Stab und frühstückte. Zwar kein déjeuner dinatoire, aber immerhin ganz passabel: belegte Butterbröte und hartgekochte Eier. Warum sollte Excellenz auch nicht frühstücken? Er hatte ja noch nichts zu thun; seine Thätigkeit begann ja erst, wenn das Gefecht zu Ende war.
„Geben Sie mir, bitte, noch einen Cognac,” sagte er zu seinem Adjutanten; doch ehe er das schnell vollgeschänkte Glas zur Hand nahm, hielt er mit seinem Fernrohr noch einmal Umschau. Plötzlich stieß er einen gottlästerlichen Fluch aus. Da unten, ganz allein für sich, zog eine Compagnie durch das Gelände; sie mußte sich verlaufen haben. Aus der Truppe war jede Ordnung geschwunden; sie kleckerte nur so dahin und war dem stärksten feindlichen Feuer ohne jede Deckung preisgegeben. Ingrimmig goß Excellenz den Cognac hinunter. Dann wandte er sich an den Ordonnanzoffizier: „Reiten Sie dahin, aber Galop [sic D.Hrsgb.], und stellen Sie fest, wer die Compagnie dort führt. Wenn es sich nicht um einen Offizier handelte, würde ich sagen: es muß ein Riesenrindvieh sein. Stellen Sie mir den Namen fest, damit ich dem Herrn nachher meine Meinung sage.”
Im Galop sauste der Gesandte davon, im Galop kam er zurück; aber je mehr er sich Seiner Excellenz näherte, desto mehr verlangsamte er die Gangart seines Pferdes; und schließlich ritt er sausenden Schritt.
„Nun, wer war der Idiot?” fragt Excellenz. Der Offizier schweigt. „Haben Sie den Namen nicht erfahren? Ich möchte wissen, wer an der Riesenschweinerei da unten schuld ist.”
Der Offizier schweigt noch immer und wirft, statt zu antworten, Seiner Excellenz einen Blick zu, der fleht: Nie sollst Du mich befragen!
Mit einem Mal schien die Aufmerksamkeit Seiner Excellenz durch irgend einen wichtigen Vorgang im Gelände abgelenkt zu werden. Er nahm sein Fernrohr, musterte wieder den Kampfplatz, sah in die Generalstabskarte und machte dann die Herren seiner Umgebung auf eine Compagnie aufmerksam, die gesondert von den anderen allein durch die Welt zog.
„Sehen Sie dort, meine Herren! Es ist ganz klar, daß diese Compagnie einen Spezialauftrag hat, den sie selbständig ausführen muß. Ein Blick auf die Karte zeigt uns, wie ungangbar dort das Gelände ist, und es ist zu bewundern, wie geschickt der Hauptmann trotzdem vorwärts dringt. Sehen Sie, ohne daß dort ein Kommando erfolgt, sammelt sich die Compagnie jetzt ganz von selbst; ein Beweis dafür, wie tadellos der Hauptmann seine Leute ausgebildet hat. Die Mannschaften handeln ganz selbständig, ohne sich durch das feindliche Feuer irgendwie beirren zu lassen, das auf diese Entfernung allerdings ja auch gänzlich wirkunglos ist. Jetzt geht die Compagnie auf einen Wink ihres Hauptmanns über ein bebautes Feld, das an den aufgestellten Warnungszeichen von hier aus als ein Rübenfeld zu erkennen ist. Das ist zwar streng verboten; aber wenn die Kriegslage es erfordert, darf man auf solche Verbote im Interesse des Ganzen nicht zu streng Rücksicht nehmen. Für unvermeidliche Flurschäden sind ja Gelder vorhanden; und diese Flurbeschädigung ist nöthig.” Noch immmer beobachtete Excellenz mit seinem Glas die einsame Compagnie; nun rief er halblaut: „Bravo! Bravissimo!”
Dann wandte er sich an seinen Ordonnanzoffizier: „Reiten Sie einmal dorthin, aber Galop, und stellen Sie fest, wer die Compagnie dort führt, damit ich dem Hauptmann nachher bei der Kritik meine Anerkennung aussprechen kann.”
Im Galop sauste der Gesandte davon und im Galop kam er zurück.
„Nun, wie heißt dieser hervorragend tüchtige Offizier?” rief Excellenz dem Ankommenden schon entgegen.
„Seine Hoheit, Prinz Karl Oskar.”
Da umspielte ein glückliches Lächeln den Mund Seiner Excellenz. Und gelassen sprach der Kommandirende das große Wort: „Das habe ich mir gleich gedacht!”
Dresden Freiherr von Schlicht