Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Indiana Tribüne” vom 26.10.1906 und
in: „Seine Hoheit”
Hauptmann von Wendtborn hatte sich krank melden müssen, ohne selbst krank zu sein, seine Kinder hatten Scharlach, allerdings nur in geringen Maße, aber immerhin doch so stark, daß die Gefahr einer Ansteckung vorlag und aus diesem Grunde hatte der Oberstabsarzt eines Tages auch dem Hauptmann Stubenarrest auferlegt; er durfte nicht zum Dienst gehen und mußte überhaupt jeden Verkehr mit den Kameraden und den Offizieren und Mannschaften seiner Kompagnie vermeiden. Das war dem Herrn Hauptmann sehr unangenehm, denn er war ein äußerst pflichtgetreuer Offizier und außerdem war gerade jetzt die Periode der Felddienstübungen, des Wichtigsten aller Dienstzweige. Und in Felddienstübungen war der Hauptmann groß, dafür war er im ganzen Regiment bekannt, die Art und Weise, wie er die Übungen einfach, leicht faßlich und dabei doch lehrreich anlegte, galt einfach als mustergültig. Er hatte seine Leute im Gelände glänzend ausgebildet und sie auf dieser Höhe zu erhalten, war sein größter Ehrgeiz. Aus diesem Grunde verbot er es auch, daß mit seiner Kompagnie Felddienstübungen abgehalten würden, so lange er durch die Krankheit seiner Kinder verhindert war, dieselben persönlich zu leiten, denn, so sagte er sich, wenn ich selbst nicht da bin, wird doch nur Unsinn gemacht und ich kann mich dann wochenlang abquälen, den Leuten die Torheiten, die ihnen mein Leutnant beibringt, wieder abzugewöhnen.
Aber der Hauptmann mußte dem Dienst länger fernbleiben, als er es gefüchtet hatte und schließlich sah er es selbst ein, es ging so nicht länger. Tagaus, tagein konnten seine Leute auch nicht Einzelmarsch und Einzelgriffe üben und so befahl er denn eines Tages schriftlich: „Morgen hat die Kompagnie eine Felddienstübung abzuhalten.”
Als er diesen Befehl losgelassen hatte, war ihm zu Mut, als hätte er das Todesurteil seiner Kompagnie unterschrieben; sein Herz krampfte sich schmerzlich zusammen, aber was half das alles, es mußte sein. So setzte er sich denn, da eine mündliche Aussprache nicht möglich war, telephonisch mit dem Leutnant, der während seiner Abwesenhet die Kompagnie führte, in Verbindung, — das war noch ein sehr junger Herr, kaum zwei Jahre Offizier, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb von seinem Können sehr durchdrungen. Er ersetzte die fehlenden geistigen Kenntnisse duch eine tadellos stramme militärische Haltung und durch regen Diensteifer, und so kam es, daß er von vielen seiner Vorgesetzten und seiner Kameraden für klüger gehalten wurde, als er es war.
„Ich begreife gar nicht, was der Häuptling eigentlich will,” dachte der sich, als die telephonische Unterhaltung beendet war, „auf Kriegsschule haben wir während des praktischen Kursus mit Regimentern, Brigaden und Divisionen operiert, da werde ich doch wohl so 'ne lausige Felddienstübung leiten können. Die Sache ist doch furchtbar einfach, man nimmt eine Nord- und eine Südpartei oder eine West- und Ostabteilung, gibt jeder seinen Auftrag, na, und denn los damit. Etwas Einfacheres gibt es doch auf der ganzen Welt nicht. Ich verstehe garnicht, wie der Hauptmann mir noch besonders ans Herz legen kann, die Aufträge so abzufassen, daß sie ganz klar und deutlich sind und jedes Mißverständnis ausschließen. Es ist wirklich manchmal beleidigend, für wie töricht die Vorgesetzten uns halten. Na, ich werde meinem Hauptmann schon beweisen, daß er ganz getrost noch ein paar Wochen vom Dienst fortbleiben kann und daß die Sache auch ohne ihn geht.
So nahm er denn die Generalstabskarte zur Hand, dachte sich eine General- und eine Spezialidee aus und konstruierte aus diesen die beiden Befehle für den Führer der Nord- und Südpartei — auf der einen Seite kommandierte der Vizefeldwebel, auf der anderen Seite der älteste Sergeant. Und nachdem er mit dieser geistigen Arbeit fertig war, ging er ins Kasino und erzählte dort voller Stolz, aber anscheinend doch ganz gleichgültig, daß er morgen selbständig eine Übung leiten wolle. Na, das kann schön werden, dachten einige ältere Kameraden, und der Bataillonsadjutant dachte es auch und er nahm sich vor, morgen, natürlich ganz zufällig, den gemeinsamen Spaziergang mit dem Herrn Major so einzurichten, daß sie bei der Sache zugegen wären.
Je diensteifriger ein Offizier ist, um so früher fängt er mit dem Dienst an, wenn der „schlappe Zivilist” aufsteht, muß er bereits wenigstens seine zehn Kilometer im Magen haben, und so rückte denn die Nordabteilung unter der Führung des Sergeanten bereits um fünf Uhr vom Kasernenhof ab. Selbstverständlich war der Leutnant bei diesem feierlichen Moment zugegen, und im letzten Augenblick ermahnte er diesen nochmals: „Also, Sergeant Krause, Sie öffnen dieses verschlossene Kouvert, das Ihren Auftrag enthält, erst am Schnittpinkt der beiden Chausseen, die sich bei dem Kilometerstein 187 treffen, nicht eine Minute eher, verstanden?”
„Zu Befehl, Herr Leutnant.”
„Na, dann marschieren Sie ab.”
Die Abteilung rückte zum Tor hinaus, und nach einer Stunde marschierte der Vizefeldwebel ebenfalls mit seiner Abteilung ins Gelände. Der sollte am Südausgang des Dorfes A. das verschlossene Kouvert öffnen, und auch er hatte feierlich gelobt, dies nicht eine Minute eher zu tun, als bis er am Ziele angelangt sei.
„So,” sagte sich der Herr Leutnant, als der letzte Mann vom Kasernenhof verschwunden war, „soweit ist alles in schönster Ordnung, jetzt werde ich für meine Person erst einmal in aller Ruhe Kaffee trinken.” Das tat er denn auch. Dann steckte er sich eine gute Zigarre an und schwang sich gleich darauf auf das Pferd seines Hauptmanns, um seiner Abteilung nachzureiten.
„Ich bin begierig, wie die beide ihre Aufgaben lösen werden,” sagte er sich unterwegs. „Der Auftrag des Sergeanten ist ja leicht, das habe ich absichtlich so eingerichtet, einmal, weil er der jüngere ist, dann aber auch, weil ich dem Vizefeldwebel einmal ad oculos demonstrieren will, daß er gar nicht das große strategische Licht ist, für das er sich immer ausgibt. Der spielt sich beständig auf, als genüge die Anzahl der Dienstjahre ganz allein, einen Soldaten klug und weise zu machen. Unsinn, mancher junge Leutnant hat mehr Verstand im Kopf, als ein älterer Hauptmann, und dieser Vizefeldwebel tut wirklich manchmal so, als verstände er mehr vom Dienst als ich. Heute habe ich ihm aber eine gehörige Nuß zum Knacken aufgegeben, und wenn er nicht sehr gute Zähne hat, wird er morgen zum Zahnarzt müssen. Na, wir werden ja sehen.”
So ritt er denn zuerst zur Abteilung des Sergeanten, und als er dort ankam, fand er auch schon den Herrn Major vor. Für gewöhnlich pflegt die Anwesenheit der höheren Vorgesetzten ja gerade keine allzu frohe Stimmung hervorzurufen, aber als der Leutnant den Herrn Major sah, freute er sich wirklich, er war stolz darauf, daß dieser Zeuge sein würde, wie glänzend er die Übung leitete, er war sicher, nur die höchste Anerkennung zu finden, und darin täuschte er sich auch nicht, denn als der Sergeant seinen Auftrag vorlas, nickte der Herr Major sehr befriedigt mit dem Kopf: „Eine gute Idee, und dabei so klar und deutlich ausgedrückt, daß jedes Mißverständnis ausgeschlossen ist. Lesen Sie Ihren Auftrag noch einmal vor, Sergeant Krause, damit er Ihren Leuten in Fleisch und Blut übergeht, ” und der las: „Eine schwache Nordabteilung hat auf dem Vormarsch nach D. bei dem Dorfe B. Halt gemacht und daselbst Ausquartier bezogen. Da es an Lebensmitteln fehlt, erhält der Sergeant den Befehl, mit einer Abteilung in der Stärke von sechzig Mann nach dem Dorfe A. zu marschieren, dort zu requiriren, das lebende Vieh fortzutreiben und möglichst viel Proviant herbeizuschaffen. Das Dorf A. soll unbesetzt sein, es haben sich dort nur ganz schwache feindliche Patrouillen gezeigt.”
Das hieß mit anderen Worten für den kundigen Thebaner: wenn Sergeant Krause bei dem Dorfe ankommt, wird er das Dorf doch besetzt finden, der Gegner wird den Versuch machen, die marschierende Abteilung zurückzuschlagen und seine Absicht zu vereiteln, und es wird sich ein kleines Gefecht entspinnen, dessen Ausgang von dem Geschick der Führer abhängig ist.
Pünktlich auf die befohlene Minute trat der Sergeant seinen Vormarsch an, und von Rechts wegen hätte er unterwegs auf feindliche Patrouillen stoßen müssen. Aber so weit die Abteilung auch vorrückte, von dem Gegner war und blieb nichts zu sehen.
„Nanu?” fragte der Herr Major.
„Nanu?” fragte der Adjutant.
„Nanu?” fragte der Leutnant.
Und „Nanu?” fragte auch der Sergeant Krause, aber der fragte es nur so leise, daß es keiner hörte.
Nach einer weiteren halben Stunde hatte man vom Gegner immer noch nichts bemerkt — es war keine Helmspitze zu sehen und kein Schuß zu hören.
„Wer führt denn die andere Abteilung?” erkundigte sich der Major und der Leutnant gab gewissenhaft Auskunft.
„Das wollen wir uns doch merken,” wandte sich der Major an den Adjutanten. „Nur gut, daß ich noch rechtzeitig dahinterkomme, wie töricht dieser Vizefeldwebel ist, sonst hätte ich ihn wahrhaftig in den nächsten Tagen zum Feldwebel vorgeschlagen. Der scheint ja vom Felddienst nicht die leiseste Ahnung zu haben, nicht die allerleiseste.”
Der Leutnant machte ein Gesicht, das da deutlich sagte: na ja also, endlich wird der Mann erkannt, und da muß ich erst kommen, um euch die Augen über ihn zu öffnen. Ich bin gewiß der letzte, der nicht jedem Menschen das Beste gönnt, aber das Interesse des königlichen Dienstes erfordert, daß nur derjenige befördert wird, dessen militärische Begabung über jeden Zweifel erhaben ist.
Und immer näher und näher kam man dem Dorf, und immer noch war von dem Gegner nichts zu sehen und zu hören. Da riß dem Herrn Major die Geduld: „Lassen Sie die Abteilung halten, Herr Leutnant, und kommen Sie mit mir. Wir wollen doch einmal nachsehen, wo der Vizefeldwebel denn eigentlich steckt.” Und voller Wut stürmte er davon, und hinter ihm her stürmten der Adjutant und der Leutnant. Nach einer kleinen Viertelstunde fanden sie im Dorf die feindliche Abteilung; die hatte die Gewehre zusammengesetzt und schlief den Schlaf der Gerechten, nur ein Posten ging auf und ab.
„Da hört sich denn doch aber alles auf,” donnerte der Major. „Wo ist der Vizefeldwebel?”
Gleich darauf war dieser zur Stelle, aber als die Offiziere ihn erblickten, bekamen sie unwillkürlich einen gewaltigen Schrecken. Der Mann war totenblaß und in hellen Strömen lief ihm der kalte Schweiß von der Stirn.
„Aber was haben Sie denn nur, Feldwebel?”
Der faßte sich, allen militärischen Gesetzen zum Hohn, an die Schläfen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn: „Ich weiß nicht, was mit mir ist,” stotterte er endlich, „ich kann meinen Auftrag nicht verstehen.”
„Weil Sie ein Nachtwächter sind,” fuhr ihn der Major an, der jetzt, da es sich nur um eine geistige Beschränktheit handelte, kein Mitleid mehr kannte. „Geben Sie mir Ihren Auftrag her.”
Aber als der Herr Major den gelesen hatte, winkte er den Leutnant zu sich heran, und dann ritt er mit diesem weit weg, ganz weit weg, in eine stille, verschwiegene Ecke. Und als sie endlich zurückkamen, bekamen die Leute einen gewaltigen Schrecken, als sie ihren Leutnant ansahen: der war totblaß, in hellen Strömen lief ihm der kalte Schweiß von der Stirn, und allen militärischen Gesetzen zum Hohn fuhr er sich mit der Hand beständig über die Stirn. Er hatte eine maßlosen Anpfiff bekommen, und das nicht ohne Grund, denn so klar, wie der Auftrag für den Sergeanten Krause gewesen war, ebenso unverständlich war der Auftrag für den Feldwebel. Der enthielt keine General- und keine Spezialidee, keine Nachrichten über den Feind, kein Wort über dessen Absicht, auf A. zu marschieren und dort zu requirieren, überhaupt nichts, was die Situation erklärte.
Auf der Meldekarte, die den Auftrag des Feldwebels enthielt, stand nur geschrieben: „Und Sie haben dasselbe zu verhindern.”