in: „Deutsche Lesehalle”, Sonntags-Beilage zum Berliner Tageblatt, Nr. 36, 9.9.1894, Seite 281
und in: „Militaria”.
Das Regiment hat die Garnison verlassen und ist entweder per pedes apostolorum oder mit der Eisenbahn in das Manövergelände abgerückt; darüber, welche dieser beiden Arten schneller und angenehmer ist, gehen die Ansichten auseinander, und wer selbst einmal in einem Militärtransportzug gesessen hat, weiß, daß das berühmte Berliner Couplet von der „Fixigkeit” hierauf keine Anwendung findet.
Die Stadt ist wie ausgestorben, die Straßen, auf denen sonst das viel geschmähte und verspottete, aber doch von allen Leuten bewunderte Militär auf- und abpromenierte, sind leer, und die Köchinnen und die Hausmädchen sind nur schwer zu bewegen, die nötigen Besorgungen in den Geschäften zu machen; was ihnen früher ein Vergnügen war, ist ihnen jetzt eitel Mühe und Arbeit, denn der stolze Gefreite, der im tadellosen Extraanzug seine Dulcinea an der Straßenecke erwartete, ihr ritterlich den Arm bot und ihr die Zeit durch zärtliches Geflüster vertrieb, ist verschwunden, und voller Wehmut flüstert sie: „Ach, August, was ist das Leben ohne Liebe?”
Erleichtert atmet manche Hausfrau auf, wenn das Militär abgerückt ist. Endlich kann sie mit der schon lange geplanten Ersparnis in der Wirtschaft beginnen, es ist geradezu unglaublich, wie lange jetzt die Braten und Würste vorhalten, und es ist fast, als ob ihnen hienieden schon das ewige Leben beschieden sei. Verwundert bemerkt der Hausherr, daß seine Cigarrenkiste viel größer ist als sonst, wenigstens reicht der Inhalt viel länger als früher, bis er nach einigen Wochen merkt, daß er sich doch geirrt haben müsse. Die Cigarren schwinden wieder dahin wie der Schnee vor der Sonne. Er hört nicht, wie sein Stubenmädchen flüstert: „Emil, freue dich, wenn du morgen wieder heimkehrst, die habe ich für dich geklemmt.”
Klemmen ist der terminus technicus beim Militär für jegliche Art des Annektierens, und sie hat natürlich ihrem Schatz zuliebe dessen Ausdrücke angenommen.
Die Kasernen sind verödet und leer, nur „der Schwamm” ist zurück geblieben. Unter dem Schwamm, euphemistisch auch „Wachkommando” genannt, versteht man diejenigen Mannschaften, die bei dem Ausmarsch des Regiments für den Wachtdienst zurückgelassen worden sind. Es ist nur eine kleine Anzahl, und man merkt bei dieser Gelegenheit, wie viel Kraft mit dem Postenstehen vergeudet wird. Das deutsche Reich besteht auch so.
Die Mannschaften des Schwamms zeichnen sich dadurch aus, daß sie fast alle zeitweise Krüppel sind. Man läßt nur solche Leute zurück, die nach Ansicht ihrer Vorgesetzten den Anstrengungen des Manövers nicht gewachsen sind, die entweder längere Zeit krank waren oder vor allen Dingen nicht gut zu Fuß sind. Die Schönsten der Schönen sind es also nicht, die den Schwamm bilden, und ein an stramme militärische Zucht und Ordnung gewöhntes Auge wendet sich mit einem schmerzvollen Lächeln von dem Schauspiel ab, das man mit einiger Übertreibung: „Die Wachtparade” nennt.
Wo übrigens der Ausdruck „Schwamm” herrührt, vermag ich nicht anzugeben, vielleicht daher, daß er wie der wirkliche Schwamm an der Mauer klebt und nicht entfernt werden kann; ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß jeder Soldat zehnmal lieber mit in das Manöver geht, selbst auf die Gefahr hin, dort mindestens zehnmal am Tage umzufallen, als daß er beim Schwamm bleibt. Ich habe es erlebt, daß Soldaten, die zum Wachtkommando bestimmt waren, thränenden Auges ihren Hauptmann baten, ob sie nicht wenigstens versuchsweise mitgehen dürften, ja, es kommt sogar vor, daß Leute von tadellosester Führung sich noch im letzten Augenblick irgend etwas zu schulden kommen lassen, damit sie bestraft und somit von dem Wachtkommando ausgeschlossen werden. Nur völlig unbescholtene Leute dürfen dem Führer des Schwamms übergeben werden, aber innere Tugend genügt nicht immer, um das Äußere vergessen zu machen. Es ist ja ein altes und wahres Wort: „Der Mensch sieht nur das, was vor Augen ist.”
Die Thätigkeit der Mannschaften beim Schwamm besteht darin, jeden dritten, oft auch, wenn die Verhältnisse es erfordern, jeden zweiten Tag auf Wache zu ziehen. Der Posten vertreibt sich die Zeit angenehm damit, daß er zwei Stunden gedankenlos vor dem Schilderhaus auf- und abwandelt und seinem Nachfolger in Amt und Würden meldet: „Auf Wache und Posten nichts Neues”, und dann auf einer Pritsche, die aus dem härtesten Holz der Erde zusammengedrechselt ist, während vier Stunden Lust und Kraft sammelt zu neuen Heldenthaten.
Hat der Mann seine Wache „abgerissen”, so wird er am nächsten Tag zum Arbeitsdienst verwandt und darf abends zu seinem Vergnügen Urlaub einreichen, eine Vergünstigung, die die Leute im größten Umfange ausnutzen, da sie, wenn das Regiment wieder zurückgekehrt ist, und der regelmäßige Dienst wieder begonnen hat, nur an den Sonntagen länger als bis zehn Uhr mit ihren „Cousinen” zusammen sein dürfen. Im allgemeinen gilt der Grundsatz, der auch beim Schwamm aufrecht gehalten wird, daß jeder Mann, der länger als bis zwölf Uhr Urlaub haben will, sein Gesuch schriftlich irgendwie begründen muß. Es ist geradezu unglaublich, wie unerschöpflich die Leute im Ersinnen und Erfinden immer neuer Gründe sind; Leute, die sonst so dumm sind, daß man mit ihnen in den Instruktionsstunden mit spielender Leichtigkeit die dicksten Mauern einrennen könnte, werden bei dieser Gelegenheit schlauer als ein Fuchs. Keine Miene zuckt in dem Gesicht eines solchen Sünders, wenn man ihn fragt, ob der von ihm angegebene Grund: „Tod des Schwagers der Cousine seiner Braut”, Wahrheit oder Dichtung ist.
Ich habe einmal einen Krieger unter mir gehabt, der mich um Urlaub von mittags um zwölf bis zum nächsten Morgen um fünf Uhr bat, um seinen Vater, der zum Besuch käme, auf dem Bahnhof erwarten zu können. Als ich zufällig nachmittags auf demselben Bahnhof zu thun hatte, war von dem Gefreiten natürlich nichts zu sehen, nicht einmal die strohhalmbreite Halsbinde, und als ich ihn am nächsten Morgen fragte, erwiderte er, sein Vater hätte ihm in der letzten Minute abtelegraphiert. Ich entgegnete, an seiner Stelle wäre ich dann lieber nach Hause gekommen und wäre dafür ein anderesmal auf Urlaub gegangen. Einen Augenblick schwieg er, dann sagte er: „Ich glaubte, mein Vater würde vielleicht doch noch kommen.” Da gab ich das Rennen auf.
Der Schwammsoldat genießt kein besonderes Ansehen in der Stadt, er ist der Paria des Militärs und wird weder von seinen Vorgesetzten noch von seinen Kameraden für voll gerechnet. „Ein schwammiger Kerl” ist noch der zarteste aller Kosenamen, an denen die militärische Sprache so reich ist, und von denen er oft eine ganze Blütenlese zu hören bekommt. Er fühlt sich bei seinen Kameraden nicht glücklich, er sehnt sich hinaus zu den frisch gepflügten Äckern und den unermeßlichen Kartoffelfeldern, über die jetzt die Füße seiner Kameraden in den mit je fünfzig Sohlennägeln beschwerten langschäftigen Stiefeln einherschweben, er sehnt sich nach dem Staub der Landstraßen, der seinen Kameraden die Besinnung raubt, und in seinen kühnsten Träumen wünscht er sich kein anderes Lager als einen Platz am prasselnden Bivouacfeuer.
Und die, die da draußen im Gelände herumexerzieren, denen der Magen vor Hunger knurrt und der Durst den Gaumen zusammenklebt, denken täglich: „Ach wenn du doch beim Schwamm geblieben wärst!” In dieser Hinsicht ist es beim Militär wie überall: Zufrieden ist keiner, jeder wünscht sich das Gegenteil von dem, was er hat, und wenn er es erreicht hat, ist die Sache wieder genau ebenso.
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Aber jegliches Leiden nimmt ein Ende, eines Tages rückt das Regiment wieder in die Garnison ein, und der Schwamm tritt zum letztenmal in Thätigkeit. Er empfängt das Regiment am Bahnhof und sperrt den Zugang für das neugierige Publikum und die allzu feurige Alma und Lena, die den Augenblick nicht mehr erwarten können, wo sie den endlich heimkehrenden Geliebten an ihr treues Herz ziehen. Mit klingendem Spiel rücken die Truppen zur Kaserne, und der Posten vor Gewehr schreit sein „Rrrrraus” mit der ganzen Kraft, deren seine Riesenlunge fähig ist. Es ist ja heute das letzte Mal, da muß er zeigen, was er kann. Die Wache richtet sich in ihrer ganzen Schönheit auf, sie weiß, daß aller Augen auf sie gerichtet sind, noch nie waren die Leute so stolz wie in diesem Augenblick, da der Kommandeur „Augen rechts” nehmen läßt, um daran zu erinnern, daß die Wache zu den Vorgesetzten des Soldaten gehört.
Am nächsten Mittag tritt der Schwamm wieder auseinander. Dann sitzen die bisher verstoßenen Krieger mit ihren Kameraden zusammen hinter der Schüssel mit dicken Erbsen und lauschen den Heldenthaten, welche die Kameraden gegen den mit Platzpatronen bis an die Zähne bewaffneten Feind vollführt haben. Mitten aber in seiner Schilderung verstummt der Erzähler mit den Worten: „Wat versteihst du, oller Schwammsoldat, davon?” Dann richtet sich der also Gekränkte in seiner ganzen Würde auf, er schildert in glühenden Farben die Strapazen, die er auf Wache erlitten, er spricht von dem Regen, der dicker als dick zur Erde fiel, als er gerade ohne Mantel auf Posten stand, und er hat Stand gehalten und hat sich nicht verkrochen, weil nichts da war, wo er sich hätte verkriechen können. Immer hitziger wird der Streit, bis endlich der Korporal dazwischen tritt und das Wortgefecht damit schlichtet, daß er in längerer Rede auseinandersetzt, daß auch der Schwamm sein Gutes hat: „denn wenn kein Schwamm nicht gewesen wäre, dann wäre vielleicht eine Revolution gewesen, und dann wären vielleicht alle schönen Mädchen getötet worden, und was dann?”
Ja, was dann? Das kann niemand beantworten; so geben sie sich denn, die beiden Kämpfer die Rechte, und, ein Bild des Friedens, sind sie einen Augenblick später wieder hinter den dicken Erbsen thätig, bevor dieselben erkalten und dann noch dicker werden.