Von Freiherr von Schlicht.
in: „Treulose Frauen”
Es war der erste diesjährige grosse öffentliche Maskenball. In einer Nische sass einsam bei einer Flasche Rotwein der Rechtsanwalt Dr. Sieber und langweilte sich so entsetzlich, wie es nur immerhin möglich war. Er selbst bezeichnete seine Stimmung als vollständig stumpfsinnig, und er überlegte alle Minute dreimal, ob er nicht lieber nach Haus gehen und bei seiner Frau gemütlich plaudern wollte. Aber das ging nicht, denn um sich frei zu machen und seiner Frau, die sehr eifersüchtig war, auch nicht den leisesten Grund zu geben, mit ihm unzufrieden zu sein, hatte er sich von einem Freund, dem verwitweten Baurat Tegelmann, auf einer offiziellen Einladungskarte zu einem Herren-Diner bitten lassen, die beiden Freunde hatten sich verabredet, gemeinsam wollten sie den Maskenball besuchen, aber im letzten Augenblick war Tegelmann durch ein Telegramm, das ihn nach auswärts rief, verhindert worden, sich zu beteiligen.
„Du wirst Dich schon alleine amüsieren,” hatte Dr. Sieber sich selbst getröstet und war nach einigem Zögern allein auf den Ball gegangen, um zu spät einzusehen, dass man sich auf derartigen Festen nur amüsiert, wenn man sich in einer grösseren lustigen Gesellschaft befindet.
Die Rotweinflasche war leer!
„Ob ich noch eine trinke?” fragte er sich, „hier bleiben muss ich noch — Tegelmanns Herren-Diners bilden den Schrecken aller Ehefrauen, weil die Männer meistens sehr spät und fast immer in einer etwas sehr angeheiterten Stimmung zurückkommen. Kehre ich sehr früh und total nüchtern nach Haus, so wird meine Frau misstrauisch. Es hilft nichts, ich muss weiter trinken, obgleich der Wein schlecht und wie sich das von selbst versteht, schandbar teuer ist. Das ist nun mal der Fluch der bösen That, das meist sie kommt von einem schlechten Rat.”
Er winkte den Kellner herbei: „Denselben Vers noch einmal,” befahl er.
Der Wein kam, und während des Trinkens blickte Dr. Sieber auf die sich hin und her schiebende Menge, die bei der entsetzlichen Fülle vergebens nach einem freien Platz zum Tanz suchte.
Er kümmerte sich nur wenig um die Masken, die lachend und scherzend an ihm vorüber gingen und ihm zuweilen ermunternde Blicke zuwarfen. In der Laune, in der er sich selbst befand, begriff er nicht, wie man auf einem so langweiligen Fest überhaupt vergnügt sein könne.
„So ganz allein |
sang da eine heitere, lustige Stimme nach der Melodie der Fledermaus.
Fast zornig wandte er sich um, ein bunt schillernder Schmetterling stand vor ihm.
„Holder Falter, verbrenne Dir Deine Flügel und Deinen Mund nicht,” sagte er ärgerlich, „ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt.”
„Dann hättest Du zu Haus bleiben sollen,” gab sie lustig zur Antwort, „nur um zu zechen, kommt man doch nicht hierher, im übrigen geht es mich ja auch nichts an.” Und schnell eilte sie davon.
Er sah ihr nach, wie sie sich durch den dichten Schwarm wand, ihr buntes Gewand, die kleinen schillernden Flügel, die sie auf den Schultern trug, liessen ihn sie auch noch in der Ferne erkennen; sie war mittelgross, schlank und zierlich gewachsen. Das dichte schwarze Haar war in einen Knoten frisiert. Ihre Bewegung und ihr Gang verrieten eine natürliche Anmut.
Dr. Sieber hob die Flasche in die Höhe — sie war noch halbvoll.
„Mag der Kellner sie fortnehmen, mir soll es recht sein,” sagte er sich.
Langsam erhob er sich von seinem Platz und folgte den Spuren des Schmetterlings: „Wenn ich Glück habe, fliegt mir der kleine Käfer noch einmal in den Weg,” dachte er, „wenn nicht, werde ich auch nicht an gebrochenem Herzen sterben.”
Trotzdem suchte er mit den Augen nur sie, und endlich, nach fast einer halben Stunde, fand er sie, wie sie oben im Rang allein an einer Säule lehnte und auf die Paare zu ihren Füssen herabblickte.
„So ganz allein |
versuchte er zu singen. Er war kein grosser Sänger, und unmusikalisch wie er war, summte er die Strophen nach einer ganz falschen Melodie.
Sie wandte sich um und sah ihn lustig an, dann fragte sie etwas spöttisch: „Nun, haben Sie keinen Durst mehr?”
„Stets, stets,” gab er zur Antwort, „viele Gaben enthielten mir die Götter bei meiner Geburt vor, einen genügenden Durst nicht. Es schmeckt mir auch immer, nur dann nicht, wenn ich allein bin.”
„Und da haben Sie sich auf den Weg gemacht, um mich einzufangen?” fragte sie neckend, „da werden Sie aber wenig Glück haben.”
„Warum das,?” fragte er.
„Weil mein Herz nicht mehr frei ist,” erwiderte sie lustig, „ich liebe einen anderen, sehen Sie, dort geht er,” und sie zeigte auf einen kleinen, sehr dicken und sehr krummbeinigen Herrn, der in der Tracht eines Sultans an ihnen vorüberging.
„Der Geschmack ist verschieden,” erwiderte er: „Allah ist gross, Mohamed ist sein Prophet und Dallis Plättmaschine ist die beste, wenigstens behauptet das Frau Reklame, ein wahrheitsliebendes und unbestechliches Wesen. Aber wie ist es? Wollen wir stehen bleiben oder wollen auch wir versuchen, ob wir Platz für einen Walzer finden?”
Sie willigte ein und schritt an seinem Arm die grosse breite Treppe hinunter.
Nach den Klängen der Musik tanzten sie gleich darauf, so gut es bei der Fülle ging, und er war von neuem von der Anmut ihrer Bewegungen entzückt: „Weisst Du wohl, kleiner Falter?” fragte er, „dass Du Dein Kostüm gut wähltest? Kein Schmetterling kann leichter und behender flattern als Du!”
„Für einen Mönch tanzst auch Du gut,” gab sie zur Antwort, „ich wusste nicht, dass man in Deinem Kloster auch solche Leibesübungen betreibt, Du siehst überhaupt nicht so aus, als ob Du es mit den Bestimmungen allzu ernst nimmst. Welchem Orden gehörst Du an:?”
„Dem Roten Adlerorden vierter Klasse,” erwiderte er, „und ich befolge alle Regeln, die der Seniorenkonvent meines alten Korps mir vorschreibt, ich bin nie ein Spielverderber und faste alle Schaltjahr am neunundzwanzigsten Februar.”
„Dir wäre gesünder, es wäre jedes Jahr ein Schaltjahr,” sagte sie, „Du fastest zu wenig, Du scheinst etwas stark zu werden.”
„Taillenweite ein Meter zwanzig,” erwiderte er, „allerdings mit Dir kann ich mich nicht messen,” und fester legte er seinen Arm um ihre schlanke Taille.
„Du wirst verbrennen, schöner Schmetterling,” fuhr er nach einer kleinen Pause fort,„wir tanzen schon seit fünf Minuten unter dem Kronleuchter, die Hitze versengt Deine Flügel, Du wirst müde, ich merke es — lass uns eine stille Ecke suchen und durch Speise und Trank dem inneren Menschen auch ein Vergnügen bereiten.”
Der Zufall war ihnen günstig, sie fanden in einer Nische einen kleinen, leeren Tisch, der gerade nur zwei Personen Platz bot und ihnen sichere Aussicht gab, allein zu bleiben.
Er nahm seine Maske ab, und sie folgte auf sein Zureden seinem Beispiel; er sah in ein jugendfrisches, hübsches Gesicht mit leuchtenden, feurigen Augen.
„Nicht aus jeder Raupe entpuppt sich ein so hübscher Schmetterling, wie Du einer geworden bist,” sagte er, „mich wundert, dass nicht irgend ein Sammler Dich für immer einfing und Dich für alle Zeit in seinem Haus behielt.”
„Versucht hat es schon mancher,” sagte sie lustig, „aber es kam noch nicht der Rechte. Wer mich für immer haben will, der muss von mir geliebt werden. Einen Mann, den ich nicht wirklich liebe, heirate ich nicht, lieber bleibe ich frei.”
„Bravo,” lobte er und schenkte ihr den schäumenden Sekt in den Kelch, „Du hast recht, nichts ist schrecklicher, als eine unglückliche Ehe, davon kann ich viele Bände erzählen.”
„Das kommt davon,” sagte sie, „warum hast Du als Mönch das Coelibat überschritten und geheiratet?”
Er sah sie einen Augenblick verwundert an, dann lachte er plötzlich laut auf: „Ach so,” erwiderte er dann, „nun verstehe ich Dich erst, Du meinst, ich hätte von meiner eigenen Ehe gesprochen? Nun, da kannst Du ruhig sein, ich bin sehr glücklich. Was ich vorhin sagte, bezog sich darauf, dass ich in meiner Praxis sehr viel von unglücklichen Ehen höre, ich bin nämlich Rechtsanwalt.”
„Hier in Berlin,” fragte sie.
„Allerdings,” erwiderte er.
Sie schwieg einen Augenblick, dann fragte sie anscheinend ein klein wenig zögernd: „Kennst Du hier einen Rechtsanwalt Dr. Sieber?”
Ein Rechtsanwalt darf sich durch keine Frage aus seiner Ruhe und Sicherheit bringen lassen, so sagte er denn jetzt auch ganz ruhig und gelassen:
„Dr. Sieber, Dr. Sieber — allerings, dem Namen nach kenne ich ihn, ich glaube, ich bin auch einmal im Gericht mit ihm zusammen getroffen, wie sieht er doch noch aus?” Er beschrieb gerade das Gegenteil seiner eigenen Erscheinung: „Nicht wahr? Er ist sehr gross, schlank und blond?”
„Ich kenne ihn nicht,” erwiderte sie, „ ich kenne nur seine Frau.” Das Sektglas zitterte unwillkürlich in seiner Hand. Das hatte er nicht erwartet, das hätte nicht kommen dürfen.
Wer war seine Nachbarin? Jetzt erst fing er an, darüber nachzudenken, sicher war sie nicht von gewöhnlicher Herkunft, sie war klug und gebildet, hatte tadellose Manieren und benahm sich vollständig korrekt.
Wer war seine heitere und hübsche Gesellschafterin? Er wollte es wissen, und so fragte er anscheinend ganz gleichgültig: „Woher kennen Sie die Dame denn?”
Wieder schwieg sie einen Augenblick, dann sagte sie heiter: „Da Sie die Familie ja doch nicht kennen, mich also auch nicht verraten werden, kann ich es Ihnen ja ruhig anvertrauen; es ist auch weiter nichts Schlechtes und nichts Böses. Ich habe von morgen, vom 1. Februar an, bei Frau Dr. Sieber eine Stelle als Gesellschafterin angenommen.”
Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich an der Auster, die er soeben im Mund hatte, verschluckt.
Der Schreck lähmte ihn für einen Augenblick: da hatte er sich aber schön in die Nesseln gesetzt.
Sein erster Gedanke war, sich unter irgend einem Vorwand zu entfernen, sein zweiter, sich ihr vorzustellen und ihr sofort zu kündigen, denn unmöglich konnte er ein junges Mädchen ins Haus nehmen, mit dem er auf dem Maskenball Bekanntschaft geschlossen hatte.
„Was sage ich nur?” dachte er, „kein Arzt kann sich selbst behandeln, kein Rechtsanwalt seine eigene Sache führen.”
Er räusperte sich ein paar Mal, dann meinte er: „Wissen Sie, auf dies Geständnis Ihrerseits war ich nicht vorbereitet. Für eine Gesellschafterin hätte ich Sie nicht gehalten, Sie thun mir eigentlich leid, dass Sie eine so schwere Stellung annehmen müssen.”
Sie zuckte die Achseln: „Was soll man machen? Arbeit schändet ja niemanden. In meiner Jugend habe ich auch nicht gedacht, dass es noch einmal so kommen würde. Doch das gehört nicht hierher. Ich freue mich auf meine neue Stellung sehr, ich werde wie ein Familienmitglied gehalten, die Frau Doktor ist eine sehr liebenswürdige Dame, und er soll auch sehr nett sein.”
„Das stimmt, das stimmt,” pflichtete er ihr bei und setzte dann schnell hinzu: „Das stimmt vollständig mit dem überein, was ich über den Rechtsanwalt gehört habe, aber über die Frau sind Sie, nach allem, was ich weiss, ganz falsch unterrichtet.”
„Sie kennen die Frau nicht,” fuhr er fort, „aber ich kenne sie, ich will es Ihnen nur gestehen, dass ich mit der Familie sehr befreundet bin, d. h. mit ihm, denn mit ihr lässt sich überhaupt nicht verkehren. Die Frau ist nervös, wahnsinnig heftig, ungerecht in ihrem Urteil, herrisch, launisch, es ist nicht mit ihr auszukommen. Ich weiss, dass ihre jungen Mädchen, die sie sich als Gesellschafterin engagiert, es nie länger als höchstens drei Tage bei ihr aushalten.”
„Ist das wahr?” fragte sie ganz entsetzt.
Er schämte sich und sein schlechtes Gewissen veranlasste ihn, auch sich selbst etwas schlecht zu machen; so sagte er denn, ohne ihre Frage direkt zu beantworten: „Das schlimmste ist, dass der Mann bei jedem Streit, soweit es sich um Angestellte in dem Hause handelt, stets auf seiten der Frau steht. Ich rate Ihnen deshalb dringend, nehmen Sie die Stelle nicht an — nach drei Tagen sind Sie doch entlassen, und zur Empfehlung für die Zukunft dient Ihnen das nicht.”
Einen Augenblick schien sie noch ganz verwirrt, dann sagte sie: „Ich danke dem Zufall, der uns hier zusammenführte. Wie ich hierher kam, interessiert Sie ja weiter nicht — ich wollte eine Freundin, bei der ich wohne, begleiten und musste schliesslich allein gehen. Was Sie mir gesagt haben, soll nicht umsonst gewesen sein — Gott sei Dank geht es mir nicht so schlecht, dass ich jede Stellung anzunehmen brauche, ich werde gleich morgen früh der Frau Doktor abschreiben. Verklagt kann ich deswegen hoffentlich nicht werden?”
„Das allerdings,” gab er zur Antwort, „aber Frau Dr. Sieber klagt nicht, die ist es schon gewöhnt, dass ihre jungen Mädchen im letzten Augenblick streiken. Eins aber möchte ich Sie noch bitten: sagen Sie in Ihrem Briefe nicht, dass Sie Ihre Kenntnisse einem Kollegen des Rechtsanwaltes Dr. Sieber verdanken — selbstverständlich müsste Sieber nach mir recherchieren, und ich käme dann vielleicht in des Teufels Küche.”
„Wo Sie als frommer Mönch sich wenig oder garnicht glücklich fühlen würden,” sagte sie lustig, „aber seien Sie ruhig, meiner Diskretion können Sie sicher sein.”
Es war verhältnismässig noch früh, als sie beide aufbrachen, um ihre Wohnungen aufzusuchen. Doktor Sieber fühlte sich, seitdem er wusste, wer der Schmetterling war, in seiner Nähe etwas recht sehr ungemütlich, und er war glücklich, als er die Hausthür hinter sich abgeschlossen hatte und sich in seinem schönen, reich eingerichteten Haus befand.
„Was wird meine Frau sagen, wenn das junge Mädchen morgen oder, richtiger gesagt, heute Mittag nicht kommt? Sie wird, nervös wie sie ist, rasen.”
Und er behielt recht: sie raste vor Zorn und Aerger wirklich, und sie beruhigte sich erst, als auch ihr Gatte das Benehmen der Gesellschafterin unerhört fand und sofort eine Strafanzeige gegen die Sünderin zu erlassen versprach.
Am Abend desselben Tages schenkte der Rechtsanwalt seiner Frau einen mit kleinen Perlen und Diamanten besetzten Schmetterling, den sie sich schon lange als Haarschmuck gewünscht hatte.
„Wie kommst Du nur dazu?” fragte sie auf das höchste verwundert, „ich bin ganz starr über Deine Freigebigkeit, wie kommst Du nur dazu?” — — —