Der schlaue Oberst.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 15.Nov. 1905 und
in: „Seine Hoheit”


Der neue Oberst war ein ganz Schlauer, wenigstens behauptete er das beständig von sich selbst und er mußte es ja wissen: „Meine Herren, ich sehe alles! Meinem Scharfblick entgeht nichts, ich errate Ihre geheimsten Gedanken, mir macht kein Mensch ein X für ein U, wer mich irgendwie täuschen will, der muß noch viel früher aufstehen als ich. Und ich gehe unter Umständen überhaupt nicht zu Bett. Es gibt vielleicht, aber auch nur vielleicht, meine Herren, einen Regiments­kommandeur, der noch tüchtiger, geistig noch bedeutender ist als ich es bin, aber jemand, der noch schlauer ist als ich es bin, das gibt es nicht.”

So lobte der Oberst sich nach jeder Offiziers­verasmmlung und seine Zuhörer mußten ihm, wenn auch zähneknirschend und in ohnmächtiger Wut, recht geben. Der Oberst hatte eine Spürnase, die jedem Jagdhund zur Ehre gereicht hätte, ja, ein Leutnant hatte einmal allen Ernstes den Vorschlag gemacht den Kommandeur auf eine Ausstellung zu schicken, und ihn dort prämiiren zu lassen. Das hätte, von allen anderen Dingen ganz abgesehen, wenigstens den Vorteil, daß man ihn endlich einmal auf ein paar Tage los würde. Es war wirklich schrecklich mit ihm. Nicht etwa, als wenn er den ganzen Tag in der Kaserne herumgelungert hätte, nein,(1) das nicht, aber wenn er kam, dann kam er gerade stets dann, wenn man ihn am allerwenigsten gebrauchen konnte.

„Wenn man doch dem Oberst auch einmal einen Streich spielen könnte,” dachten die Leutnants. „Gewiß, es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, unseren Dienst so gut wie möglich zu tun, aber so 'mal irgendwie über die Stränge zu schlagen, statt einer ganzen Stunde nur einmal eine halbe zu instruieren, die Leute bei dem Exerzieren etwas eher wegtreten zu lassen, und was dergleichen Harmlosigkeiten mehr sind, das gehört nun doch einmal mit dazu. Die treue Pflichterfüllung allein, von der die Kriegsartikel beständig reden, macht den Menschen auch nicht froh und glücklich.”

Ganz besonders hatte der Leutnant von Frege den Wunsch, seinem neuen Oberst einmal einen Streich zu spielen oder diesen trotz seiner Spürnase wenigstens einmal an der Nase herumzuführen. Er war der Liebling des Regiments, aber zugleich auch der Windhund des Offizierkorps, und so kam es, daß derjenige Hauptmann, zu dessen Kompagnie er kommandiert war, nie wußte, ob er sich über diese Acquisition freuen oder ärgern sollte. Als Gesellschafter, auf dem Marsch, im Manöver, bei großen Übungen im Biwak konnte man sich keinen besseren Kompagnie-Offizier wünschen, aber für den Dienst? Das war eine zweite Sache. Der gute Frege kam immer zu spät und hörte dafür regelmäßig immer eine Viertelstunde eher auf, damit sich die Zeit ausgleiche(2), und wenn der Vorgesetzte ihm dann grob werden wollte, dann brachte der das gar nicht übers Herz, denn(3) dem guten Frege war noch nie einer grob geworden, man ermahnte ihn höchstens, sich in Zukunft zu bessern. Aber diese Ermahnungen fielen stets auf einen mehr als unfruchtbaren Boden, und da das jeder wußte, gab man schließlich auch das Ermahnen auf.(4)

So hatte denn Leutnant von Frege glücklich und zufrieden gelebt, bis der neue Oberst kam, und an dem Tage war mit ihm eine große Veränderung vorgegangen, er war plötzlich der pflichtgetreueste Offizier des Regiments geworden, nicht etwa aus Überzeugung, sondern nur, weil er dem Kommandeur die Freude nicht gönnen wollte, auch ihn einmal irgendwie hineinzulegen oder bei einem Dienst­versäumnis zu überraschen. Und er hatte allen Grund, auf der Hut zu sein, denn der Oberst hatte es auf ihn ganz besonders abgesehen, schon deshalb, weil er es ihm deutlich anmerkte, daß er sich nur verstellte. Aber trotz alledem war es ihm noch nie gelungen, den braven Frege zu erwischen, der schien noch schlauer zu sein als er selbst. Und so ärgerte sich der Oberst über seinen Leutnant, und dieser ärgerte sich über seinen Vorgesetzten, er hatte absolut keine Lust, bis in die Ewigkeit mit der größten Gewissenhaftigkeit seinen Dienst zu tun, schon deshalb nicht, weil seinem offenen, ehrlichen Wesen diese Verstellung auf die Dauer zuwider war. Er sah es ein: so ging es nicht länger weiter, er mußte irgend ein Mittel finden, der fortwährenden Kontrolle des Kommandeurs zu entgehen, und er mußte den Oberst dahin bringen, daß dieser ihn wirklich für einen mehr als pflichtgetreuen Offizier hielt.

Da geschah es, daß der Oberst eines Tages seinen versammelten Offizieren die Mitteilung machte, daß er zwar prinzipiell nicht auf Urlaub zu gehen pflege, wie sie es wohl schon bemerkt haben würden (und sie hatten es bemerkt), daß aber dienstliche Gründe ihn dennoch zwängen, auf fünf Tage nach Berlin zu fahren, und daß so lange der Herr Oberstleutnant die Führung über das Regiment übernehmen würde.

„Nur fünf Tage, das war eine kurze Frist, aber trotzdem sprach deutlich aus(5) allen Gesichtern die Freude, den Kommandeur wenigstens so lange loszuwerden. Der Oberstleutnant war ein jovialer Herr, der würde sie nicht stören, der würde schon beide Augen zudrücken, wenn sie es in diesen Tage mit dem Dienste etwas weniger gewissenhaft nähmen. Der Oberst bemerkte deutlich den Eindruck, den seine Worte hervorriefen, nur Leutnant von Frege stand da, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Seine Mienen sagten deutlich: Ob du da bist oder nicht, was liegt daran, Dienst ist Dienst. „Sollte ich mich doch in ihm getäuscht haben?” dachte der Vorgesetzte. Dann fuhr er fort: „Ich werde morgen, Dienstag, früh um sechs Uhr fünfzehn mit dem Schnellzug nach Berlin fahren und am Sonnabend nachmittag um vier Uhr zweiunddreißig hier wieder eintreffen. Während dieser Zeit ist der Posten vor meinem Hause natürlich einzuziehen.” Dann gab der Kommandeur der Hoffnung Ausdruck, bei seiner Rückkehr alle Herren im besten Wohlsein wieder anzutreffen, und gleich darauf(6) waren diese entlassen.

Wie eine wilde Horde stürzten gleich darauf die Leutnants ins Kasino. Der Oberst ging fünf Tage auf Urlaub! Sie kamen sich wie Schulkinder vor, deren Lehrer für ein paar Tage verreist. Und da man die Feste feiern muß, wie sie fallen, feierten sie ganz gehörig und als bald darauf die(7) Hauptleute ins Kasino kamen, feierten diese mit. „Na, Kinder, nun könnt Ihr morgen 'mal ausschlafen,” wandten sie sich freundlich an ihre Leutnants(8), „um halb sieben fängt die Instruktiosstunde an, da ist der Oberst längst über alle Berge und da können ausnahmsweise 'mal die Unteroffiziere instruieren. Offiziell habt Ihr dabei die Aufsicht, aber ob Ihr kommt oder nicht, uns ist es einerlei. Was ich nicht seh' und nicht weiß, macht mich nicht heiß.”

Es war spät, als die Leutnants an diesem Abend endlich zu Bett gingen, denn morgen konnten sie einmal ausschlafen. Daß man nicht zur Instruktions­stunde kommen würde, war ja ganz klar, denn was ein guter Dienst ist, der beaufsichtigt sich nach einem alten Worte von ganz alleine. Demgemäß wollten alle handeln, der Oberst war ja weit weg, der würde nichts davon erfahren.

Aber der Oberst hätte nicht seine berühmte Nase haben müssen, wenn er es nicht im voraus gewittert hätte, daß die Beaufsichtigung der Instruktions­stunde morgen eine sehr mangelhafte sein würde, obgleich er ausdrücklich befohlen hatte, daß die Offiziere selbst dann von A bis Z beim Dienst zugegen sein sollten, wenn sie diesen nicht selbständig leiteten, sondern nur beaufsichtigten.Und daß man die Gelegenheit, sobald er den Rücken gekehrt hätte, benutzen würde, ihm eine Nase zu drehen und nichts das zu tun, was man sollte, sondern lediglich das, was man wollte, das ärgerte ihn ingrimmig. Am liebsten hätte er die ganze Reise aufgegeben, aber er hatte dienstlich(9) in Berlin zu tun, und Dienst ist Dienst.

So fuhr der Oberst denn am nächsten Morgen zur Bahn, aber als er dort ankam, erlebte er eine Enttäuschung; der Zug ging nicht um sechs Uhr fünfzehn, sondern erst um sechs Uhr einundfünfzig. Wie sich herausstellte, war der Irrtum dadurch entstanden, daß er anstatt des Winterfahrplans(10) den Sommerfahrplan nachgesehen hatte. Was nun? Eine halbe Stunde und länger in dem kalten, ungemütlichen Wartezimmer sitzen? Da kam ihm ein Gedanke: in zehn Minuten konnte er mit seinem Wagen in der Kaserne sein, zehn Minuten brauchte er zurück, so hatte er eine ganze Viertelstunde Zeit, um sich davon zu überzeugen, wie seine Offiziere in seiner Abwesenheit den Dienst abhielten oder besser gesagt: nicht abhielten. Dem Entschluß ließ er die Tat folgen, und so schnell es ging, fuhr er zur Kaserne. Als der Posten plötzlich den beurlaubten Oberst vor sich sah, vergaß der(11) vor Erstaunen ganz, „Heraus” zu rufen, aber das störte den Vorgesetzten nicht; er stieg die Treppe(12) hinauf und revidierte die Kompagniereviere. Überall hatte der Dienst schon begonnen, aber von den Leutnants war noch weniger als gar nichts zu sehen. „Na wartet,” dachte er. „Laßt mich nur erst vom Urlaub zurück sein, dann will ich Euch meine Meinung schon sagen!”

Er ging weiter und weiter, aber nirgends war von einem Leutnant auch nur die leiseste Spur zu entdecken. Jetzt kam er zur letzten Kompagnie, zur zwölften. Da war Leutnant von Frege Rekrutenoffizier. „Na, wenn der da ist, lasse ich mich totschießen,” dachte der Oberst. Aber das Gute hat der heutige Tag wenigstens, daß ich auch den endlich 'mal erwische. Lange genug hat's gedauert — aber nun habe ich ihn.”

Aber er hatte ihn doch nicht, denn als er das Revier der zwölften betrat und die Tür einer Mannschaftsstube öffnete, stand Leutnant von Frege da und beaufsichtigte den Dienst.

Der Oberst machte ein entsetzlich dummes Gesicht, aber der Leutnant tat, als bemerke er das gar nicht, er stattete seine Meldung ab und wandte dann seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem Dienst zu. Der Oberst war immer noch starr, der wußte gar nicht, was er sagen sollte, aber sagen mußte er doch etwas, so winkte er denn den Offizier auf den Korridor hinaus: „Eins möchte ich nur wissen — sagen Sie mir, wie kommen Sie denn hierher? Noch dazu, wo Sie doch wissen, daß ich eigentlich schon verreist sein müßte?”

Leutnant von Frege sah den Vorgesetzten an, als begriffe er diesen gar nicht. Dann sagte er endlich: „Aber, Herr Oberst, Dienst ist doch Dienst.”

Der Kommandeur biß sich auf die Lippen; zu spät sah er ein, daß seine Frage vorhin nicht ganz richtig gewesen sei. „Gewiß, Dienst ist Dienst,” wiederholte er ganz mechanisch, dann fuhr er fort: „Na, mich freut es, Herr Leutnant, daß Sie wenigstens pflichtgetreu sind. Ich muß Ihnen offen gestehen, ich habe Ihren Diensteifer früher nie für ganz aufrichtig gehalten, aber ich sehe ein, daß ich Ihnen unrecht tat.”

Er schüttelte dem Offizier die Hand, dann fuhr er zur Bahn, und auch im Kupee sagte er sich immer wieder: „Wie habe ich dem armen Frege nur so unrecht tun können! Ich will es in Zukunft dadurch wieder gut machen, daß ich fortan jede Kontrolle über ihn einstelle; ich weiß jetzt, auf den kann ich mich auch so verlassen, und einem wirklich pflichtgetreuen Offizier raubt man nur die Freude am Dienst, wenn man ihn beständig überwacht. Früher, unter meinem Vorgänger, muß er ja allerdings mehr als ein Windhund gewesen sein, aber jetzt hat er sich wirklich sehr zu seinem Vorteil verändert, er ist gar nicht mehr wiederzuerkennen. Und ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich diese Umwandlung, die der Leutnant durchgemacht hat, einzig und allein meinem erzieherischen Einfluß zuschreibe.”

Und dieser Gedanke erfüllte ihn mit einem stillen Glücksgefühl, er war ordentlich stolz auf sein Erziehungsresultat, und er schloß den Leutnant von Frege plötzlich derartig in sein Herz, daß er allen Ernstes darüber nachdachte, ob er ihm nicht eine Kleinigkeit aus Berlin mitbringen sollte.

Und doch hatte er in Wirklichkeit gar keinen Grund, auf seine Erziehung irgendwie stolz zu sein, er brauchte dem Leutnant auch gar nichts mitzubringen, denn der war im Grunde seines Herzens noch genau derselbe Windhund, der er früher gewesen war. Und wenn er trotzdem heute morgen als einziger Offizier des Regiments pünktlich zur Instruktions­stunde dagewesen war, so lag das lediglich daran, daß auch er im Kursbuch nachgesehen hatte, wann der Zug nach Berlin ginge, und er war so schlau gewesen, anstatt im falschen, gleich im richtigen nachzuschlagen.


Fußnoten:

(1) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” fehlt das Wort „nein”. (Zurück)

(2) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es „ausgliche”. (Zurück)

(3) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es „so war dem guten Frege”. (Zurück)

(4) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „gab man es schließlich auf, ihn zu ermahnen”. (Zurück)

(5) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißte es: „auf”. (Zurück)

(6) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „und dann”. (Zurück)

(7) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „auch die”. (Zurück)

(8) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „wendeten sie sich freundlich zu ihren Leutnants”. (Zurück)

(9) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „hatte ja dienstlich”. (Zurück)

(10) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „den Winterfahrplan”. (Zurück)

(11) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „vergaß er”. (Zurück)

(12) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” heißt es: „die Treppen”. (Zurück)


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