Ein Schlag.

Skizze von Freih. v. Schlicht.
in: „Grazer Tagblatt” vom 28.11.1895,
in: „Der Sammler.”
Belletristische Beilage zur Augsburger Abendzeitung
64. Jahrgang 1895, Nr. 150, Seite 5 - 6,
in: „Neues Wiener Journal” vom 6.6.1899 und
in: „Ein Ehrenwort”


Udo Freiherr von Gleichen, Lieutenant im XtenInfanterie-Regiment, saß im eleganten Zivil im Coupé zweiter Klasse und fuhr mit dem Schnellzuge nach seiner Garnison zurück. Der junge Offizier befand sich in der glücklichsten Stimmung, und die helle Freude strahlte aus seinen großen schönen Augen. Das, wonach er seit Monaten gestrebt, hatte sich heute erfüllt, der Traum vieler Wochen war endlich Wirklichkeit geworden. Melanie, die Tochter seines Divisionskommandeurs, hatte eingewilligt, ihm anzugehören und die Seine zu werden. Heimlich war er heute in der Ungeduld seines Herzens nach der nahegelegenen Garnisonstadt gefahren, um die Geliebte zu sprechen, und morgen wollte er vor ihren Vater hintreten und in aller Form um ihre Hand anhalten. Er wußte, sie würde ihm nicht verweigert werden, der General hatte in früheren Perioden stets wie ein Vater an dem jungen Offizier gehandelt, ihm sein Haus gastfrei geöffnet und Freude an dem um viele Jahre jüngeren, aber talentvollen und fleißigen Kameraden gefunden. Gewiß, mit offenen Armen würde er ihn aufnehmen. War er auch unbemittelt, so war er doch frei von Schulden, und das große Vermögen seines zukünftigen Schwiegervaters würde ihm eine sorglose Zukunft gestatten. Mit einer nur geringen Zulage hatte er sich tapfer die Jahre hindurchgekämpft, aber er war einer der Wenigen gewesen, die es verstehen, mit geringen Mitteln viel zu machen und den Schein zu erwecken, als wenn ihnen Geldsorgen fremd seien. Die vielen Entbehrungen, die er sich daheim hatte auferlegen müssen, waren sein Geheimniß, was kümmerte es die Anderen, wie er zu Hause lebte? Und seine alte Mutter, deren einziges Kind und deren einzige Freude er war, wie würde sie glücklich sein über das Loos, das ihrem Kinde zu Theil geworden war. Wie war er glücklich, daß er nun vor sie hintreten konnte und sagen: „Mutter, ich brauche Deine Hilfe nicht mehr, was Du mir gabst, was Du Dir abspartest an Deinem Munde, behalte und verwende es nun für Dich, mache Dir selbst jetzt das Leben angenehmer und bequemer.” Ihr sollte die große Nachricht zukommen, noch heute Abend wollte er ihr sein Glück verkünden.

Der Schnellzug hielt, man mußte auf einen anderen Zug, der sich verspätet, auf der Station warten, wohl zehn Minuten konnten vergehen, ehe die Reise weiterging. Er entstieg seinem Coupé und begab sich in das Telegraphenamt, um die Depesche an seine Mutter aufzugeben. Als er den Wagen wieder betrat, war er von Reisenden besetzt, und auch sein Platz, den er beim Heraussteigen mit seinem Paletot belegt hatte, war von einem anderen Passagier eingenommen worden, für ihn selbst war in dem Coupé kein Raum mehr vorhanden. Mit einer höflichen Verbeugung näherte er sich dem Unbekannten: „Mein Herr, ich bitte Sie freundlich, mir meinen Sitz wieder einzuräumen, ich hatte ihn mit meinem Mantel, den Sie dort oben in das Netz geworfen haben, belegt.”

Mit einem höhnischen Ausdruck sah ihn sein Gegenüber an: „Das kann hinterher Jeder sagen.”

„Nein, das kann nicht Jeder sagen, wenn er bei der Wahrheit bleiben will.”

„Nun, streiten wir nicht weiter darüber,” erwiderte der Angeredete, „Sie sehen ja,nun sitze ich hier und denke nicht daran, Ihretwegen wieder aufzustehen.”

In dem Offizier brauste der Zorn auf: „Mein Herr, ich finde Ihr Benehmen, gelinde gesagt, dummdreist.”

Der Reisende entgegnete nichts, aber — eine schallende Ohrfeige fiel auf Udo von Gleichen's rechte Wange. Der Offizier taumelte zurück, dann griff er instinktiv an seine linke Seite, um den Degen zu ziehen, bis er sich besann, daß er in Zivil sei. Sein erster Gedanke war, sich auf sein Gegenüber zu stürzen und ihn mit seinen Händen zu erwürgen, aber die anderen Fahrgäste mochten seine Absichten errathen und hielten ihn zurück. Und dann, durfte er sich als Offizier in einen rohen Faustkampf einlassen? Er wandte sich an die Uebrigen: „Meine Herren, Sie Alle sind Zeugen gewesen von dem Benehmen dieses Herrn. Es könnte sein, daß ich gezwungen werde, Ihr Zeugniß zu gebrauchen, und ich hoffe, daß Sie mir dies dann nicht verweigern werden. Und von Ihnen mein Herr,” fuhr er mit erhobener Stimme fort, „erwarte ich, daß Sie mir Genugthuung geben werden; hier ist meine Karte.”

Der Andere lachte kurz auf: „Ich bin absolut nicht neugierig und sehne mich gar nicht danach, Ihren Namen zu erfahren.”

„Sie werden mir Genugthuung geben,” knirschte Udo von Gleichen.

„Aber, lieber Herr, ich denke absolut nicht daran, wie sollte ich wohl dazu kommen?”

„Wenn Sie ein Ehrenmann wären, würden Sie solche Frage nicht stellen.”

„Junger Mann,” erwiderte der Angeredete kurz, „ich habe weder Zeit noch Lust, Ihnen hier auseinanderzusetzen, daß man ein Ehrenmann sein kann und doch keine Satisfaktion zu geben braucht. Ich bin verheirathet, habe Frau und Kinder, die von meinem Gehalt leben, und somit verspüre ich absolut keine Neigung, mir von Ihnen eine Kugel zwischen die Rippen jagen zu lassen. Und hiermit ist die Sache für mich erledigt.”

Dabei lehnte er sich in die Kissen zurück, zündete sich eine Zigarre an und schaute, als wenn Nichts vorgefallen, zum Fenster hinaus. Die Wagenthüren wurden zugeschlagen und Udo von Gleichen mußte sich beeilen, um noch in einem anderen Coupé einen Platz zu bekommen. Vernichtet sank er in die Ecke zurück: Wie war das Alles so plötzlich, so jäh gekommen? Wie sollte es nun weiter werden? Nie und nimmer durfte er als Offizier die Schmach auf sich sitzen lassen, er war verloren, wenn es ihm nicht gelang, den Gegner zu einem Duell zu zwingen. Das Glück, das ihm soeben zu Theil geworden, die glänzende Zukunft, die er sich ausgemalt, Alles, Alles war mit einem Schlage vernichtet. Nie und nimmermehr würde sein Offizierkorps, würden seine Kameraden ihn länger unter sich dulden, er mußte seinen Abschied nehmen, und was dann? Das war die Frage, auf die er keine Antwort fand. Er hatte das Kadettenkorps nach glänzend bestandenem Examen verlassen; aber die dort erworbenen, für seinen jetzigen Stand genügenden und geeigneten Kenntnisse reichten in dieser Zeit, wo überall höhere Anforderungen denn je gestellt werden, nicht mehr aus, das fühlte und wußte er nur zu genau. Was sollte er beginnen? Vermögen besaß er nicht, die geringe Zulage, auf die er soeben in der Freude seines Herzens großmüthig verzichtet hatte, hörte bei dem Tode seiner Mutter auf, und wie schnell könnte dieser Fall bei ihrem hohen Alter eintreten? Und Melanie? Wie sollte er ihr wieder gegenübertreten, ihr, die in dem strengen Grundsatz ihres Vaters erzogen war, daß der höchste Besitz jedes Menschen seine Ehre sei und daß besonders der Mann mit dieser lebe und falle? Würde sie ihm auch fernerhin, da ihm seine Ehre genommen, für würdig erachten, der Ihrige zu werden? Nein! Aber selbst wenn diesesmal die Liebe den Sieg über ihre Ansichten davontrüge, nie würde ihr Vater ihn aufnehmen, ihn, der leichtsinnig seine Ehre auf's Spiel gesetzt hatte. Leichtsinnig! Hätte er den Zorn niederzukämpfen verstanden, hätte er das Wort, das den Anderen beleidigte, heruntergeschluckt, hätte er stillschweigend dem Unbekannten seinen Platz überlassen — Alles wäre so schön und verheißungsvoll geblieben wie es war. Dazu kam, daß er ohne Urlaub, dem Verbot entgegen, nicht in Uniform war, daß er seine Waffe, mit der er sich auf der Stelle hätte Genugthuung verschaffen müssen, nicht zur Hand hatte, daß er wehrlos jeglichem Angriff ausgesetzt gewesen war. Einen Ausweg gab es nur: sein Gegner mußte sich ihm stellen oder er hatte zu wählen zwischen dem Alles sühnenden Tod und einem unehrenvollen Abschiede.

Der Schnellzug hielt, Udo von Gleichen war am Ziel. Er sprang aus dem Coupé und stürzte auf einen der auf dem Bahnhof anwesenden Polizeibeamten zu, der ihn erkannte und grüßte. Mit fliegenden Worten setzte er ihm seinen Wunsch auseinander, stand doch Alles für ihn auf dem Spiel, und wenige Minuten später überreichte ihm der Beamte ein Blatt Papier, auf dem Name und Wohnung seines Feindes verzeichnet waren.

Noch an demselben Abend suchte Lieutenant von Gleichen ein Mitglied seines Ehrenrathes auf und setzte ihn von dem Vorfall in Kenntniß. Traurig schüttelte der um einige Jahre ältere Kamerad den Kopf: „Wenn Sie nur nicht dem erst kürzlich wieder erlassenen Verbot entgegen sich in Zivil befunden hätten . . . Ich weiß, was Sie sagen wollen: Jeder Andere hätte an Ihrer Stelle genau ebenso gehandelt, und es ist Ihr persönliches Unglück, daß Sie gerade heute mit einem solchen Menschen zusammentreffen mußten. Wer sich muthwillig in Gefahr begibt, setzt sich immer der Möglichkeit aus, darin umzukommen. Nun, ich will Ihnen ein warmer Fürsprecher sein und versuchen, was in Menschenmacht steht, um Sie sich selbst und uns Allesn zu erhalten.”

Am nächsten Mittag wurde er zu seinem Kommandeur befohlen: „Ich habe durch den Ehrenrath erfahren, was Ihnen gestern Abend zugestoßen ist. Es thut mir Ihret- und unseretwegen leid, daß so etwas hat vorkommen können. Daß es überhaupt möglich war, liegt lediglich daran, daß Sie sich in Zivil heimlich aus der Garnison entfernt haben. Ich will Ihnen, soweit es in meiner Macht liegt, Gelegenheit geben, Ihre Ehre wieder herzustellen, ich bewillige Ihnen drei Tage Urlaub, suchen Sie Ihren Gegner auf, bewegen Sie ihn auf irgend eine Art und Weise, sich mit Ihnen zu schießen, einen anderen Ausweg weiß ich nicht für Sie.”

Voller Hoffnungen fuhr Lieutenant von Gleichen ab, um drei Tage später unverrichteter Sache wieder heimzukehren. Weder Bitten noch Drohungen hatten den Fremden zu der Annahme eines Duells zu bewegen vermocht. Udo von Gleichen stellte sich dem Ehrengericht, das zusammenberufen wurde, „um den Akten und Gesetzen gemäß Recht zu sprechen, ohne Ansehen der Person.” Die Frage: „Kann ein Offizier, der sich leichtsinnigerweise Beleidigungen ausgesetzt hat und öffentlich gemißhandelt worden ist, und der seinen Gegner nicht sofort niedergeschlagen hat, fernerhin Offizier bleiben?” wurde mit Stimmeneinheit verneint.

„Schuldig der Gefährdung der Standesehre unter erschwerenden Umständen, mit Beantragung der Bewilligung des schlichten Abschieds unter Entfernung aus dem Offizierstande” lautete das Urtheil, das gefällt wurde und gefällt werden mußte.

*     *     *

In einem kleinen Mansardenstübchen hoch oben, dicht unter dem Giebel, sitzt ein junger, äußerst ärmlich und dürftig gekleideter Mensch, für einen Augenblick die Feder niederlegend, mit der er als Schreiber kümmerlich sein Leben fristet. Mit klingendem Spiel zieht das Regiment vorüber, er blickt hinab in die frischen, heiteren Mienen der Soldaten, in die sorglosen Gesichter der Offiziere, eine tiefe Sehnsucht nach vergangenen glücklichen Tagen bemächtigt sich seiner, und schwere Thränen rollen ihm über die Wangen . . .


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