Der lebenslustige Schimmel.

Heitere Soldaten-Geschichte von Graf Günther Rosenhagen/Freiherr von Schlicht,
in: „Deutscher Soldatenhort”, Band 4, 1893, S. 307 und
in: „Militaria”


Wir saßen in der Dorfschänke zusammen, Gutsbesitzer, Pächter und Hofbesitzer, und unterhielten uns von diesem und jenem, von den Äckern, Wiesen und Feldern und dem Viehbestand. Namentlich das letzte Thema wurde eifrigst behandelt, spielen doch Kühe und Pferde in dem Leben eines Landmannes eine wichtige Rolle, ist doch so mancher tüchtige Landwirt schon daran zu Grunde gegangen, wenn(1) Krankheit und Seuchen unter seinen Tieren wüteten. Wir versuchten in dem Gespräch der Ursache auf den Grund zu gehen und stritten uns lang und breit darüber hin und her.

„Meine Herren, ich will Ihnen man sagen, daß das Gerede über die Krankheits­erscheinungen und über die verschiedenen Medikamente gar keinen Zweck nicht hat. Wenn so'n Tier krank ist und sterben soll, dann kann man daran soviel herumdoktern wie man will, es stirbt doch; und wenn man aus irgend einem Grunde seinem Leben ein Ende machen will und es ist vom Schicksal bestimmt, daß es noch nicht sterben soll, dann können Sie sich alle Mühe geben, so'n Tier bleibt doch am Leben.”

Es war der uns allen wohlbekannte Inspektor Grotkopp, der mit bedächtiger Ruhe also gesprochen hatte und nun einen Sturm der Entgegnungen hervorrief.

„Grotkopp, wie können Sie so etwas behaupten. Lassen Sie das keinen Tierarzt hören, der würde Ihnen vorkommenden Falles seine Hilfe verweigern.”

„Kann er gerne thun. Einmal hab' ich nur in meinem ganzen Leben mich an einen Tierarzt gewandt, einmal und nicht wieder. Das war 'ne ganz sonderbare Geschichte.”

„Na, dann erzählen Sie mal los,” wurden verschiedene Stimmen laut.

Der alte Grotkopp setzte sich seine mit Silber beschlagene Meerschaumpfeife wieder in Brand und ließ sich sein leeres Grogglas von neuem füllen.

„Ich hatte früher einmal einen Schimmel. Meine Herren, so'n Pferd giebt es auf der ganzen Welt nicht wieder. Weit bin ich in der Welt herumgekommen, bin auf vielen Gütern und Gestüten gewesen, ich habe viele Pferde gesehen und besessen, aber so'n Pferd wie den Schimmel, — nein, den giebt's nur einmal. Ich kann Ihnen sagen fünfjährig, drei Zoll, tadellos auf den Beinen, famose Gangart, schöne Kopfhaltung, ein Pferd wie 'ne Puppe. Es war ein Reitpferd, hatte ihn mir gekauft als ich noch junger Verwalter war, so 67 oder 68. Da kam der Krieg 70 und ich mußte mit, hatte als Einjähriger gedient bei der Kavallerie und war Vicewachtmeister. Ich mußte mit und mein Schimmel ging mit, hätt's nicht ausgehalten ohne ihn. Drei Jahre lang hatte ich ihn täglich geritten und nun, wo es zum Reiten kam auf Leben und Tod, hätt' ich mich auf einen anderen Gaul setzen sollen? Nie und nimmermehr. Zusammen ritten wir nach Frankreich und treu hat er mich an mancher Gefahr und an mancher Kugel vorbeigetragen.

Meine Herren, am 16. August, der Schlacht von Mars-la-Tour, da kamen wir gründlich zum Pelzwaschen; weiß es noch wie heute und sind doch schon fünfundzwanzig Jahr(2). Den ganzen Vormittag hatten wir abgesessen und zugesehen wie die Infanterie und Artillerie allein sich herumschossen, wollten so gern mitmachen, aber konnten und durften nicht. So ward's Mittag, da fing die Sache an für unsere Truppen gefährlich zu werden. Hilfe mußte ihnen gebracht werden, immer neue französische Infanterie­regimenter rückten heran, sie mußten in ihrem Vormarsch aufgehalten werden, sonst war die Schlacht für uns verloren. Da erhielten wir den Befehl zur Attacke. Es ging auf Leben und Sterben, das wußte und sah jeder, dem sicheren Untergang ging es entgegen, aber keiner empfand Furcht: „Aufgesessen! Säbel 'raus,” dann setzte sich der General Bredow an die Spitze: „Zur Attacke, Marsch, Marsch, Hurra!” und wie ein Donnerwetter sausten wir über die Ebene, hinein in die französischen Kolonnen. Es war ein verteufelter Ritt, so viele der Kameraden sanken von der Kugel getroffen, so viele Pferde der Freunde stürzten in der wilden Jagd und begruben ihre Reiter unter sich — aber mich trug mein Schimmel im ruhigen Galopp heran an den Feind und mit seinen Hufen brach er sich Bahn durch den Menschenknäuel. Da aber kamen die französischen Kavallerie­regimenter herangebraust, wie der Blitz fuhren sie auf uns los.

„Schimmel,” sprach ich zu meinem treuen Gaul, „wenn du das Kunststück fertig bringst, mich da heil hindurch zu tragen, ohne zu fallen und zu stolpern, dann will ich's dir gedenken und danken dein Leben lang.” Und er thut's. Im dichtesten Gewühl und Handgemenge sind wir gewesen, Menschen und Reiter wälzten sich auf dem Boden, aber mein Schimmel glitt und strauchelte nicht und brachte mich unversehrt wieder zurück. Da hab' ich es ihm gelobt, ich wollt' ihm das Gnadenbrot geben bis an seinen letzten Tag, mich nie und nimmer von ihm trennen und ihn pflegen und hüten wie meinen besten Freund. Hab's gehalten achtzehn Jahr, keine schwere Arbeit hat er thun dürfen, das beste Fressen hat er bekommen, hab ihn selbst gefüttert Tag aus Tag ein und ihn keinem anderen anvertraut. Aber es nutzte nichts, es kam doch die Stunde, wo er nach meiner Meinung sterben wollte und wir uns trennen sollten. Ich kam des Morgens herunter in den Stall, da stand mein alter Schimmel und sah mich so traurig an und da wußt' ich, daß er sterben würde. Er fraß und trank nicht mehr, mußte irgend was im Halse haben, konnt' ihm nicht helfen, alles war vergebens. Tag und Nacht hab ich bei ihm gesessen, bis ich merkte, der alte Schimmel quält sich, er will sterben und kann nicht. Ich dacht' daran, ihn selbst zu töten, es wär' 'ne Erlösung gewesen für das alte brave Tier. Ich ging in mein Zimmer und holte mir den Revolver. Ich wollte ihn hinter das Ohr schießen, dann wär's vorbei gewesen mit einem Mal. Dreimal erhob ich die Waffe, dreimal ließ ich sie wieder sinken, ich konnt's nicht, ich wäre selbst dabei gestorben.

Meine Herren, da schickte ich zum Tierarzt. Der Mann kam und besah sich das Tier: „Totstechen, einzig Richtige. Einen Augenblick, dann hat er ausgelitten.”

Ich ging auf mein Zimmer zurück, nie wieder sind mir die Minuten so langsam verstrichen, da kam der Tierarzt zu mir herein: „Nun ist er tot.”

Meine Herren, ich habe geweint wie ein Kind, mir war, als hätte ich alles verloren, als hätte die Welt für mich keine Freude mehr, nun da mir mein Liebstes genommen.

So verstrichen Stunden, da ging ich hinab in den Stall, um zu veranlassen, daß zum Abdecker geschickt würde. Meine Herren, was seh ich? Mein alter toter Schimmel steht an der Krippe und frißt und säuft wie noch nie. An seinem Hals hatte er eine tiefe blutende Wunde. Ich glaubte zu träumen: „Schimmel, alter lieber Schimmel, lebst du wirklich?”

Da wieherte der treue alte Kerl, als er meine Stimme erkannte und wandte seinen Kopf zu mir zurück.

Nun besah ich mir die Wunde, sie war nicht tief genug gewesen, um ihn zu töten, und der bedeutende Aderlaß hatte dem alten Tier neue Kraft und neuen Lebensmut gegeben.

Drei Tage später bekam ich die Rechnung: „Für das Abstechen eines Pferdes zwanzig Mark.” Ich spannte den Schimmel vor den Wagen und fuhr mit ihm zur Stadt. Viele dumme Gesichter habe ich schon in meinem Leben gesehen, aber so etwas Dummes wie das Gesicht des Doktors, als ich ihm den toten Schimmel zeigte, hab ich denn doch nicht für möglich gehalten!

Und seit der Zeit schicke ich nie wieder hin zum Tierarzt, denn wenn sie ein Tier gesund machen sollen, lassen sie es sterben und wenn es sterben soll, machen sie es gesund.”


Fußnote:

(1) In der Fassung des „Deutschen Soldatenhort” heißt es hier: „daß Krankheit und Seuchen”. (Zurück)

(2) Diese Angabe — 25 Jahre nach 1870 — stimmt überein mit dem Datum der Erscheinung des Bandes „Militaria”, nämlich 1895.
In der Fassung des „Deutschen Soldatenhort” heißt es hier hingegen „23 Jahre” — denn die betr. Zeitungsnummer stammt aus dem Jahre 1893 — 23 Jahre nach Mars-la-Tour. (Zurück)


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