Der militärische Schäferhund.

Skizze aus dem Soldatenleben.
Von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 17.9. 1900,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 22.9.1900,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 14.10.1900,
in: „Indiana Tribüne” vom 25.11. 1900 und
in: „Vielliebchen”


Es ist im Manöver. Seine Exzellenz der kommandirende Herr General wohnt für einen Tag den Uebungen als Zuschauer bei und zur Feier dieses festlichen Ereignisses haben die Mannschaften sich am Morgen besonders gründlich waschen und kämmen müssen — auch eine Excellenz sieht nur, was vor Augen ist. Sogar die Zähne haben die Leute sich putzen müssen und bei dem Antreten der Kompagnien erhielten die Herren Leutnants den Befehl, sich durch leibeigenen Augenschein davon zu überzeugen, ob die Kerls sich auch die Fingernägel gereinigt hätten. Sauberkeit ist beim Militär häufig noch mehr als halbes Wissen, — ich erinnere mich aus meiner Dienstzeit meines alten Oberst, der bei der Vorinstruktion nie zuhörte, sondern jeden Mann nur daraufhin ansah, ob seine Ohren rein waren. Von dem Ergebniß dieser Untersuchung hing die Kritik ab.

Das Herz Se. Excellenz soll durch „Propperté” im Anzug und in der Erscheinung gerührt werden, aber als die Leute nun durch das Gelände dahin ziehen und mit ihren vorschriftsmäßig beschlagenen Kommißstiefeln einen wahren Staubsturm aufwirbeln, sagen sie sich: „Na, die Mühe, uns hübsch zu machen, hätten wir uns sparen können, man sieht ja doch schon wieder wie ein erwachsenes Ferkel aus.”

Und so Unrecht haben die Leute nicht. Der Anzug ist bereits grau, fingerdick liegt der Staub auf dem Helm, das Gesicht ist schwarz von Schweiß und Schmutz, in den Nasenlöchern thürmen sich kleine Sandberge und die Augen werden immer kleiner und kleiner.

Schön ist es nicht, die Hitze ist geradezu unerträglich; kein Luftzug rührt sich und am ganzen Himmel ist auch nicht eine einzige Wolke zu sehen, die sich, wenn auch nur für Sekunden, vor die Sonne legte und deren Strahlen abhielte, die armen Krieger fortwährend zu peinigen.

Die Leute haben keinen Spaß am Marschiren, die sechzig Pfund, die sie im Tornister auf dem Rücken tragen, ziehen ganz niederträchtig — am liebsten würden sich Viele mit einem „Ich kann nicht mehr” an den Grabenrand niederwerfen, aber das gibt es heute nicht, in Anwesenheit Se. Excellenz darf man nicht schlapp werden.

Die Leute haben in des Wortes verwegenster Bedeutung die Nase voll und die Herren Leutnants erst recht.

An der Queue seiner Kompagnie marschirt der Oberleutnant v.Aberg. Er theilt die Freude, bei seinem Hauptmann, den er nicht riechen kann, zu stehen, nur noch mit einem anderen Kameraden; wenn nur zwei Offiziere da sind, muß einer vorn, der andere hinten wandern. Und er wandert, er pintschert egal vorwärts, mechanisch setzt er einen Fuß immer vor den andern, und er wundert sich darüber, daß die Knochen sich das gefallen lassen und nicht einfach striken.

Der Herr Ober ist kein Jüngling mehr, er hat die einunddreißig bereits beim Kragen und immer noch keine Aussicht, Hauptmann zu werden. Es is 'ne Thränenwelt!

Man wandelt nicht nur nicht ungestraft unter Palmen, sondern man wandelt als Leutnant auch nicht ungestraft Jahr aus Jahr ein im Manöver und bei den Garnisonübungen durch das Gelände, das geht auf die Gebeine, die werden steif und lahm.

Selbst eine Lokomotive muß, wenn ich richtig unterrichtet bin, alle zwei Jahre einer gründlichen Reparatur unterzogen werden, sonst hat sie die nöthige Puste nicht mehr: die Puste eines Leutnants aber muß, ohne daß er reparirt wird, bis zum Hauptmann aushalten. Bringt er das Kunststück nicht fertig, geht er kaput, dann geht er entweder zu den Bezirksoffizieren oder er geht in die Pension. Gegangen muß bei der Infanterie werden, entweder so oder so.

Der Herr Ober ist eine große, schöne Erscheinung und bei seiner mächtigen Figur wirkt der kleine Tornister, den er auf seinen breiten Schultern spazieren trägt, noch lächerlicher als bei den anderen Herren.

„Es ist wahrhaftig eine Affenschande, daß man wie ein Schulbube mit seinem Ränzel herumlaufen muß !” flucht er ingrimmig vor sich hin, „im Krieg lasse ich mir das gefallen, da ist es ja sehr praktisch, das Allernothwendigste bei sich zu haben, aber im Frieden ist die Chose schon mehr als lächerlich. Und warum wird dieser Unsinn gemacht? Weil Excellenz heute da ist, da müssen auch die Offiziere feldmarschmäßig erscheinen. Gott schütze Flandern und erhalte den Vorgesetzten ihren Glauben, daß ein Leutnant mit Tornister ein besserer Krieger ist als ein Leutnant ohne Schulranzen.”

Aus seinen Grübeleien weckt ihn die Stimme seines Hauptmanns.

„Herr Leutnant, in der Kompagnie wird nicht auf Vordermann marschirt, warum halten Sie nicht darauf, daß Ordnung herrscht? Glauben Sie, daß Sie zum Spaß hier an der Queue marschiren?”

„Wenn ich das glaubte, müßte ich so wahnsinnig sein, wie Du es nach meiner Meinung bist,” denkt der Ober, „auf den Gedanken, daß ich hier zum Spaß marschire, bin ich noch nicht gekommen. Spaß macht mir die Sache absolut nicht.” Dann aber ruft er mit lauter Stimme: „Vordermann — Vordermann, Leute, marschirt auf Vordermann, Ihr erleichtert Euch selbst die Sache dadurch.”

„Dieser letzte Nachsatz war überflüssig,” fährt ihn sein Hauptmann an, „der Teufel soll die Kerls holen, wenn sie noch nicht wissen, warum sie auf Vordermann gehen sollen. Im Uebrigen merke ich bei dieser Gelegenheit von Neuem, daß Sie es absolut nicht verstanden haben, sich bei den Leuten Autorität zu verschaffen, überzeugen Sie sich selbst davon, daß Ihre Ermahnung völlig wirkungslos geblieben ist.”

Er überzeugt sich davon, was bleibt ihm Anderes übrig, und als er sieht, daß die Leute immer noch nicht so marschiren, wie sie sollen, wird er wüthend, zumal ihm die Nähe des ihm höchst unsympathischen Vorgesetzten die gute Laune raubt.

„Wollt Ihr infamen Himmelhunde wohl Marschordnung halten, wie man es Euch in den Instruktionsstunden bis zum Erbrechen vorgekaut hat,” ruft er zornig den Leuten zu, „Vordermann — Kreuzhimmel­donnerwetter noch einmal — Vor – der – mann!”

Aufmerksam hat der Häuptling zugehört, nun wendet er sich wieder an seinen Unterthanen: „Die Einleitung hätten Sie sich schenken können, sie war überflüssig. Im Uebrigen wundert es mich nicht, wenn Ihre Leute in der Instruktionsstunde nichts lernten und jetzt demgemäß handeln! Wenn Ihnen schon der Lehrstoff, wie Sie sagen, zum Erbrechen war, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn die Mannschaften an Ihrem Unterricht keinen Gefallen fanden.”

„Luft,” stöhnt der Ober, „Luft.”  „Dieser Mann tödtet mich und treibt mich dazu, nach Patagonien auszuwandern. Ist es zu glauben, daß solche Schwätzer, die über jede Kleinigkeit eine halbe Stunde reden, noch nicht in der Wurst sind? Wenn der Mensch nur ein einziges Mal grob werden wollte, dann wüßte man, woran man ist und fertig wäre die Laube. Aber so? Der Mann bringt mich zur Verzweiflung, Luft, oder ich ersticke!”

Und er öffnet den vierten Knopf seines Waffenrocks.

Der Hauptmann sieht's.

„Bitte Herr Oberleutnant, machen Sie den Knopf wieder zu; sich eigenmächtig Erleichterungen am Anzug zu gestatten, ist verboten, das könnten, nein, das müßten Sie eigentlich wissen. Aber in Ihrem Zug, Herr Oberleutnant, ist immer noch keine Ordnung, bitte, gehen Sie einmal hin und sorgen Sie mir dafür, daß die Kerls auf Vordermann marschiren.”

„Dieser Auftrag ist ebenso unangenehm wie wenig ehrenvoll,” denkt der Ober. „Um zu meinem Zug zu gelangen, muß ich laufen, laufen, jetzt beginnt die Thätigkeit des militärischen Schäferhundes. Es ist ein wahres Glück, daß das Leben eines Leutnants nicht ewig dauert, daß entweder Hans Mors, der Tod, oder die Beförderung diesem Dasein, um das nur ganz junge Mädchen uns beneiden können, eines schönen Tages ein Ende macht.”

„Herr Oberleutnant, ich hatte Sie gebeten, sich zu Ihrem Zuge zu begeben und dort Ordnung zu schaffen!” wiederholt der Häuptling in strengem Ton.

„Muß denn das gleich sein, hat's nicht noch Zeit,” denkt der Ober, „unser Leben ist noch so lang und der Weg, den wir heute zurücklegen müssen, noch viel länger. Ich kenne den Rummel. Wie sagt doch Schiller oder wer es sonst ist: „Hab ich zu laufen angefangen, hab ich zu gehen aufgehört.” Bin ich erst einmal als bellender Schäferhund um meine Kinder herumgesprungen, dann muß ich weiter springen und dazu habe ich ausgerechnet nicht die leiseste Neigung. Wird man auch manchmal wie ein Hund behandelt, so ist damit noch nicht gesagt, daß man auch wirklich solch Thier ist.”

„Na, wird's bald?” donnert der Hauptmann. „Willst nicht lieber gleich pfeifen?” knurrt der Ober, „aber mir bleibt wohl nichts Anderes mehr übrig, ich muß mich in Bewegung setzen, obgleich ich mich nicht entsinnen kann, in den letzten zwei Stunden auch nur eine Sekunde gestanden zu haben. Aber wie heißt es doch in den Kriegsartikeln: „Muth bei allen Dienstob­liegenheiten, Tapferkeit im Kriege, Gehorsam gegen die Vorgesetzten, ehrenhafte Führung in und außer dem Dienst.” Also los: Muth.”

Er holt noch einmal Athem, oder richtiger gesagt, er schluckt noch eine große Portion Staub in sich hinein, dann gibt er sich im Geiste die Sporen und trabt die Front entlang. Endlich ist er bei seinem Zuge angelangt und mit heiserer Stimme bellt er seine Leute an: „Kerls, Vordermann — Vordermann — Marschordnung — Vor – der – mann!”

Und drohend und scheltend umspringt er die Seinen: bald ist er bei der ersten Sektion, bald bei der letzten, bald bei der Mitte. Nun springt er sogar geschickt durch die Kolonne hindurch und begibt sich auf die andere Seite, denn dort bemerkt er einen Bleisoldaten, der absolut nicht auf Vordermann geht, sondern einsam im Gelände herumstreicht und „botanisirt”.

Als der Leutnant plötzlich neben ihm auftaucht, springt der Soldat erschrocken in sein „Loch” zurück, er gibt alle Gedanken an einen Nebenausflug auf und troddelt weiter in der großen Menge.

Spähend blickt der Ober sich um, er bleibt für einen Augenblick stehen und läßt die Kolonne an sich vorüberziehen. Da sieht er in der zweiten Sektion einen Mann, der absolut nicht so marschirt, wie er für seine zweiundzwanzig Pfennig Löhnung im Interesse des preußischen Staates und für das Wohlergehen seiner Kolonien zu marschiren gesetzlich und moralisch verpflichtet ist: der Mann torkelt und schwankt hin und her, bald tritt er seinen rechten, bald seinen linken Nebenmann auf den großen Onkel und der brave Krieger soll geradeaus gehen, immer gerade aus, auf Vordermann.

„Wenn Du nun doch einmal unterwegs bist,” denkt der Ober, „kannst Du auch diesem Jüngling gleich einen Besuch abstatten.”

Wieder springt er durch das Gelände und ermahnt durch den Ruf: „Vordermann” den Soldaten, seine Pflicht zu thun, damit seine Vorgesetzten und seine Angehörigen sich seiner nicht zu schämen brauchen.

Endlich ist Odnung in der Kolonne und wie der Schäferhund, wenn er die rebellischen Schafe zur Vernunft gebracht hat, gehorsam zu seinem Herrn zurückkehrt und geduldig neben ihm an der Queue der Heerde dahintrottet, bis ein neuer Befehl ihn wieder auf Reisen schickt, so kehrt jetzt auch der Herr Ober an seinen Platz zurück. An der Queue der Kompagnie marschirt er neben seinem Hauptmann, dessen Pferd ihm den Staub ins Gesicht wirbelt, weiter. Der Herr Ober ist garnicht so dumm, er weiß, daß nichts auf Erden ewig dauert, am allerwenigsten die Ordnung in der Kompagnie. Bald wird es wieder heißen: „Die Leute marschiren nicht auf Vordermann,” und dann muß er von Neuem laufen und springen und die Seinen umkreisen.

Wie der wirkliche Schäferhund, so hat auch der militärische Schäferhund erst Ruhe, wenn die Heerde am Ziel angelangt ist; für die Schafe ist dies die Weide oder der Stall, für die marschirende Truppe ist das Ziel der „markirte” Feind, den es unter den Augen Sr. Excellenz mit Heldenmuth niederzukämpfen gilt.


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© Karlheinz Everts