Sascha.

Novelle von Graf Günther Rosenhagen.
in: „Marburger Zeitung” vom 14.10., 18.10. und 21.10.1894


Frau Vera von Smnirninghoff saß an ihrem Schreibtisch mit dem Ordnen ihrer Wirtschaftsbücher beschäftigt, als sich die Thür ihres Zimmers öffnete und ihr zwölfjähriger Sohn Sascha hereinstürzte. Sie hielt mit dem Schreiben inne und streichelte die dichten, schwarzen Locken ihres Lieblings, der sich vor ihr auf die Kniee geworfen hatte:

„Ist es schon so spät, Sascha, schon zwei Uhr? Ich glaubte, es sei noch früher, aber dem Glücklichen schlägt keine Stunde und das reinste, wahrhafte Glück, das Keiner uns zu rauben vermag, ist die Arbeit. Nun aber komm' und lass' uns zu Mittag essen, Du wirst hungrig sein.”

Noch immer lag Sascha auf den Knieen vor seiner Mutter und hatte, während er mit seinen Armen sie um schlungen hielt, seinen Kopf in ihrn Schoß vergraben.

„Komm' Sascha, steh' auf,” bat die Mutter.

Der Knabe löste seine Arme, und als sie in das Gesicht ihres Kindes blickte, sah sie, daß schwere, heiße Thränen ihm die Wangen hinunterrollten und daß ein krampfhaftes Zucken durch seinen ganzen Körper gieng.

„Um Gottes willen, Sascha, was hast Du, bist Du krank, fehlt Dir etwas? Warum weinst Du?”

Thränen in den ewig heiteren, sorglosen Augen ihres Kindes waren eine so seltene Erscheinung, daß Frau von Smirninghoff nicht ohne Grund eine besondere Ursache vermuthete.

Der Knabe war aufgesprungen und hatte sich vor die Mutter hingestellt, da erst bemerkte sie, daß sein Anzug zerrissen und voll Löcher war. Sie lachte hell auf:

„Hast Du Dich schon 'mal wieder geprügelt und dieses mal dabei selbst die meisten Schläge bekommen? Wer aber so groß ist wie Du, muß körperliche Schmerzen stumm zu ertragen verstehen. Wer war Dein Gegner?”

Er nannte den Namen.

„Ach, der schielende Sohn der Schneiderin, in dessen Gesicht nur Niedertracht und Verlogenheit zu lesen sind. Was hat er Dir gethan?”

Wieder schwieg er einen Augenblick und schuate mit seinen großen, dunklen Augen, die so klar und rein waren, als könne man durch sie hindurch bis in sein innerstes, unverdorbenes Herz blicken, seine Mutter an, dann sagte er langsam, aber ganz leise, als schäme er sich, die Worte des Anderen zu wiederholen:

„Er hat schlecht von Dir gesprochen, Mamming.”

Verwundet sah die Mutter ihr Kind an: „Von mir? Was kann denn dieses verdorbene Geschöpf Schlechtes von mir sagen?”

Eine flammende Röthe stieg in Sascha's Wangen. „Er sprach von Dir und Onkel Markewitz. Ich verstand ihn nicht und wußte nicht, was seine Worte bedeuteten; aber als ich hörte, wie die anderen Knaben darüber lachten, empfand ich, daß es etwas Häßliches sein müsse, was er sagte. Noch ein anderes Wort — aber da hättest Du mich sehen sollen, Mamming, sieh', so habe ich ihn gefaßt, mit der linken Hand um den Hals und mit der rechten habe ich ihn verhauen. Hätten die Anderen mich nicht losgerissen, ich glaube, ich hätte ihn todtgesclagen.”

Seine Augen funkelten und seine Hände ballten sich von Neuem, als wollte er sich noch einmal auf seinen Gegner stürzen.

Frau von Smirninghoff war bei den ersten Worten unwillkürlich erbleicht, gleich darauf aber hatte sie sich wieder gefaßt und nichts verrieth die große Erregung in ihrem Innern, als sie ihr Kind an sich zog und ihm die Thränen aus den Augen küßte.

„Und deshalb weinst Du? Lasse sie reden, was sie wollen und beantworte, was Du hörst, nicht mit Schlägen, sondern mit Verachtung. Gegen alles kann man sich schützen und vertheidigen, nur nicht gegen die Verleumdung. Wer sich über Schmähungen ärgert und dies offen zeigt, erweist dem Verleumder einen Gefallen, Verachtung ist das Einzige, das ihn zu entwaffnen vermag. Nun vergiß, was Du gehört; Dir aber danke ich, daß Du so tapfer Deine Liebe bewiesen hast.”

Sie ergriff ihren Sohn an der Hand und führte ihn hinüber in das kleine, mit behaglicher Eleganz eingerichtete Speisezimmer, an dessen Wänden alte Silber- und Krystallsachen auf den Borden prangten und in dem der alte blankgeputzte Samowar einen Hauptschmuck bildete.

Die Stunde des Essens verlief wie immer; für alles, was ihren Sohn betraf, zeigte Frau von Smirnighoff das regste Interesse, sie fragte ihn aus nach allem, was er in der Schule gesehen und gelernt hatte, ließ sich seine kleinen Erlebnisse und Abenteuer erzählen, erkundigte sich nach seinen Mitschülern, die sie, aus seinen Erzählungen wenigstens, alle dem Namen nach kannte und hatte Sinn und Verständnis für seine kleinen Sorgen.

Seit dem Tage, da ihr Gatte gestorben, hatte sie ihre ganze Liebe dem Knaben zugewendet und ihm alle ihre Sorgfalt und Pflege gewidmet. Mit abgöttischer Liebe hieng Sascha an seiner Mutter. Durch das Alleinsein, durch den ausschließlichen Verkehr mit ihr, hatten sich sein Verstand und sein Fassungsvermögen früh entwickelt. Seine Mutter unternahm nichts, ohne ihn vorher um Rath zu fragen und auf das Höchste wurde sie oft durch seine Antworten, die fast immer, selbst auf ihm bisher unbekannten und fernliegenden Gebieten, das Richtige trafen, überrascht. Sascha sah in seiner Mutter, deren Fleiß und Sparsamkeit ihn mit grenzenloser Verehrung gegen sie erfüllten und deren kluge, verständige Worte sich fest in sein leicht empfängliches Herz einprägten, das Ebenbild einer Göttin: sie war für ihn der Inbegriff alles Guten, Schönen, und Edlen.

Als die Mahlzeit beendet war, zog Frau v. Smirninghoff sich in ihr Zimmer zurück, um, wie stets um diese Zeit, einen Augenblick zu ruhen. Schon früh am Morgen verließ sie ihr Lager, das sie erst am späten Abend, nachdem sie den ganzen Tag über gewirkt und geschafft hatte, wieder aufsuchte. Aber heute floh sie der Schlaf, wachend lag sie auf ihrer Chaiselongue, eine innere Unruhe hatte sich ihrer bemächtigt. Sie wollte sie nicht beachten, sie sträubte sich dagegen mit der ganzen Kraft ihres Verstandes, aber die Worte, die Sascha ihr wiederberichtet, klangen immer und immer wieder an ihr Ohr. Also so weit war es schon gekommen, daß man es wagte, sie bei ihrem Kinde zu verleumden. Denn nur Bosheit und Gemeinheit konnten an ihr und ihrem Benehmen etwas Tadelnwertes finden. Der Verkehr mit Herrn von Markewitz war nebst der Freude an ihrem Knaben das Einzige, das sie noch auf der Welt hatte, das ihr das Leben lieb und theuer machte; sollte sie auch dieses, wie schon so vieles vorher, opfern und aufgeben? Ihr Stolz bäumte sich dagegen auf.

„Nein,” rief es in ihrem Herzen, „lass' sie reden und denken, was sie wollen, ich verachte die Menge und ihr Urtheil, keinem bin ich Rechenschaft über mein Thun und Treiben schuldig, zumal wenn es gut und vorwurfsfrei ist und keine Sühne fordert. Was habe ich gethan, daß man mich beleidigt und meine Ehre angreift?”

Sie hatte sich von ihrem Lager halb erhoben, sie stützte den schönen Kopf mit dem dichten, blonden Haar auf die schmale, weiße Hand, der man die harte Arbeit, die sie oft verrichten mußte, nicht ansah und schloß sinnend die Augen.

In einer großen deutschen Handelsstadt als die älteste Tochter eines hohen Beamten in sorgloser glücklicher Jugend aufgewachsen, hatte Vera sich, kaum 19 Jahre alt, mit dem reichen und angesehenen Herrn von Smirninghoff, der in einer russischen Hafenstadt ein großes Handelsgeschäft besaß, vermählt. Nur mit Widerstreben hatten die Eltern ihre Einwilligung gegeben, in dem sicheren Gefühl, daß die Ehe mit dem um viele Jahre älteren Mann keine glückliche werden würde. Aber mit ihrem heiteren, hellen Lachen hatte sie jeden Widerstand überwunden.

Die Hochzeitsreise führte sie nach dem Süden, aber die Freude und der Genuß, die sie sich hiervon versprochen hatte, blieben aus. Lag es an ihr, lag es an ihrem Gatten, dem jede Unbequemlichkeit etwas Entsetzliches, jeder Ausflug etwas Furchtbares war und der sich nur wohl fühlte, wenn er die reichbedeckte Tafel vor sich sah — sie wußte es nicht. Sie drängte nach Hause, seinem schönen Rußland, seinem Heim, von dem er ihr Wunderdinge erzählte, nach den eigenen vier Wänden, in dem sie fortan wirken und schaffen und die ihr die Heimat ersetzen sollten. Aber auch hier fand sie das ersehnte Glück nicht. Ihr Gatte, der fast den ganzen Tag im Geschäfte thätig war, kam erst gegen Abend nach Hause und sein durch die angestrengte Arbeit ermüdeter und abgespannter Geist verlangte dann nach Erholung, Erheiterung und Zerstreuung. Gar bald bemerkte sie, daß sie nicht imstande sei, ihren Mann zu unterhalten und daß sie allein ihm nicht genüge, obgleich sie klug und stets heiter und fröhlich war. Kein Tag verging ohne Gäste. Die Vorbereitungen für die opulenten Mahlzeiten nahmen ihre ganze Zeit und Thätigkeit in Anspruch, denn nur das Beste und Feinste war gerade gut genug für ihren Mann; er war ja reich und konnte sich jeglichen Luxus gestatten. So verrann ein Monat nach dem andern, immer nur in der Sorge für die Befriedigung seiner materiellen Leidenschaften.

Nach einem Jahr gebar sie den Knaben, der nach seinem Vater den Namen Alexander erhielt, doch mit der russischen Abkürzung stets Sascha genannt wurde. Die Freude ihres Mannes über den Sohn kannte keine Grenzen, er überhäufte sie mit Geschenken und den freigebigsten Beweisen seiner Dankbarkeit und fast schien es, als ob das Kind ihr bringen würde, wonach sie sich bisher vergebens gesehnt hatte — die Liebe und das Interesse ihres Gatten. Aber sie hatte sich getäuscht, er war und blieb ihr fremd. Unter dem Vorwande, daß die Unruhe im Hause, das Weinen des Kindes seinen ohnehin überreizten und überarbeiteten Nerven schade, brachte er selbst die Abende außerhalb zu, bis die wiederhergestellte Gesundheit seiner Frau und das zunehmende Alter des Knaben ihm gestatteten, den gesellligen Verkehr in den eigenen vier Wänden wieder aufzunehmen. So lebten sie nebeneinander weiter, in der scheinbar glücklichsten Ehe. Stets behandelte er Vera mit der vollendetsten Rücksicht, er war der gentleman comme if faut, der Cavallier vom Scheitel bis zur Zehe, gegen Andere ebenso wie gegen sich selbst, nie kam ein unfreundliches oder gar böses Wort über seine Lippen, schon weil er geglaubt hätte, dadurch in seiner eigenen Achtung und in seiner Selbstschätzung zu sinken. Wie zwei gute Kameraden giengen sie nebeneinander her, nur durch Gewohnheit und den Besitz des Knaben verknüpft. Aber was ist Freundschaft für ein Herz, das sich mit allen Fasern nach Liebe sehnt? Alle Beweise der Freundschaft, seien sie noch so wahr und aufrichtig, sind nichtig und wertlos gegen die Seligkeit der kurzen und doch eine Welt an Glück enthaltenden Worte:

„Ich liebe Dich!”

Die zahlreichen Gäste, Freunde und Bekannte ihres Mannes, die täglich in ihrem Hause aus und ein giengen, für die zu sorgen und den Tisch zu bereiten ihre ganze Lebensaufgabe gewesen, waren ihr fremd und gleichgültig geblieben. Als Deutsche geboren und erzogen, vermochte sie sich nur schwer an die neue Umgebung und deren fremde, den ihrigen oft ganz zuwiderlaufende Ideen zu gewöhnen. Mit einem strengen, stark entwickelten Rechtsgefühl ausgestattet, verachtete sie die Bestechlichkeit und die Verlogenheit, die sich bis in die ersten Kreise erstreckte. Auch ihre Bemühungen, zu helfen und der bitteren Armuth, dem oft grenzenlosen Elend in den unteren Schichten der Bevölkerung entgegenzutreten, fanden weder Verständnis noch Theilnahme. Mehr und mehr schloß sie sich ab und gieng ihren eigenen stillen Weg für sich. Nur einen Einzigen von Allen sah sie gern bei sich und freute sich jedes Mal aufrichtig über sein Kommen — das war Iwan von Markewitz. Er war der jüngste von den vier Söhnen eines russischen Edelmannes, dessen alter Name weit und breit einen guten Klang hatte.

Im Auslande, hauptsächlich in Deutschland erzogen, war Iwan mit fünfundzwanzig Jahren, nachdem er vorher noch eine Weltreise unternommen, in die Heimat zurückgekehrt und hatte sich dort niedergelassen. Eine feste Thätigkeit hatte er nicht, da der Arzt ihm, wegen eines geringen Lungenleidens, jede anstrengende Arbeit untersagt und er, als verwöhnter Sohn eines reichen Vaters, den Wunsch nach Arbeit auch nicht sehr mächtig in sich fühlte. Mehr aus Gefälligkeit gegen Hernn von Smirninghoff, als um daraus einen Nutzen zu ziehen, hatte er das ihm bei seiner Mündigkeit zugefallene große mütterliche Erbtheil — seine Mutter war schon bald nach seiner Geburt gestorben — diesem in das Geschäft gegeben und war stiller Theilnehmer an dessen großartigen, stets vom Glück begünstigten Unternehmungen geworden. Von Zeit zu Zeit unternahm er eine Reise auf die Besitzungen seines Vaters, sah hier und dort nach dem Rechten, verwaltete das Vermögen seiner Brüder, die als Officiere bei einem Garde­cavallerie­regiment in Petersburg standen und hatte hiermit nach seiner Meinung vollständig genug zu thun, mehr, als ihm manchmal lieb war.

Schon als Vera ihn zum ersten Mal sah, fühlte sie sich zu ihm hingezogen, sie las in seinen Augen und in seinem beredten Mienenspiel, daß auch er sehr häufig die Meinungen seiner Landsleute nich theilte, daß auch ihm ihre Urtheile, ihr Thun und Treiben oft im höchsten Grade unsympathisch waren und daß er in deutschen Landen Vieles von den dort herrschenden, sie anheimelnden Ansichten in sich aufgenommen habe. Sie unterhielt sich gern und lange mit ihm, sei es, daß seine interessante Unterhaltung sie zerstreute, sei es, weil sie von ihm, der des Deutschen bis auf die jedem Russen eigenthümliche scharfe Betonung der Consonanten vollständig mächtig war, ihre Muttersprache hörte. Aber noch Anderes machte Herrn von Markewitz ihr lieb und theuer, er hatte Mitleid mit ihr, er sah und empfand es, daß sie trotz des Reichthums und aller Pracht, die sie umgaben, nicht glücklich war, daß sie sich einsam und verlassen fühlte. Mit keinem Wort verrieth er seine Gedanken, aber in seinen Augen las sie, daß er sie verstand. Und die Stunde kam, in der er durch die That beweisen konnte, wie er ihr gesonnen sei. Eines Abends brachten sie ihren Gatten bewußtlos nach Hause, ein Schlaganfall hatte ihn betroffen, große Verluste, die das Ansehen und den Ruf des alten Handelshauses auf das Spiel setzten, mochten wohl die Veranlassung gewesen sein. Nur dadurch, daß Markewitz erklärte, er opfere, um die Ehre Smirninghoff's zu retten, freiwillig sein ganzes Vermögen, wurde der Concurs abgewendet. Dennoch erholte sich das Geschäft von dem schweren Schlage nicht wieder. Als kurze Zeit darauf Herr von Smirninghoff starb, traten noch so viele und bedeutende Forderungen hervor, daß es Markewitz nur mit der größten Mühe gelang, für die Witwe ein kleines Vermögen zu retten, dessen Zinsen gerade ausreichten, sie vor der bittersten Noth zu schützen. Er hatte die Ordnung des gesammten Nachlassen übernommen und sich freiwillig als Vormund für Sascha, den er wie sein eigenes Kind liebte, erboten. Sie hatte erleichtert aufgeathmet, als das Gericht die Wahl bestätigte, denn nun wußte sie die Erziehung ihres Sohnes und die Verwaltung ihrer Angelegenheiten in guten Händen. Auf Markewitz Rath hin hatte sie ihr große Haus verkauft und sich am Hafen, dicht hinter den Dünen, ein kleines Häuschen erworben, in dem sie allein mit Sascha und einer alten Magd wohnte. Sie verkehrte mit Niemand, denn sie lebte nur für ihr Kind, dessen Erziehung sie die strengste Sorgfalt widmete. Ihre Erholung und ihre Zerstreuung waren die Nachmittags­stunden, in denen Markewitz kam, um sie zu einem kurzen Spaziergnag oder zu einer Ausfahrt in seinem kleinen, eleganten Lackwagen mit den beiden Orloff-Trabern abzuholen. Oft auch saßen sie auf der Veranda, von der aus man eine weite Fernsicht über das Meer hatte und Stunden heiterer, fröhlicher Unterhaltung waren es, die die drei Menschen so zusammen verlebten. Denn nie fehlte Sascha, er war bei den Gesprächen zwischen seiner Mutter und Markewitz ein fleißiger Zuhörer, dem keins ihrer Worte entgieng und dessen scharfer Verstand durch ihren Meinungsaustausch zum Nachdenken angeregt wurde.

Und doch wußte Vera schon lange, daß man über ihren intimen Verkehr mit Markewitz spottete, und nicht einmal den Vorwurf, daß man sie blind über ihr Treiben, daß man sie ungewarnt den Verleumdungen gegenüber gelassen hatte, durfte sie erheben. Mit klaren Worten hatte ihr eine am Ort lebende Schwägerin bedeutet, wie die Gesellschaft die Freundschaft zwischen der schönen, jungen Witwe und dem alleinstehenden Mann auffasse. Lebhaft widersprach Vera, daß sie Niemandes Blick zu scheuen brauche und Niemandem als dem eigenen Gewissen Rechenschaft schuldig sei. „Vera,” hatte jene kurz erwidert, „vergiß nicht Dein Kind. Die Stunde wird kommen, da auch an sein Ohr Verdächtigungen klingen werden, Zweifel werden sich in seiner unschuldigen Seele regen und mit der Unbarmherzigkeit der Kinder, die wohl sich oder Anderen, doch nie ihren Eltern eine Sünde, einen Makel an der Ehre vergeben, wird er Dich verurtheilen, wenn — nun wenn Du nicht auch den Schein vermieden hast.”

„Ich habe nichts zu fürchten,” hatte Vera stolz entgegnet, „ich bin rein vor meines Kindes Augen, und ich weiß, er wird die Verleumdungen zertreten, ohne daß davon ein Schatten in seinem Herzen zurückbliebe.”

Und heute war die Stunde gekommen, die erste Anfechtung hatte die Kindesliebe spielend, mit trotzigen Händen, von sich geschleudert — doch würde es so bleiben?

Aus dem Nebenzimmer ertönten helle Schläge in ihre Träumereien. „Schon fünf Uhr!”

Erschrocken über den Zeitverlust erhob sie sich, ordnete schnell ihre Haare vor dem Spiegel und betrat dann die Veranda, wo sie Sascha bereits mit den Schularbeiten beschäftigt, ihrer wartend vorfand. Er sprang auf und küßte ihr der Sitte gemäß die Hand, dann sagte er:

„Maminka, soeben habe ich Onkel Markewitz gesehen, in einer Stunde will er uns abholen und mit uns spazierenfahren.”

„So geh hin zu ihm, Sascha und sage ihm, ich wäre nicht wohl genug, das Haus zu verlassen. Aber bringe Onkel Markewitz mit, vielleicht trinkt er ein Glas Thee bei uns und raucht seine Papyros hier auf der schattigen Veranda.”

Freudig eilte Sascha davon: für ihn gab es kein größeres Vergnügen, als Markewitz in seiner Wohnung aufzusuchen und dessen schöne Sachen, die von weither mitgebrachten, seltenen Waffen, die wertvollen Münzen und Freimarken zu bewundern und in den großen mit herrlichen Bildern gezierten Büchern zu blättern. Es war ein Eldorado für ein Knabenherz und Sascha betrachtete es als seine zweite Heimat.

Stürmend flog er die Treppe hinauf, richtete seine Bestellung aus und bald darauf betraten sie Beide die kleine Villa.

„Markewitz, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, ich habe Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.”

Es war ein stillschweigendes Uebereinkommen, daß sie den um zwei Jahre Jüngeren ohne jede Förmlichkeit anredete.

Sie reichte ihm die Hand, die er zum Kuß an seine Lipen führte: „Gnädige Frau, Sie wissen, ich bin stets zu Ihren Diensten bereit, wie kann ich Ihnen heute helfen?”

„Davon nachher,” entgegnete sie, „lassen Sie uns vorläufig in Ruhe unseren Thee trinken, nehmen Sie getrost Ihre unergründlich tiefe Cigarettentasche hervor und geben Sie mir auch eine Papyros, vielleicht verscheucht der Rauch meine Sorgen.”

„Sie haben sich gegrämt, gnädige Frau?”

Er hatte ihr gegenüber in dem großen, bequemen Lehnstuhl Platz genommen und schaute sie voll aufrichtiger Theilnahme an, während Sascha sich auf seine Kniee gesetzt und den Kopf an seine Brust gelehnt hatte. Sie deutete mit den Augen auf den Knaben, er verstand, daß sie in dessen Gegenwart nicht sprechen wolle:

„Sascha, mein Galupschick, steh' auf,” bat er, „geh' in den Garten und arbeite dort. Ich habe mit Deiner Mutter zu sprechen, heute abends gehen wir zusammen an den Strand.”

„Ist es so Ernstes und Wichtiges, das Sie quält,” fragte er, als Sascha sie verlassen hatte, „daß Sie es selbst nicht einmal in Gegenwart des Knaben, vor dem Sie doch sonst keine Geheimnisse haben, zu sagen wagen?”

Sie schwieg einen Augenblick, als suche sie nach Worten, dann sagte sie plötzlich und ohne jeglichen Uebergang: „Sascha kam heute mittags weinend aus der Schule und erzählte mir, daß seine Kameraden mich bei ihm verleumdet hätten, daß man Schlechtes über meinen Umgang mit Ihnen, Markewitz, rede.”

Er antwortete nicht gleich, wortlos saß er ihr gegenüber und starrte sie an, als wenn er den Sinn ihrer Worte nicht zu fassen vermöge. Zornig schwollen die Adern auf seiner Stirn und dröhnend schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch:

„Wer ist der Elende, der Sie zu beleidigen und zu kränken wagt?”

Sie winkte ihm, sich zu beruhigen. „Unnöthig und überflüssig wäre es, den Namen des Verleumders zu wissen, ein Anderes gilt es, zu berathen und zu beschließen. In unserem Verkehr muß eine Aenderung eintreten, Markewitz, darüber bin ich mir heute mittags klar geworden. Sie wissen, ich verachte die Menschen und das Urtheil der Menge, aber ich muß Rücksicht nehmen auf Sascha. Nie und nimmermehr dürfen wir dazu Veranlassung geben, daß dem Kinde solche Gerüchte zu Ohren kommen.”

„Sie haben Recht, gnädige Frau,” entgegnete er, „aber darf ich fragen, wie sich in Zukunft nach Ihrer Meinung unser Umgang gestalten wird?”

„Das zu entscheiden und darüber auch Ihren Rath zu hören, bat ich Sie hierher.”

Er sah eine Weile sinnend vor sich hin, dann erhob er seine Augen und ließ sie bewundernd auf Frau von Smirninghoff ruhen. Noch immer war sie eine schöne, vornehme Frau. Sie war von großer, kräftiger Figur und vollen Formen, klar und offen blickten die braunen Augen in die Welt, ihr schweres, aschblondes Haar lag in Wellen um das blühende, rosige Gesicht und tadellose Zähne blitzten zwischen den rothen Lippen hervor. Heute, da sie ihm hilflos gegenübersaß, seinen Rath und seinen Beistand erwartend, erschien sie ihm schöner und begehrenswerter denn je. Er kämpfte augenscheinlich mit sich einen schweren Kampf, dann sagte er leise:

„Ich habe Ihnen zwar versprochen, nicht mehr auf den mich ganz erfüllenden und durchdringenden Wunsch zurückzukommen, aber ich sehe für uns Beide keinen anderen Ausweg. Lassen Sie mich Ihnen noch einmal sagen, was Sie längst wissen, daß ich Sie liebe, über alles liebe! Machen Sie meiner grenzenlosen Sehnsucht ein Ende, erhören Sie mich — seien Sie mein, werden Sie mein Weib!”

Schon bei seinen ersten Worten war ein glühendes Roth in ihre Wangen gestiegen und eine große Erregung hatte sie ergriffen. Als er sie nun flehenden Auges anblickte, sprach sie mit sanfter Stimme:

„Markewitz, ich bitte Sie, sinnen Sie auf eine andere Lösung. Sie wissen, weshalb ich nicht schon vor Jahr und Tag, als Sie um meine Hand baten, „ja” sagte und die Gründe, welche damals gegen unsere Verbindung sprachen, bestehen noch heute. Seien wir verständig,” sie suchte einen scherzenden Ton anzuschlagen, „oder lassen Sie wenigstens mich als die Aeltere von uns Beiden Vernunft predigen.”

Ungeduldig unterbrach er sie:

„Vernunft! Ich habe immer geglaubt, der wahren Liebe gegenüber hielte keine Vernunft stand und das wäre eben der Daseinsbeweis echter Liebe, daß sie durch die Hindernisse, die sich ihr entgegenstellen, nicht entmuthigt, sondern gestärkt würde.”

Sie sah ihn traurig und vorwurfsvollan. „Sie sind ungerecht, Markewitz, aber wenn Sie nicht anders wollen, so muß ich Ihnen die Gründe auseinandersetzen, die mich auch heute abhalten, die Ihre zu werden. Liebe allein genügt nicht; fehlt die feste Basis, auf der sich Vertrauen und Achtung aufbauen können, so reicht Liebe allein nicht aus, um das Glück dauernd zu fesseln. Ich bin nicht reich, mit dem wenigen, das ich besitze, kann ich kaum die nöthigsten Ausgaben bestreiten, jeder Luxus, der mich früher im Ueberfluß umgab, ist mir jetzt fremd. Auch Sie sind ohne Mittel, was Sie besaßen, haben Sie in edelmüthigster Weise für uns geopfert, was Sie jetzt besitzen, verdanken Sie lediglich der Güte Ihres Vaters und der Freigebigkeit Ihrer Brüder. Wenn es ihnen einst einfällt, zu sagen: „Wir haben jetzt genug für Dich gethan, nun sieh' zu, wie Du weiter kommst” — so wären Sie verraten und verkauft, weil Sie arbeiten nicht gelernt haben! Sie sagen zwar, zu arbeiten verbiete Ihre Gesundheit, aber lieber Freund, nehmen Sie es mir nicht übel, das ist für Sie eine bequeme Entschuldigung, mit der Sie sich und Andere über den wahren Grund hinwegtäuschen wollen. Sie mögen nicht arbeiten, weil Sie die Freude und den Segen der Arbeit noch nie empfunden haben. Schon einmal sagte ich es Ihnen und wiederhole es Ihnen heute: „Arbeiten Sie, suchen Sie sich irgend eine lohnende Beschäftigung, ganz einerlei, welcher Art, denn Arbeit schändet nie, und an demselben Tage, da Sie vor mich hintreten und zu mir sagen: „Sieh' her, diesen Rubel habe ich mir selbst verdient, ich habe für Dich gearbeitet,” an demselben Tage bin ich die Ihrige. Werden Sie nicht ungeduldig, Markewitz, und trommeln Sie nicht mit den Fingern auf der Tischplatte, Sie wissen, das macht mich nervös — ich bin gleich mit meinen Ausführungen zu Ende. Nähme ich nun auch alles, was ich Ihnen soeben erklärt habe, zurück, so bliebe dennoch ein Hindernis für unsere Ehe bestehen: das ist Sascha! Noch besser als ich wissen Sie, der Vormund, daß ich ohne die hohen Krongelder, die ich als Witwe beziehe, den Knaben nicht so erziehen könnte, wie es mir jetzt möglich und wie es für seine Zukunft nöthig ist. Sobald ich mich wieder verheirate, fällt die bedeutende Summe fort und wovon soll ich dann seine Erziehungskosten bestreiten? Sie sagen, von dem was Sie besitzen, aber selbst wenn Ihnen Ihr Vater das bisherige Einkommen ließe, es würde kaum für uns Beide, nie aber für drei reichen. Als Mutter habe ich zu unterscheiden zwischen meinen eigenen Wünschen und dem, was für mein Kind von Nutzen und Vortheil ist und ein Mutterherz versagt sich alles, gibt alles dem Kinde, denkt nie an sich. Wäre Sascha groß, erwachsen, nicht mehr von mir abhängig — nicht eine Secunde länger würde ich zögern, auch meinem Herzen endlich die Ruhe, das Glück zu geben, nach dem es sich sehnt. So aber muß ich Ihnen ein- für allemal jede Aussicht auf diese für uns Beide glückliche Lösung nehmen, denn es wäre grausam, wollte ich Ihnen Hoffnungen lassen, die sich nie, niemals erfüllen können.”

Eine fahle Blässe überzog Markewitz' Gesicht, als Vera schwieg und sich hoch aufathmend in ihren Stuhl zurücklehnte, und tonlos fragte er:

„Ist das Ihr letztes, wohlüberlegtes Wort, ist das Ihre Entscheidung über mich für immer?”

Sie sah in sein todestrauriges Antlitz, aus dem jedes Leben gewichen war, sie blickte in seine Augen, die allen Glanz verloren hatten:

„Markewitz,” bat sie, „machen Sie mir das Herz nicht schwerer als es ist, nur meine grenzenlose Liebe zu Sascha hindert mich ja, Ihr Weib zu werden. Ich weiß, was ich Ihnen verdanke, ich weiß, was Sie unter Ihrer aussichtslosen Liebe gelitten haben, aber Markewitz, ich kann nicht anders. Ich flehe Sie an, verlangen Sie nichts Unmögliches von mir.”

Ihre Stimme zitterte und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Er führte ihre Hand, die sie ihm reichte, an seine Lippen, dann erhob er sich.

„Nicht so, Markewitz,” stammelte sie, „waren meine Worte gemeint. Gehen Sie nicht so fort, verlassen Sie mich nicht gerade jetzt, da ich Ihrer Hilfe mehr denn je bedarf.”

„Und bleibt mir denn etwas anderes übrig?” fragte er. „Zweierlei gibt es nur, um das Gerücht verstummen zu lassen — entweder Sie heiraten mich, Vera, oder ich muß Sie und Ihr Haus für immer verlassen. Ich werde eine Zeit lang auf Reisen gehen, meine Adresse werde ich Ihnen senden; wenn Sie meiner bedürfen, geben Sie mir Nachricht, ich stehe in jeder Stunde zu Ihren Diensten.”

Noch einmal beugte er sich zu ihr hinab, noch einmal küßte er ihr zum Abschied die Hand, dann war er fort, bevor sie es begriffen und bevor sie sich soweit gesammelt, daß sie ihn hätte zurückrufen können.

Als er gegangen, sank sie in ihren Stuhl zurück, stützte den Kopf auf die Rechte und wehrte den Thränen nicht, die ihr unaufhaltsam die Wangen hinunterrollten.

So war die Stunde also doch gekommen, vor der sie sich schon lange gefürchtet hatte, sie hatte kommen müssen, jetzt oder später, denn eine Leidenschaft läßt sich wohl zeitweise, aber nicht für immer unterdrücken. Sie sah in Gedanken seine hohe, stolze Gestalt vor sich, sie fühlte noch seine flammenden, beredten Blicke auf sich ruhen — ja, auch sie liebte ihn glühend, wie sehr, das empfand sie erst jetzt, da er von ihr gegangen war für immer. Nie würde er freiwillig zurückkehren, sein Stolz allein würde ihn daran verhindern und sollte er auch darüber an seiner Liebe zugrunde gehen. Und sie? Hatte sie recht gehandelt, war sie nicht vielleicht doch zu ängstlich, zu zaghaft gewesen? Hätte sie nicht doch die Hand, die sich ihr bot, freudig ergreifen sollen? War nicht selbst ein Leben voll Sorgen, voll Entbehrungen an der Seite des Geliebten begehrenswerter, als ein sorgloses Leben ohne ihn? Aber das Kind, Ihr Liebling, Sascha! Sollte auch er darben, sollte auch ihm eine glänzende Zukunft verschlossen bleiben, weil sie, der Neigung ihres Herzens folgend, die Stimme der Vernunft überhört hatte? Sollte auch sie zu jenen Frauen gehören, deren Egoismus größer ist als die Liebe zu den Kindern? Nein, und abermals nein. Sie hatte richtig gehandelt, mochte sie auch ihr eigenes Lebensglück geopfert haben.

So saß sie und sann und grübelte, ihre Thränen waren allmählich versiegt und eine glückliche Ruhe kam über sie, daß sie als Siegerin hervorgegangen war aus dem Kampfe zwischen Liebe und Pflicht. Stunde auf Stunde verrann, sie achtete nicht darauf, daß die Dunkelheit sich über die Erde breitete und daß ein starker Wind, von der See herauf kommend, schwarze, düstere Wolken am Himmel hin- und herjagte.

Der Eintritt der alten Dienerin weckte sie aus ihrem Sinnen: „Gnädige Frau, es ist spät, schon zehn Uhr, soll ich den Thee bereiten?”

„Gewiß, hole mir aber vorher Sascha, oder ist er schon zu Bett gegangen?=”

„Ich glaube wohl, gnädige Frau, ich habe ihn nirgends gesehen.”

Vera erhob sich schnell von ihrem Sitz, um sich in das Zimmer ihres Sohnes zu begeben. Es war dies eine nur kleine Kammer, dicht neben ihrem Schlafgemach, mit einem schrägen Dachfenster, durch das man einen weiten Blick über das Meer hatte. Leise stieg sie die Treppen hinauf, sie wollte ihren Liebling nicht in seinem Schlummer stören, nur leise, ganz leise wollte sie ihn küssen, nur noch einmal wollte sie mit weicher, liebevoller Hand sein dichtes Haar streicheln. Sie öffnete die Thür, der Luftzug, der durch das Tag und Nach geöffnete Fenster hereindrang, verlöschte das Licht. Vorsichtig näherte sie sich im Dunkeln seinem Lager und fuhr suchend mit der Hand über die Kissen — das Bett war leer.

„Sascha, wo bist Du?” rief sie heiter. Es war nicht das erstemal, daß er, der trotz seines ernsten Charakters seine Kindlichkeit bewahrt hatte, sich versteckte, wenn er die Schritte der Mutter hörte, um sich von ihr suchen zu lassen.

„Sascha, wo steckst Du denn?”

Keine Antwort erfolgte, im Dunkel tastete sie überall herum, auf den Fußspitzen näherte sie sich jener Ecke. „Sascha, wo bist Du, Dein Mamming kann Dich heute nicht finden?” Wieder blieb alles still und eine plötzliche Angst und Unruhe, die sie sich selbst nicht zu erklären vermochte, überfiel sie. Sie entnahm dem Behälter, der wie immer auf einem Stuhl neben dem Kopfende seines Bettes stand, ein Streichholz und zündete das Licht wieder an. Sie ließ ihre Blicke suchend durch den kleinen Raum schweifen, es war alles ordentlich und sauber wie immer, aber ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, daß dennoch etwas Besonderes vorgefallen sei. Da bemerkte sie ein Stück Papier, das mit einer Stecknadel an dem Tischtuch befestigt war. Neugierig streckte sie die Hand danach aus und löste den Zettel. Mit einem Schrei der wahnsinnigen Angst und des furchtbarsten Entsetzens taumelte sie zurück: „Markewitz,” war ihr erster Gedanke, „er muß helfen!”

Sie eilte die Treppe hinunter, sie dachte nicht mehr an das, was sie am Nachmittage mit ihm besprochen, daß sie sich von einander getrennt hatten, sie hatte nur noch die Empfindung, daß er allein helfen könne und müsse. In fliegender Hast ergriff sie Hut und Mantel, dann eilte sie durch die nur spärlich vom Gaslicht erleuchteten Straßen, sie achtete nicht auf den Regen, der in dichten Strömen zur Erde niederfiel und sie in wenigen Minuten vollständig durchnäßte, sie fühlte den Wind kaum, der heulend durch die Straßen pfiff und ihr den Hut vom Kopf riß, immer weiter eilte sie, bis sie endlich athemlos vor seinem Hause stand. Sie sah hinauf zu seinen Fenstern und ein „Gott sei Dank” entrang sich ihren Lippen — das Licht der Lampe schimmerte hell und freundlich drinnen. Sie zog die Glocke, sie hörte, wie der schrille Ton durch das Haus gellte, da öffneten sich auch schon oben die Fenster und seine ruhige, weiche Stimme fragte: „Wer ist da?”

„Markewitz, öffnen Sie die Thür, ich muß Sie sprechen, schnell, schnell.”

Schon bei den ersten Worten war er die Treppe heruntergestürzt, hatte die Hausthür geöffnet und sie in den Flur gezogen: „Gnädige Frau, Sie um diese Stunde und in diesem Aufzuge, was ist geschehen?”

Willenlos ließ sie sich von ihm in sein Zimmer hinaufführen und zu einer Chaiselongue geleiten. Er nahm ihr den nassen Mantel von den Schultern, hüllte sie sorgsam in sein Plaid und schob ein Glas warmen, dampfenden Thees vor sie hin.

Wortlos reichte sie ihm den Zettel hinüber, den sie in Saschas Zimmer gefunden und den sie krampfhaft in der Rechten gehalten hatte. Markewitz ergriff das Papier:

„Mein liebes, gutes Mamming, ich habe Alles gehört, was Du mit Onkel Markewitz besprochen hast. Du sollst glücklich werden. Ich gehe fort; wenn ich groß und erwachsen bin, komme ich wieder. Behalte lieb Deinen

Sascha.”

Er wollte lachen über diesen kindlichen Entschluß, über die Thorheit des Knaben, der in seiner grenzenlosen Liebe glaubte, durch seinen Fortgang irgendetwas ändern zu können, aber das Lächeln erstarb gar bald auf seinen Lippen. Nur zu gut kannte er Sascha und dessen trotzigen, festen Charakter, noch immer hatte er ausgeführt, was er sich einmal vornahm. „Ich will ein richtiger Mann werden,” hatte er einmal gesagt, „und ein Mann muß stets das thun, was er versprochen hat.” Schon oft hatte er bewiesen, daß er vor keiner Mühe und keiner Gefahr zurückbebte, um wieviel mehr würde er jetzt jedes Hindernis überwinden, da das Ziel, das er sich gesteckt, nichts geringeres war als das Glück seiner Mutter. Noch immer stand Markewitz in tiefes Sinnen versunken, während Frau von Smirninghoff, leise vor sich hin weinend, ihm gegenüber saß.

„Markewitz, um Gottes Willen, helfen Sie mir, was soll ich thun, um den Knaben wiederzufinden?”

Er sah sie ruhig an: „Sie, gnädige Frau, nichts. Ich werde anspannen lassen und Sie zu Hause der Pflege Ihrer treuen Dienerin übergeben, denn Sie bedürfen der Ruhe und der Schonung. Alles Uebrige überlassen Sie mir. Noch in dieser Stunde mache ich mich auf den Weg und das Eine schwöre ich Ihnen: „Entweder mit Sascha oder nie sehen Sie mich wieder.”

Es war ein Blick der grenzenlosesten Liebe und Dankbarkeit, mit dem sie zu ihm hinaufschaute und noch nie waren ihr seine Züge so ernst und männlich erschienen, wie in diesem Augenblick. Gerührt reichte sie ihm die Hand.

„Nun lassen Sie uns aber nicht länger zögern,” fuhr Markewitz fort, „und gebe Gott, daß ich Ihnen bald gute Nachricht schicken kann.”

Er schellte dem Diener: „Es soll sofort angespannt werden, die beiden Orloff. Wir fahren zuerst die gnädige Frau von Smirninghoff nach Hause, dann machen wir uns auf die Suche nach dem kleinen Sascha, der seit einigen Stunden spurlos verschwunden ist.”

In dem Gesicht des alten Dieners zuckte es schmerzlich auf, auch er liebte den munteren, fröhlichen Knaben, den erklärten Liebling Aller, mit denen er in Berührung kam. Der Diener verschwand. Markewitz machte sich zur Fahrt bereit und eine Viertelstunde später rollte der Wagen, nachdem Vera ihr kleines Häuschen erreicht hatte, in die dunkle Nacht hinaus. „Fassen Sie Muth,” bat Markewitz zum Abschied, „Sascha ist ja erst seit einigen Stunden fort, weit kann er bei seiner Jugend noch nicht gekommen sein. Schöpfen Sie wieder Hoffnung und glauben Sie mir, daß ich Ihnen Ihren Sohn bald zurückbringe.”

Aber Sascha, wohl wissend, daß man ihm folgen würde, hatte seine Flucht beschleunigt. Als er, im Garten arbeitend, die Unterredung wider Willen gehört und belauscht hatte, war in seinem jugendlichen, leicht erregbaren Herzen der Gedanke entstanden, daß mit seiner Flucht sich für seine heißgeliebte Mutter alles gut gestalten würde. Er hatte einen Augenblick geschwankt, seinen Vorsatz auzuführen, nicht seinet-, sondern seiner Mutter wegen, aber als er sie, nachdem Markewitz gegangen, weinend und traurig auf der Veranda hatte sitzen sehen und sich sagte: „Du kannst die Thränen trocknen — wenn Du nicht mehr bist, ist das Hindernis beseitigt,” war sein Entschluß befestigt worden. Leise war er die Treppe hinaufgegangen, hatte sich ein paar Sachen und den Inhalt seiner Sparbüchse eingesteckt und war, nachdem er den Zettel an seine Mutter geschrieben, aus dem Hause geschlichen, wohin, das wußte er vorläufig selbst noch nicht. Sein erster Gedanke war: an das Meer, dort, an den Dünen würde er am sichersten sein, dort würde ihn so leicht niemand finden und dort wollte er über das weitere Ziel seiner Flucht nachdenken. Unbekümmert um das Unwetter lief er den Strandweg entlang und plötzlich war ihm das Ziel seiner Wanderung klar: nach Deutschland wollte er fliehen; nicht weit von der Grenze, in der großen Handelsstadt wohnte seine Großmutter, zu der wollte er gehen, sie würde ihm weiter helfen. Vor vielen Jahren war er schon einmal mit seiner Mutter bei ihr gewesen. Der Weg dorthin war so klar und deutlich, immer am Wasser entlang, immer neben den Dünen her, ein Verirren war unmöglich. Tapfer schritt er durch den weichen, nassen Sand vorwärts, nicht entmuthigt durch die Aussicht auf die weite, beschwerliche Wanderung, die Liebe würde seine Kräfte erhöhen und verdoppeln. Tief sanken seine Füße bei jedem Schritt in den haltlosen Boden, der Sturmwind blies ihm entgegen und oft mußte er sich auf Minuten umwenden, um Athem zu schöpfen. Immer dunkler wurde es ringsum und herum, wie graue gespenstische Nebel zogen sich die Dünenketten zu seiner Linken hin und nur die weißen Wogenkämme, die ihm oft Gesicht und Haar benetzten, vermochte er zu unterscheiden. Allmählich verspürte er Müdigkeit und eine furchtbare Angst ergriff ihn. Er raffte seine ganze Energie zusammen, er wollte, er mußte weiter, sonst wäre alles verloren, und wieder gieng er eine Stunde nach der anderen, bis das Unwetter sich legte, die Morgenkälte seine Glieder durchfröstelte und endlich die Sonne mit hellem Schein durch die Wolken brach. Nun machte er Halt, setzte sich nieder und gönnte sich Zeit zur Stärkung. Er nahm das Brot, das er sich mitgenommen, aus seiner Tasche und trank von dem Wein, den seine Feldflasche barg. Er sah sich um: soweit das Auge reichte, nur Meer und Dünen, kein menschliches Wesen war zu erblicken, nur in weiter Ferne sah er mit seinen scharfen Augen einige Fischer, die mit ihren Booten zum Fang hinausgefahren waren. Neugestärkt wollte er sich erheben, aber seine Füße und Glieder schmerzten und eine übergroße Müdigkeit nahm plötzlich seine Sinne gefangen: „Nur nicht schlafen,” dachte er, „nur das nicht.” Er stand auf und wanderte weiter, aber wie ein Schlaftrunkener taumelte er hin und her. Nun kühlte er seine heiße Stirn und seine von dem scharfen Winde brennenden Augen mit dem kalten Meerwasser, für eine kurze Zeit erfrischte es ihn und muthig gieng er vorwärts. Da tauchte nicht weit vor ihm ein Fischerdorf auf, er sah die Bewohner mit der Arbeit am Strande beschäftigt.

„Sie werden mir helfen,” dachte er, „sie werden mich verstecken und verbergen, wenn ich ihnen Geld gebe. Bis zum Abend kann ich bei ihnen bleiben und mich dann im Dunkeln wieder aufmachen.”

Seine Sohlen brannten wie Feuer, er zog Stiefel und Strümpfe aus und badete seine Füße. Langsam und mühsam waren seine Schritte, er fühlte, daß es bald mit seinen Kräften zu Ende sei, die Glieder waren ihm wie zerschlagen. Er raffte seine Kräfte zusammen und lief, um die ersten Häuser zu erreichen. Muthig biß er die Zähe auf einander und sank endlich, wenige Schritte vor den Fischern, ohnmächtig zu Boden. Mitleidig hoben ihn die Leute auf und trugen ihn in eine Hütte.

Ein tiefer Schlaf bemächtigte sich des ermatteten Knaben. Er hatte seine Leistungsfähigkeit überschätzt. Als er nach einigen Stunden aus dem todesähnlichen Schlummer erwachte, saß Markewitz an seiner Seite, seine glühenden Hände in seiner Rechten. Sascha versuchte aufzuspringen und zu entfliehen.

„Onkel Markewitz, lass' mich gehen, ich muß fort, damit Ihr Beide, Du und mein Mamming, glücklich werdet. Wie kommst Du auf meine Spur?”

Liebevoll strich ihm Markewitz über das erregte Gesicht und zwang ihn durch seinen Blick auf die Kissen zurück.

„Sascha, mein Galupschick, bleibe ruhig bei mir! Die Zollwächter haben einen kleinen Jungen in Sturm und Regen am Strand entlang laufen sehen, aber ihn wegen der Dunkelheit trotz hrer Bemühungen nicht einzuholen vermocht! — Und was Du in dem thörichten Unverstand Deines guten Kinderherzens unternommen, hat mich in meinem tiefsten Innern beschämt. Wie Dir die Liebe Muth und Kraft gegeben hat, zu leiden und Strapazen zu ertragen, so wird mir die Liebe fortan Kraft und Lust zur Arbeit geben. Es wird mir gelingen, durchzuführen, was ich mir vorgenommen habe. Noch heute fährst Du zu Deiner Mutter zurück, ich aber gehe, um Arbeit zu suchen, die uns zusammenführen soll. Sag das Deiner Mutter — bald bin ich wieder bei Euch und dann, mein Sascha, werde ich so stolz auf Dich sein, wie es nur immer ein Vater auf seinen Sohn sein kann!”


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