Die Saatkrähe.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: Der höfliche Meldereiter.


Der Oberstleutnant von Wendtborn sah im Gegensatz zu vielen anderen Offizieren dem bevorstehenden Manöver mit der denkbar größten Ruhe und Gleichgültigkeit entgegen. Ursprünglich hatte auch sein Herz bei dem Gedanken an die bevorstehenden Prüfungen höher und unruhiger geschlagen, aber im letzten Augenblick hatte die Erkrankung zweier Stabsoffiziere eine Änderung aller getroffenen Dispositionen nötig gemacht, und bei dieser Gelegenheit entwickelte der Oberstleutnant von Wendtborn, wie man so sagt, mehr Glück als Verstand: er wurde für die ganze Dauer des Manövers der Flurbeschädigungs­kommission zugewiesen und zur „Saatkrähe” ernannt. Darüber freute sich der Oberstleutnant nicht schlecht, denn das Kommando, das ihm zugefallen war, ist eines der angenehmsten, die es im ganzen militärischen Leben gibt.

Als der Tag des Manövers heranbrach, rückte der Oberstleutnant mit einer Begeisterung in das Feld, wie noch nie zuvor. Die Aufgabe, die ihm bevorstand, war keine allzu schwere. — Er mußte darauf achten, daß die Truppen keine frisch bestellten Äcker betraten, und wenn aus irgendeinem Grunde dennoch Flurschaden angerichtet wurde, so mußte er mit den Bauern oder den Gutsherren wegen der zu zahlenden Entschädigung unterhandeln und den geforderten Preis nach Möglichkeit drücken.

Ein freier Herr, ritt der Oberstleutnant am ersten Tage im Gelände herum; ihm war ein älterer Oberleutnant gewissermaßen als Adjutant zugewiesen worden, und mit diesem unterhielt er sich über dienstliche und nichtdienstliche Angelegenheiten, während die Truppen im Schweiße ihres Angesichts die vom Gegner besetzten Stellungen zu erstürmen versuchten. Und kam das Signal zur Kritik, da ließ ihn das kälter als kalt, denn er wußte im voraus, daß sein Name bei der Besprechung gar nicht genannt werden würde.

Und die Kritiken sind die schönsten.

Da geschah es, daß der Armeeinspekteur, dessen Befehl das Armeekorps unterstellt war, für einen Tag seine Anwesenheit bei dem Manöver anmeldete. Natürlich rief die Nachricht große Aufregung hervor, denn der Armeeinspekteur war nicht nur Exzellenz, sondern sogar Königliche Hoheit, und jeder hatte selbstverständlich den Ehrgeiz, die Anerkennung des hohen Herrn finden zu wollen.

Seine Königliche Hoheit kam, und nachdem er eine besondere Gefechtsidee ausgegeben hatte, begann das Gefecht. Eine gewisse kriegerische Aufregung ergriff alle, nur den Oberstleutnant von Wendtborn nicht. Der ritt mit seinem Begleiter in der Welt herum, tauschte mit diesem und jenem Bekannten ein flüchtiges Begrüßungswort und überzeugte sich davon, daß die Strohwische, die das Betreten der frischbestellten Äcker verboten, noch gut auf ihrem Platze ständen: seine Aufgabe war es, daß die Strohwische auch respektiert würden.

Stunde auf Stunde verrann, und doch war ein Ende des Gefechts noch gar nicht abzusehen, denn noch hatte der kommandierende General, der dem hohen Gast zu Ehren heute das Detachement selbst befehligte, noch nicht einmal alle Truppem eingesetzt. Die Reservebrigade hatte ihre Gewehre noch zusammengesetzt und wartete des Augenblicks, in dem sie auf direkten Befehl Sr. Exzellenz in den Kampf eingreifen sollte.

Und endlich kam die große Minute. Mit verhängten Zügeln kam ein General­stabs­offizier herangesprengt und überbrachte den Befehl, sofort auf dem kürzesten Wege zur Umfassung des feindlichen linken Flügels vorzurücken. Die Schläfer sprangen in die Höhe, die Kommandos ertönten und gleich darauf trat die Brigade an. An der Spitze seiner Truppen ritt der Herr General mit seinem Adjutanten, um den kürzesten Weg für den Vormarsch ausfindig zu machen. Wie so manchem schlug auch ihm das Herz am heutigen Tage etwas höher, denn wenn er auch den Wunsch hatte, Divisionär zu werden, so wußte er nicht, ob sein Wunsch in Erfüllung gehen würde, sintemalen die Vorgesetzten und die Untergebenen über ein und dieselbe Sache häufig ganz verschiedene Ansichten haben. Aber noch gab er sich nicht für verloren. Gelang es ihm heute, rechtzeitig mit seiner Brigade in das Gefecht einzugreifen und dadurch einen Sieg herbeizuführen, so stand ihm — wie es in den Kriegsartikeln heißt — nach Maßgabe seiner Befähigungen der Weg zu den höchsten Ehrenstellen im Heere offen. Er wollte seine Sache gut machen, und das, was ein General sich vornimmt, pflegt er in den meisten Fällen auch durchzuführen.

Auf einer kleinen Anhöhe machte der Herr General Halt und sah sich forschend um. „Hm, hm,” sagte er endlich, „es scheint mir nicht nur das Bequemste, sondern bei weitem auch das Nächste zu sein, wenn wir hier querfeldein gehen.” Und mit der ausgestreckten Rechten wies er auf einen Acker, der sich in endloser Länge und Breite vor ihm ausdehnte.

Der Adjutant war ganz derselben Ansicht, aber dennoch widersprach er: „Herr General, ich glaube nicht, daß wir das Feld betreten dürfen; es scheint bestellt zu sein, wenigstens sind Strohwische angebracht.”

Das wußte der General genau so gut wie sein Adjutant; aber es wollte ihm absolut nicht in den Sinn, daß er den Acker, der ihm so schön bequem lag, nicht betreten sollte. So tat er denn, als erzählte ihm der Adjutant die größte aller Neuigkeiten und an die letzte Bemerkung seines Begleiters anknüpfend, fragte er: „Wo sind Strohwische? Ich sehe keine!”

Und er sah auch wirklich keine, denn er blickte absichtlich überall hin, nur nicht dahin, wo die Wahrzeichen aufgestellt waren.

„Ich sehe nichts,”wiederholte der General nach einer kleinen Pause, „und wenn schon — ich gehe über das Feld.”

Der Adjutant räusperte sich mit jener Bescheidenheit, die einem Untergebenen in der Nähe des Vorgesetzten wohl ansteht: „Die Sache kann unter Umständen sehr viel Geld kosten, Herr General.”

Unwillig drehte sich der Vorgesetzte auf seinem Pferde um. „Bezahlen Sie denn etwa die Strafe oder bezahle ich sie?” fragte er. „Erstens ist noch gar nicht gesagt, daß wir wirklich Flurschaden machen, denn, wie gesagt, ich sehe keine Strohwische, und wenn schon — es ist besser, ich bezahle aus eigener Tasche ein Goldstück, als daß ich mir hinterher bei der Kritik sagen lassen muß, ich wäre zu spät gekommen.”

„Daß die Sache mit einem einzigen Goldstück abgetan ist, möchte ich bezweifeln,” dachte der Adjutant, aber er hütete sich, etwas zu sagen, denn er sah, daß sein Brotherr sich nicht in der besten Laune befand: der kämpfte mit sich selbst einen schweren Kampf, ob er das verbotene Gelände betreten sollte oder nicht — aber schließlich siegte doch die Hoffnung, dadurch dem Gegner unvermutet schnell in die Flanke zu fahren. So wartete er, bis die Spitze seiner Brigade in Sicht kam, dann rief er stolz: „Mir nach!” und wenig später befanden sich die beiden Regimenter auf verbotenem Grund und Boden.

„Ein wahres Glück, daß wir von unserem General hierher geführt sind,” dachten die berittenen Offiziere, „sonst würden wir schön in den Wurstkessel kommen. Aber der General muß ja wissen, was er tut.”

Und der wußte das auch ganz genau: er hatte ein sehr schlechtes Gewissen und die unangenehme Empfindung, daß verbotene Wege zwar manchmal sehr angenehm, aber immerhin doch verboten seien. Und um so wenig wie möglich an das Unrecht, das er beging, erinnert zu werden, sah er sich gar nicht um, sondern blickte beständig auf seinen Sattelknopf — er wollte gar nicht sehen, wo er sich befand.

„Herr General — Herr General!” erklang es da plötzlich ganz laut.

Der Brigadier sah gar nicht auf. Ein Vorgesetzter war es nicht, der ihn da anrief, die Stimme kannte er, und ein Untergebener hat ihn überhaupt nicht anzurufen, der hatte gefälligst zu warten, bis er selbst angerufen wurde.

„Herr Geeeeeeeeeee — neeeeeee — raaaaaaaal!” erklang es noch einmal.

Aber der hörte auch diesmal nicht.

„Der Herr General werden angerufen,” erlaubte sich der Adjutant ganz gehorsamst zu bemerken.

„Ich?” Anscheinend auf das äußerste verwundert, blickte der Vorgesetzte auf. „Ich?” wiederholte er, „das müßte ich doch gehört haben — wer ruft mich denn?”

Der Adjutant hatte sich schon vorher umgesehen, und so sagte er: „Dort auf dem Wege hält der Oberstleutnant von Wendtborn, die Saatkrähe, ich meine selbst­verständlich die Flurbeschä­digungs­kommission, ich glaube, der hat gerufen.”

„So? — Glauben Sie?” fragte der General so gleichgültig wie nur möglich, obgleich sein schlechtes Gewissen etwas höher schlug. „Ihr Glaube ist in diesem Falle nicht mein Glaube, und ich glaube, Sie irren sich.”

Und, sich im Sattel umdrehend, gab er den Befehl, das Marschtempo zu beschleunigen — wenn er den Acker erst hinter sich hatte, konnte der Oberstleutnant ihn ruhig darauf aufmerksam machen, daß es verboten sei, das Feld zu betreten, dann war es zu spät.

„Herr General!” ertönte es noch einmal. Es klang wie der Schrei eines Menschen, der sich unter allen Umständen bemerkbar machen will. Mann hörte ordentlich, wie dem Rufer bei der gewaltigen Anspannung der Lungen die Brust weh tat.

„Was hat der Oberstleutnant denn nur?” fragte der General. „Wenn er etwas will, kann er doch zu mir kommen — er kann doch unmöglich von mir verlangen, daß ich zu ihm hinreite.”

„Und ich reite erst recht nicht freiwillig zu ihm,” dachte der Adjutant, „und daß der Herr General mich hinschickt und fragen läßt, was die Saatkrähe von uns will, glaube ich bei näherer Prüfung der Sachlage bezweifeln zu dürfen.”

Und der Adjutant behielt recht, sein Herr schickte ihn nicht fort.

Unterdes hielt der Oberstleutnant von Wendtborn auf der Chaussee und schrie sich beinahe die Seele aus dem Leib. Vor einer guten Stunde hatte der Besitzer des Ackers ihn noch gebeten, in aller Strenge darauf zu halten, daß keines Soldaten Fuß das frisch besäte Feld beträte — und nun marschierte der General mit einer ganzen Brigade auf dem verbotenen Gelände herum. Das war eine Sache, die unter Umständen tausend Mark und mehr kosten konnte. Und wer sollte die bezahlen? Der Staat? Der würde den Herrn General für den Schaden verantwortlich machen, und der Herr General würde sich an den Oberstleutnant wenden und ihm sagen: „Wenn mich kein Mensch darauf aufmerksam macht, daß ich das Feld nicht betreten darf, dann kann sich auch niemand wundern, wenn ich es tue.”

So würde der Herr General sprechen, und im Geiste sah sich der Herr Oberstleutnant um einen braunen Lappen erleichtert.

Und um das Geld zu retten, rief er mit dem Heldenmut der Verzweiflung weiter. Am liebsten wäre er hingeritten und hätte den Herrn General auf sein Vergehen aufmerksam gemacht, aber es ging doch nicht. Auf der jenseitigen Seite der Chaussee war nämlich ein sehr breiter Graben. Allein wären sowohl der Herr Oberstleutnant wie sein Gaul hinübergekommen, aber zusammen ganz bestimmt nicht. Die beiden hätten Abschied voneinander genommen, und da man bei einer Trennung nie weiß, wann und wo man sich wiedersieht, hielt der Oberstleutnant es für zweckmäßiger, sich gar nicht erst mit Abschieds­gedanken zu tragen, zumal die im Manöver immer etwas Verfängliches haben. Wenn nur wenigstens sein Oberleutnant bei ihm gewesen wäre — aber den hatte er mit einem besonderen Auftrag fortgeschickt, und es war ganz unbestimmt, wann der zurückkam.

Der Herr General marschierte weiter und weiter und hatte die Hälfte des Ackers schon hinter sich. Der Oberstleutnant rief immer noch. Er war schon so heiser, daß er selbst kaum noch seine Stimme hörte. aber trotzdem hielt er es für seine Pflicht, immer weiter zu rufen, Die Töne, die er von sich gab, waren so kläglich, daß selbst sein alter Rappe den Hals wandte und seinen Herrn mit traurigen Augen mißbilligend ansah.

Noch einmal machte der Oberstleutnant den Versuch, sein Pferd zu bewegen, wenn auch nicht über den Graben zu springen, so doch wenigstens durch denselben hindurchzuklettern. Aber der Gaul wollte nicht, er schüttelte den Kopf, und da wußte sein Herr, daß aller Liebe Mühe umsonst wäre. So ließ der Herr Oberstleutnant den Herrn General ziehen, wohin er wollte und tröstete sich mit dem Gedanken: bei der Kritik sehen wir uns wieder.

Und da sahen sie sich wirklich, und der Oberstleutnant war Ohrenzeuge, wie der Herr General wegen seines unerwartet schnellen Eingreifens in das Gefecht und wegen der geschickten Ausnutzung des Geländes uneingeschränktes Lob erntete.

„Sehr gut, ganz ausgezeichnet,” lobte Seine Königliche Hoheit, und die anderen hohen Vorgesetzten stimmten aus vollster Überzeugung dem Urteil des Armeeinspekteurs bei.

Der Herr General richtete sich im Sattel immer höher und höher auf, er wurde immer größer und größer, und er vergaß ganz, daß er auf verbotenen Wegen gewandelt sei. Aber mit einem hörbaren Ruck sank er in sich zusammen, als plötzlich mitten zwischen den hohen Offizieren die kräftige Gestalt eines Landmannes auftauchte, die drohend in der Rechten einen dicken Stock schwang.

„Das ist er, Excellenz, das ist er,” begann er seine Rede, auf den General zeigend, „der hat mir meine ganze Aussaat vernichtet, das habe ich nicht nötig, mir gefallen zu lassen, bezahlen muß er, daß ihm die Augen übergehen, und bezahlt er nicht freiwillig, dann verklage ich ihn durch alle Instanzen!”

Endlich gelang es, den Aufgeregten zu besänftigen und zu beruhigen; dann aber wandte sich Seine Königliche Hoheit an den Herrn General: „Was ich da höre, ist mir sehr, sehr unangenehm. Selbstverständlich muß dem Mann der Schaden voll ersetzt werden. Wer von den Herren gehört denn eigentlich zur Flurbeschä­digungs­kommission? Sie, Herr Oberstleutnant von Wendtborn? Schön, sehr schön. Bitte, setzen Sie sich nachher sofort mit dem Manne in Verbindung und versuchen Sie festzustellen, wen die Schuld an dem entstandenen Schaden trifft. Eins verstehe ich nicht. Es muß Ihnen doch bekannt gewesen sein, Herr Oberstleutnant, daß der Acker nicht betreten werden durfte. Warum haben Sie den Herrn General nicht veranlaßt, umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen? Warum sind Sie nicht zu ihm hingeritten, und warum haben Sie ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, daß er sich auf verbotenen Pfaden befände?”

Erwartungsvoll sah der hohe Herr den Untergebenen an, und mit Seiner Königlichen Hoheit blickten alle Exzellenzen und alle anderen Vorgesetzten neugierig auf den Etatsmäßigen; am neugierigsten aber war der Herr General, was die Saatkrähe sagen würde.

Aber der Herr Oberstleutnant schwieg sich aus. Er hielt die schönste aller Verteidigungsreden, aber leider hörte sie kein Mensch, nicht einmal er selbst, denn er hatte sich so heiser geschrien, daß er trotz aller Anstrengung nicht imstande war, auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben. Die Schuld blieb vorläufig auf ihm haften, aber bezahlen tat sie später der General, der unter den schützenden Fittichen der Saatkrähe den Flug ins Höhere, zum Divisions­kommandeur, nahm. Die gänzliche Stimmlosigkeit der Saatkrähe war für ihn die beredteste Fürsprache gewesen.


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