S. M. kommt!

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Colonia”, Sonntagsbeilage zum „Kölner Localanzeiger”, vom 19.1.1913,
in: „Mußestunden”, Tägl. Unterhaltungsblatt zur „Dortmunder Zeitung”, vom 22.1.1913,
in: „Mülheimer Zeitung” vom 10.2.1913,
in: „S. M. kommt!”


Der Herr Oberst hatte das seinem Kommando unterstellte Infanterieregiment mobil gemacht und ließ auf dem großen Kasernenhof Parademarsch üben, daß es schon nicht mehr schön war. Aber es mußte noch schöner werden, wenigstens der Parademarsch, denn kein Geringerer, als ein König von Gottes Gnaden, der Chef des Regiments, hatte seinen Besuch, den er auf der Durchreise der Truppe abstatten wollte, offiziell mitteilen lassen. Das Programm stand in seinen Einzelheiten noch nicht fest, aber daß der Parademarsch nicht fehlen würde, war ja selbstverständlich. So wurde denn schon heute damit angefangen, den zu üben, denn wenn auch noch drei Wochen vergehen würden, ehe S. M. kam — — besser war immer besser.

Der Parademarsch war nach der festen Überzeugung des Herrn Oberst bei allen Zügen miserabel, aber am allermiserabelsten war er bei dem Zuge des Leutnants von Bachwitz. Das war ja aber auch weiter gar kein Wunder, denn wie sollten die Leute gut marschieren, wenn ihnen ihr Leutnant mit einem so schlechten Beispiel voranging? Und der Leutnant marschierte tatsächlich drei Prozent unter jedem Schweinehund. Lag es an seiner Haltung, an seinem Beinsatz, oder sonst an etwas anderem, das wußten die Vorgesetzten selbst nicht, die wußten nur so viel: dieser Parademarsch war der reine Hohn und er blieb es auch trotz aller ermahnungen und trotz allen Tadelns, denn der Leutnant, der sich die wahnsinnigste Mühe gab, konnte nicht besser marschieren.

Und als der Leutnant nun mit seinen Leuten vorübermarschierte, da faßte der Herr Oberst alles, was ihn im stillen beschäftigte, zusammen in das Wort: „Unmöglich!”

Und diesem „Unmöglich” verdankte es der Leutnant von Bachwotz, daß er zum erstenmale, solange er Offizier war, mit seinen Leuten bei dem Parademarsch nicht zurückgeschickt wurde. Über diesem „Unmöglich” hatte der Herr Oberst es ganz vergessen, ihm zuzurufen: „Zurück — Marsch, Marsch”.

Der Leutnant war nicht zurückgeschickt worden und dafür gab es nach seiner Überzeugung nur eine Erklärung: sein Marsch war gut gewesen. Stolz und Freude schwellten seine Brust und ganz glücklich sah er seine Kerls an, die ihn ihrerseits ganz blödsinnig anglotzten, weil sie das Wunder nicht begreifen konnten, daß sie diesesmal nicht mitsamt ihrem Leutnant zurückgeschickt worden waren.

„Wir dürfen ihn nicht mehr tadeln, meine Herren, sondern wir müssen ihn loeben,” sagte der Herr Oberst unterdessen zu den Offizieren, die neben ihm hielten, „wir müssen ihn fortwährend loben, denn wenn Seine Majestät, unser hoher Chef, diesen Parademarsch sieht, dann bekommt er unfehlbar vor Entsetzen einen Herzschlag.”

Nur der Her Oberst in seiner Weisheit wußte, weshalb der Leutnant nun plötzlich gelobt werden sollte, aber der wurde gelobt, und als Leutnant von Bachwitz bei dem nächsten Vorbeimarsch mit seinen Leuten vorüber kam, da rief ihm der Herr Oberst ganz laut zu: „Bravo, Herr Leutnant, so ist es gut, sogar sehr gut.”

Und der Herr Major und der Herr Hauptmann eilten dem Leutnant nach, um ihm auch ihrerseits ein lautes Lob zu spenden.

Und das wiederholte sich nicht nur heute, sondern auch fortwährend in den nächsten Tagen.

Der Leutnant schwamm in einem Meer von Entzücken. Es ist wahrhaftig kein Vergnügen, sich tagaus, tagein wegen einer Sache, die man bei dem besten Willen nicht ändern kann, von den Vorgesetzten anschnauzen zu lassen. Mehr als hundertmal hatte der Leutnant es schon verwünscht, Offizier geworden zu sein. Nun wurde er endlich seines Lebens froh. Seine Freude kannte keine Grenzen, er fühlte sich erlöst von einem schweren Druck, der ihm bisher sein junges Leben verbittert hatte. Sein Parademarsch war und blieb gut. Durch einen Zufall mußte er ganz von selbst hinter das Geheimnis des Marsches gekommen sein, denn ein lautes „Bravo” lohnte ihn immer aufs neue, wenn er mit seinen Mannschaften vorbeidefilierte.

Da geschah ees eines Abends, als er im Kasino mit dem Oberstabsarzt, einem eingefleischten Junggesellen, und mit dem dazugehörigen Dritten seinen Skat spielte, daß der Oberstabsarzt ganz plötzlich zu ihm sagte: „Sie sehen schlecht aus, Bachwitz, ich glaube, Sie bummeln zuviel.”

„Aber ich denke doch garnicht daran,” verteidigte der sich.

„Dann steckt Ihnen sonst etwas in den Gliedern,” meinte der Oberstabsarzt, „ich sehe es an dem matten Glanz der Pupillen. Na, sprechen wir ein anderes Mal darüber, jetzt gilts, einen Grand mit vieren, schwarz angesagt. Ich will Euch jungen Leuten schon zeigen, was eine Harke ist.”

Aber als der Grand gewonnen war, kam der Oberstabsarzt doch wieder auf das Thema zurück. Zuerst leise und vorsichtig, bis er dann endlich bat: „Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, Bachwitz, dann lassen Sie sich morgen mal von mir untersuchen, lediglich der Wissenschaft halber. Es würde mich interessieren, festzustellen, ob das, was ich vermute, auch zutrifft. Stellen Sie sich für meine wissenschaftlichen Zwecke zur Verfügung, zur Belohnung bekommen Sie dann hinterher eine Flasche Sekt.”

„Wenn ich mir die so leicht verdienen kann, warum nicht,” meine Bachwitz, und am nächsten Nachmittag klopfte der Oberstabsarzt an ihm herum, preßte ihm sämtliche Finger in die Rippen, bald hier, bald dort, um immer aufs neue zu fragen: „Tut das weh?”

Und als der Oberstabsarzt dem Leutnant wieder einmal seine großen starken Finger absichtlich mit aller Gewalt in die Weichteile gepreßt hatte, da tat es wirklich weh.

Der Oberstabsarzt machte ein freudestrahlendes Gesicht: „Na, habe ich es nicht gleich gesagt, daß Ihnen was feht?” Und ganz glücklich setzte er hinzu: „Ihre Nieren scheinen nicht völlig in Ordnung zu sein.”

Der Leutnant bekam es unwillkürlich mit der Angst und so rief er denn dem Oberstabsarzt zu: „Na, seien Sie so freundlich!”

„Bin ich auch,” gab der zur Antwort. „Im übrigen werden Sie daran in den nächsten fünfzig Jahren wohl nicht sterben, aber gleichviel, Vorsicht schadet nichts. Ich werde morgen früh einmal Ihren Urin untersuchen und von dem Ergebnis wird das weitere abhängen.”

Und das Ergebnis war, daß der Leutnant wenigstens vorläufig die Flasche Sekt nicht bekam, auf die er sich während der ganzen Untersuchung gefreut hatte: „Sie müssen sich den Sekt für die nächsten Wochen vollständig abgewöhnen, überhaupt im Trinken sehr mäßig sein. Nur ganz leichter Mosel mit Selterwasser und vor allen Dingen sofort ins Bett. Nicht, weil Sie ernstlich krank sind, sondern damit Sie es nicht werden. Unter keinen Umständen dürfen Sie jetzt Dienst tun, und dieses blödsinnige Parademarschüben ist absolut nichts für Sie, damit können Sie sich den schönsten Knacks holen. Wenigstens für die nächsten acht Tage bedürfen Sie absoluter Ruhe, dann werden wir weiter sehen.”

Leutnant von Bachwitz sträubte sich mit Händen und Füßen, er hatte nicht die leiseste Lust sich ins Bett zu legen, er fühlte sich absolut nicht krank, aber der Oberstabsarzt machte sein ernsthaftestes Gesicht: „Lieber Freund, mit den Nieren ist nicht zu spaßen, die Sache endet fast immer mit einem Herzschlag. Ihre Nieren sind vorläufig nur etwas angegriffen, ich verpflichte mich, die vollständig auszuheilen, aber nur, wenn Sie meinen Rat befolgen.”

So zog denn der Leutnant seine Uniform aus, zog sich statt des bunten Rockes ein langes, weißes Nachthemd an, legte sich zu Bett und schluckte die Medizin, die der Oberstabsarzt ihm verordnet hatte und die zwar völlig harmlos war, aber trotzdem niederträchtig schmeckte, damit der Leutnant endlich selbst zu der Überzeugung käme, daß er krank wäre.

Aber je länger der Leutnant über sein Leiden nachdachte, desto klarer wurde ihm, daß ihm nichts fehle. Und mit einemmale wußte er auch, warum man ihn zuerst fortwährend gelobt und hinterher doch in das Bett gesteckt hatte: Er sollte mit seinem schlechten Parademarsch bei dem hohen Chef des Regimentes kein Ärgernis erregen.

Das ärgerte den Leutnant natürlich gewaltig, aber er machte trotzdem wieder ein frohes Gesicht, als sein Bursche ihm eines Tages meldete, Seine Majestät der König habe den angemeldeten Besuch wieder abgesagt.

„Nun könnt Ihr etwas an mir erleben,” dachte der Leutnant. „Wenn Ihr glaubt, daß Ihr mich nun in vierundzwanzig Stunden wieder gesund habt, dann irrt Ihr sehr.”

Und daß er sobald wie irgend möglich wieder gesund werden sollte, bewiesen ihm die Worte, mit denen ihn der Oberstabsarzt bei seinem Erscheinen begrüße: „Nicht wahr, lieber Freund, es geht Ihnen heute doch wesentlich besser?”

Der Leutnant blickte anscheinend ganz überrascht auf: „Warum soll es mir denn heute plötzlich soviel besser gehen? Im Gegenteil, ich fühle mich heute hundsmiserabel.”

Der Oberstabsarzt machte ein ganz verdutztes Gesicht. „Nanu,” sagte er endlich völlig verwundert, „was fehlt Ihnen denn, wo haben Sie denn Beschwerden?”

„Selbstverständlich in den Nieren,” lautete die Antwort.

„Aber die sind doch vollständig gesund, das bißchen Gries, das ich bei der Untersuchung fand, schadet garnichts, dabei können Sie wenigstens hundert Jahre alt werden,” wollte der Oberstabsarzt zur Antwort geben, aber er mußte das alles verschweigen. Ja, er mußte sogar so tun, als ob der gesunde Kranke wirklich Schmerzen haben könne, und so untersuchte er den aufs neue, ohne irgendwelche Krankheitssymptome zu finden. Dann aber meinte er: „Sie müssen sich irren, Herr Leutnant, Sie waren krank, wie krank, das weiß ich am besten, aber jetzt sind Sie vollständig genesen und spätestens in drei Tagen können Sie wieder Dienst tun.”

„Glauben Sie das wirklich?” meinte der Leutnant, „halten Sie es im Interesse meiner Gesundheit nicht für besser, Herr Oberstabsarzt, daß ich einen sechswöchigen Erholungsurlaub erhalte? Sie haben es ja selbst eben erklärt, Sie wüßten am besten, wie krank ich war, da werden Sie es doch garnicht verantworten können, mich schon gleich wieder in den Dienst zu schicken.”

„Hm — hm,” machte der Herr Oberstabsarzt. Dann nahm er, wie immer, wenn er besonders scharf sehen wollte, seine Brille ab, und als er dann dem Leutnant in die Augen blickte, da sah er es: Der Leutnant wußte alles. Aber wenn er, der Oberstabsarzt, der heute Mittag von dem Herrn Oberst den strengen Befehl erhalten hatte, den Leutnant innerhalb von drei Tagen wieder gesund zu machen, diesem damit kam, daß der Leutnant einen sechswöchigen Urlaub verlangte, dann konnte er im Regimentsbüro etwas erleben. So versuchte er denn auf alle nur mögliche Art und Weise, dem gesunden Kranken jeden Urlaubsgedanken auszureden, aber der bestand mit solcher Hartnäckigkeit auf seinem Urlaub, daß der Oberstabsarzt sich sage: „Wenn wir ihm den nicht freiwillig geben, dann macht er einen Riesenkrach und dann sind wir alle blamiert.”

So zog der Herr Oberstabsarzt denn sehr bedrückten Herzens auf das Regimentsbüro, um dort Meldung zu erstatten, und als er das getan hatte, bekam der Herr Oberst beinahe einen Schlaganfall: Sechs Wochen Urlaub wollte der Leutnant haben? Sechs Wochen brauchte er, um gesund zu werden, obgleich er garnicht krank war? Da hörte sich denn doch alles auf. Aber als der Oberst dann erfuhr, daß der Leutnant es erraten habe, warum er sich hatte krank melden müssen, da dachte der Vorgesetzte wesentlich anders. Damit der Leutnant seinen Mund hielt, erwirkte er ihm den erbetenen Urlaub; aber eins nahm er sich fest vor, sobald der Leutnant vom Urlaub zurück war, wollte er den bei dem Parademarschüben anfahren, daß ihm die Lust vergehen sollte, zum zweitenmal um Erholungsurlaub zu bitten.

Das tat der Oberst denn auch, als der Leutnant wieder zurück war, aber der nahm sich den Anschnauzer so zu Herzen, daß er abermals nierenkrank wurde und sich zu Bett legte. Und das tat er auch in Zukunft, so oft er wegen seines Parademarsches einen hereingewürgt bekam. So blieb dem Oberst nichts anderes übrig, wenn auch sehr gegen seine Überzeugung, den Parademarsch fortan zu loben. Das half und voller Ingrimm mußte sich der Oberst eingestehen, daß sein Leutnant ihm in der Schläue ganz bedeutend überlegen war. Der Trick, den der Herr Oberst sich ausgedacht hatte, um es zu verhindern, daß sein Leutnant sogar bei dem Besuch Seiner Majestät unangenehm auffiel, war jetzt der Trick seines Leutnants geworden, mit dem dieser sich vor jedem Tadel bei dem Parademarsch schützte, selbst dann, wenn Seine Majestät garnicht daran dachte, seinen Besuch anzumelden!


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