Die Rübe.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Indiana Tribüne” vom 30.12.1900
(unter dem Titel „Die Generalshose”),
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 13.4.1901,
in: „Zurück — marsch, marsch!” und
in: „Meine Kabarettgeschichten”


Leutnant Wurm war das, was man im allgemeinen und im besonderen „eine Rübe” nennt. Er trug die Epauletts nun schon vier Jahre auf seinen Schultern, aber er hatte sich in dieser Zeit weder innerlich noch äußerlich zu seinem Vorteil verändert. Er war keine beauté; er war klein von Figur, er war fast zu klein für einen Offizier, der den großen Mannschaften seines Zuges allein schon duch das Auftreten vor der Front imponieren soll — groß an ihm war nur der Kopf, der in gar keinem Verhältnis zu den übrigen Abmessungen seines Körpers stand, und noch größer als groß waren seine Ohren. Nein, er war nicht schön — um so mehr hatte er nach der Meinung seines Herrn Oberst die verd—ammte Verpflichtung, in jeder Hinsicht seine Schuldigkeit zu tun und zu beweisen, daß man trotz eines solchen Exterieurs ein hervorragender Offizier sein kann(1).

Wäre Wurm ein gewöhnliches Muskeltier, ein Musketier gewesen, so hätte das Urteil seiner Vorgesetzten über ihn gelautet: dick, dumm, faul und gefräßig; da er aber den Vorzug hatte, Leutnant zu sein, drückte man sich über ihn etwas gebildeter aus: Neigung zur Korpulenz, wenig beanlagt, phlegmatisch, starker Esser; das klang zwar etwas anders, war aber im Grunde genommen genau dasselbe.

Für die Untergebenen ist es ein Glück, oder ein Unglück, — es kommt darauf an, von welcher Stelle man die Sache betrachtet — daß die Vorgesetzten über dieselbe Sache ganz verschiedene Ansichten haben, und so ging es ihnen auch mit ihrem Urteil über Leutnant Wurm. Die einen, an der Spitze monsieur le commandeur, der Herr Oberst, hielten ihn für dumm, die anderen, an der Spitze sein Major und Bataillons­kommandeur hielten ihn für äußerst helle. Wie immer, lag auch hier die Wahrheit in der Mitte: er war keine Leuchte der Wissenschaft, aber er war auch nicht auf den Kopf gefallen; er hatte immer guten Mutterwitz und zuweilen Einfälle, um die ihn ein weit Klügerer hätte beneiden können.

Ebenso schlecht wie ihn sein Oberst behandelte, ebenso sehr protegierte ihn sein Major. Wurm war bei seinem Major enfant gâté, und wo dieser ihm ein fremdes Kommando, das zwar nicht immer ehrenvoll war, aber dafür häufig eine Kommando–Zulage einbrachte, „zuschanzen” konnte, tat er es, und so war es denn auch natürlich, daß Wurm Fourier–Offizier(2) wurde, als er in das Manöver gehen sollte.

Als der Herr Oberst davon erfuhr, konnte er es nicht fassen, daß der Bataillons­kommandeur gerade der Rübe ein so schweres und verantwortliches Amt anvertrauen wollte, und vorübergehend dachte er daran, dieser Wahl seine Bestätigung vorzuenthalten. Dann aber besann er sich eines anderen, denn auch die Vorgesetzten ändern zuweilen ihre Ansicht: „Wenn der Major mit ihm glücklich werden will, meinetwegen, hoffentlich wird das Resultat ein derartiges, daß auch dem Bataillons­kommandeur endlich die Augen darüber aufgehen, welche Rübe er sich groß zieht — ich bin begierig, wie die Sache endet.”

Und auch Wurm selbst war sehr begierig, ob es ihm gelingen werde, die ihm anvertraute schwierige Aufgabe zur Zufriedenheit aller Beteiligten zu lösen, denn Fourier–Offizier zu sein, ist das schwerste, so man hat. Jeder Kamerad und nun erst jeder Hauptmann hat seinen besonderen Wunsch. Geduldig hörte Wurm alle Wünsche an, die ihm in dieser Hinsicht auseinander gesetzt wurden, und obgleich er auch nicht im entferntesten daran dachte, allen Anforderungen gerecht zu werden, beruhigte er jeden mit den Worten; „Was gemacht werden kann, wird gemacht.”

Die Hauptsache für ihn bestand darin, seinen Major in jeder Hinsicht zufrieden zu stellen; einmal setzte er seinen Stolz darein, das in ihn gesetzte Vertrauen zu erfüllen, dann aber sagte er sich auch, daß sein Bataillons­kommandeur trotz aller freundschaftlichen Gesinnungen s—ehr grob werden würde, wenn er nicht stets die besten Quartiere erhielte.

Jeder Vorgesetzte verlangt von seinem Fourier(3) in jedem Ort das beste Quartier — ach, und eins gibt es doch nur. Darin aber, dieses eine für seinen Brotherrn mit vieler List und Tücke zu erobern, es fest zu halten und sich von keinem anderen wieder fortnehmen zu lassen, darin besteht die große Kunst, die viele üben, aber nur wenige lernen.

„Ich muß etwas ganz Neues, etwas ganz Eigenartiges erfinden,” sagte sich Wurm, „wenn ich mein Ziel erreichen will.”

Er legte sich auf seine Chaiselongue, zündete sich eine Zigarre an, sah den blauen Rauchwolken nach und zermarterte sein Gehirn.

Der ersten Havanna war schon lange die zweite gefolgt und dieser die dritte; unruhig wälzte er sich auf seiner Lagerstätte hin und her.

„Heureka! Ich hab's,” rief er plötzlich frohlockend, „wär' der Gedank' nicht so verflucht gescheit, man wär' versucht, ihn herzlich dumm zu nennen — so heißt es ja wohl. Entweder glückt's, oder es geht schief, ein drittes gibt es nicht.”

Mit der Gelenkigkeit eines Parterre–Gymnastikers sprang er in die Höhe und setzte sich an seinen Schreibtisch, um trotz der späten Stunde noch einen Brief an seinen alten Herrn zu schreiben, der als Exzellenz a.D. in einem Pensionopolis lebte und der bis an sein Lebensende auf der ganzen Welt weiter nicht mehr zu tun hatte, als seine Hunde spazieren zu führen und über seine Verabschiedung zu schelten.

*         *         *

Es war vier Wochen später, am vorletzten Manövertag. Auf einem Feldherrnhügel hielt Wurms Oberst, der als ältester Regiments­kommandeur heute die Brigade führte, und neben ihm Wurms Bataillons­kommandeur, der an Stelle des erkrankten Vorgesetzten der Regimentsführer war.

Der Herr Oberst befand sich in der denkbar schlechtesten Laune, selbst sein Adjutant, der während seiner nun bald dreijährigen Tätigkeit wirklich nicht durch gute Behandlung verwöhnt war, mußte sich eingestehen, seinen Brotherrn noch niemals in einer derartigen Stimmung gesehen zu haben. Schlau wie er war, hielt er deshalb auch nicht neben seinem Kommandeur, sondern weit hinter ihm.

Alles auf Erden hat seinen mehr oder weniger stichhaltigen Grund und seine Veranlassung — so auch die Mißstimmung des Regiments­kommandeurs. Er hatte gestern mit seinem Stabe in demselben Orte gelegen wie das Bataillon, dessen Kommandeur neben ihm hielt und ein Quartier gehabt, ein Quartier, das nach seiner, in diesem Falle ja ganz allein maßgebenden Ansicht, überhaupt gar keins gewesen war. In dem Hause, in dem er wohnte, hatte es nicht nur Gott weiß nach welchen Ingredienzien gerochen, sondern sogar ge–duftet, die Luft in seinen Zimmern war einfach zum Umkommen gewesen, das Essen hatte selbst sein Polackenbursche mit Widerwillen zu sich genommen, und das Bett — ja, das war das allerschönste von allem gewesen. Zahlreiche Stellen im Gesicht, auf den Händen und an weniger sichtbaren Körperteilen bewiesen ihm heute noch, daß er diese Nacht nicht allein zugebracht.

Der Major dagegen hatte in einer Villa gewohnt, die im Vergleich mit seiner Behausung die reine Villa Hügel des Kanonenkönigs Krupp gewesen war.

Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.

Wenn der Herr Oberst nur wenigstens seinen Fourier–Offizier hier gehabt hätte, um von ihm sich eine Erklärung geben zu lassen!

Aber der Leutnant war nicht da, er war bereits in die Garnison zurückgefahren, um dort alles für die Aufnahme der Truppen, die morgen zurückkehrte, vorzubereiten.

Doch der Wurm war da: irgendwo im Gelände mußte er mit den Leuten seines Zuges herumkriechen, denn da es heute mittag für sämtliche Truppenteile nur das mit Recht so beliebte Biwak gab, hatten die übrigen Fourier–Offiziere nichts mehr zu tun und mußten bei ihren Kompagnien eintreten.

Der Regiments–Adjutant wurde abgeschickt, um den armen Leutnant zu holen, aber er kehrte unverrichteter Sache zurück. — Wurm hatte inzwischen einen Spezialauftrag erhalten und irrte mit seinen Leuten, um den Befehl auszuführen, irgendwo in der Welt herum.

Die Folge war, daß der Adjutant einen Teil jener Grobheiten, die für Wurm bestimmt waren, zu hören bekam, aber trotz alledem blieb für den wirklich Schuldigen noch genügend übrig.

Je mehr der Oberst sich ärgerte, desto mehr freute sich der Major.

Wer im Manövergelände einen so großen Truppenteil, wie eine Brigade es ist, zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten führen und keine Fehler machen will, muß einen klaren Kopf haben und imstande sein, seine ganzen geistigen Fähigkeiten auf die Lösung der ihm gestellten Aufgaben zu konzentrieren. Dessen aber war der Herr Oberst heute nicht fähig, vor lauter Ärger konnte er nicht ruhig denken, nicht sachlich disponieren, und das Ende vom Liede war, daß er bei der Kritik seitens Sr. Exzellenz des kommandierenden Herrn Generals noch weniger als gar kein Lob erntete.

Und dies ist nach Ansicht aller Sachverständigen nicht viel.

Wenig später rückte das Regiment nach dem für ihn(4) bestimmten Biwaksplatz, und kaum waren die Truppen dort angekommen, als Leutnant Wurm zum Herrn Oberst befohlen wurde.

Der Kommandeur überragte seinen Untergebenen wenigstens um einen halben Meter, und von der gewaltigen Höhe herab sah er seinen Untertanen mit Augen an, die da zu sagen schienen: „Lebst du elender Wurm überhaupt noch? Wagst du es noch zu atmen?”

Ja, noch lebte, noch atmete er, aber nur noch schwach; der Adjutant hatte ihn darüber aufgeklärt, worum es sich handelte, und die Mienen des Vorgesetzten klärten ihn darüber auf, daß er diesesmal nicht so ganz billig davon kommen würde.

Der Herr Oberst holte noch einmal tief Atem, dann fragte er: „Welchem Umstande Sie die Auszeichnung verdanken, daß ich mit Ihnen spreche, wissen Sie?”

„Mir wäre lieber, diese Auszeichnung würde einem anderen zu teil,” dachte Wurm, laut aber sagte er: „Zu Befehl.”

„Um so besser,” fuhr der Kommandeur fort, „dann kann ich mich kurz fassen. Es sind mir im Laufe des Manövers verschiedentlich Klagen darüber zu Ohren gekommen, daß Sie Ihrem Herrn Major in jedem Ort stets das beste Quartier zu verschaffen wußten, daß einmal sogar ein General eine weit schlechtere Unterkunft fand, als Ihr Herr Bataillons­kommandeur. Ich habe nichts dazu gesagt, im Gegenteil, ich habe mich darüber gefreut, denn es bewies mir, daß Sie Ihren Posten ausfüllten, daß Sie die Interessen Ihres Herrn zu vertreten verstanden, ich habe Ihr Talent und Ihre Geschicklichkeit bewundert; aber diese Bewunderung hört mit dem Augenblick auf, da ich selbst unter ihr zu leiden habe. Das, Herr Leutnant, wollte ich Ihnen sagen.”

„Wenn das schon der Schluß der ganzen Rede ist,” dachte Wurm, „hättest du dir auch den Anfang und die Mitte sparen können, bis jetzt hat die chose auf mich noch nicht den leisesten Eindruck gemacht.”

Aber es war noch nicht der Schluß; nun fing es erst an, und der Kommandeur machte seinen Leutnant so schlecht, daß an diesem nicht nur kein gutes Haar, sondern nicht einmal ein gutes Stück Haut blieb.

Endlich, endlich war der Oberst fertig, und ein unhörbares „Gott sei Dank” entrang sich der Brust des Untergebenen.

„Bevor ich Sie entlasse, noch eins, Herr Leutnant,” nahm der Oberst da von neuem das Wort: „ich bitte Sie, mich darüber aufzuklären, wie Sie es angefangen haben, Ihrem Herrn Major stets das beste Quartier zu besorgen — das will ich nicht nur wissen, das muß ich sogar wissen, und deshalb befehle ich Ihnen, mir die Wahrheit zu sagen.”

„Wie Ihr befehlt,” dachte Wurm, dann sagte er, während ein leichtes Rot der Verlegenheit seine Wangen färbte: „Der Trick, den ich anwandte, ist sehr einfach, Herr Oberst. Ich weiß nicht, ob dem Herrn Oberst bekannt ist, daß mein Vater Generalleutnant a.D. ist. Wenige Tage vor dem Manöver ließ ich mir von meinem Vater eine alte Generalshose kommen —”

„Was ließen Sie sich kommen?” fragte der Kommandeur, der nicht recht verstanden zu haben glaubte.

„Eine Generalshose, Herr Oberst,” wiederholte Wurm, „sie sollte mir große Dienste leisten und hat es auch getan. Da ich ein sehr guter Radfahrer bin, gelang es mir stets, als erster von den Fourier–Offizieren in der Ortschaft, die belegt werden sollte, einzutreffen. Ich suchte dann sofort den Ortsvorsteher auf und setzte diesem auseinander, daß ein General einträfe, für den ich das beste Quartier brauche, daß aber dafür ein Major weniger käme, so daß die Zahl der Einquartierung dieselbe bliebe. Gleichzeitig setzte ich dem Ortsvorsteher auseinander, daß er sich durch die Reden der anderen Offiziere nicht irre machen lassen düfe — der General käme wirklich. Ich ließ mich in das beste Quartier führen und hing dort die Generalshose, die ich stets auf dem Rad bei mir führte, ostentativ zum Fenster hinaus. Nach einer Stunde hatte ich mein Bataillon unter­gebracht und fuhr wieder von dannen. Kamen die anderen Fouriere(5), so war ich längst über alle Berge. Ich habe es hinterher erfahren, nie haben die anderen Fourier–Offiziere geglaubt, daß ein General käme, aber trotzdem hat nie einer gewagt, die Generalshose fortzunehmen oder auch nur anzurühren, vor der Hose eines Generals hatten sie alle Angst, wie vor einem General selbst. Ich behielt stets das beste Quartier, und die Hose blieb stets vor dem Fenster hängen, bis der von mir in das Geheimnis eingeweihte Fourier–Unteroffizier sie im letzten Augenblick, unmittelbar vor dem Einrücken der Truppen, fortnahm und sie mir dann sofort durch einen Radfahrer nachsandte. Einmal wäre der Coup beinahe mißlungen — da stürzte der Radler, und um ein Haar wäre das Beinkleid für meine Zwecke zu spät gekommen.”

Mit immer größer werdendem Erstaunen hatte der Oberst seinem jungen Leutnant zugehört, er wußte nicht, ob er noch einmal grob werden oder sich mit Anstand in das Unvermeidliche fügen und gute Miene zum bösen Spiel machen sollte. Endlich entschloß er sich für das letztere und fragte, wenn auch noch mit etwas brummiger Stimme: „Wenn Sie nun doch einmal so schlau waren, weshalb waren Sie dann nicht noch etwas schlauer und weshalb nahmen Sie dann nicht für alle Fälle, um jedes Mißlingen Ihres Tricks völlig unmöglich zu machen, gleich zwei Generalshosen mit?”

Der Oberst war ordentlich stolz auf diese Frage, er bewies damit nach seiner Meinung auf das glänzendste, daß er doch noch viel heller war, als sein Untergebener, — an manches denkt auch ein Leutnant, an alles nur ein Oberst.

„Nun?” fragte der Kommandeur noch einmal, „warum dachten Sie nicht daran, mehrere Beinkleider mitzunehmen?”

Einen Augenblick schwieg Wurm noch, dann sagte er(6): „Gedacht habe ich schon daran, Herr Oberst, aber leider ging es nicht anders, mein Vater besitzt nur dieses eine Paar Generalshosen.”

„Dann allerdings.” Der Oberst wandte sich ab und ließ seinen Leutnant stehen, er wußte nicht mehr, was er sagen sollte — die Rübe, die er hatte ausrotten wollen, hatte sich, seinen Erwartungen zum Trotz, als ein äußerst brauchbares Gewächs entpuppt.(7)


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „könne” (Zurück)

(2) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier durchweg: „Quartier–Offizier” (Zurück)

(3) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „Quartier–Offizier” (Zurück)

(4) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” heißt es hier: „nach dem für dieses bestimmten” (Zurück)

(5) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” ist hier das Wort „Fourier” nicht ersetzt worden. (Zurück)

(6) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” ist hier folgender Text eingefügt: „wenn es natürlich auch nicht der Wahrheit entsprach” (Zurück)

(7) In der Fassung von „Meine Kabarettgeschichten” fehlt dieser ganze letzte Absatz. (Zurück)


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