Richtung, Fühlung, Vordermann!

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 16.1.1910,
in: „Richtung, Fühlung, Vordermann!” und
in: „An die Gewehre”


Der neuernannte Herr Oberst des Infanterie­regiments von Dingsda hatte zum ersten Mal seine Offiziere um sich versammelt und hielt an sie eine Ansprache: „Meine Herren, ich bin mir der hohen Ehre, gerade an die Spitzes dieses Regiments gestellt zu sein, voll und ganz bewußt.”

„Quatsch nich, Krause,” dachte ein junger Leutnant, „wenn du ein anderes Regiment bekommen hättest, würde dir das zur ganz besonderen Ehre gereicht haben.”

Gott sei Dank wissen die Vorgesetzten nichts von dem, was ihre Untergebenen denken, denn sonst würde es in der Armee bald keine Untergebenen mehr geben.

„Meine Herren,” fuhr der Herr Oberst nach einer kleinen Pause fort, „ich hoffe im kameradschaftlichen und dienstlichen Interesse, daß wir sehr gut miteinander auskommen werden, und zu Ihrer Beruhigung möchte ich Ihnen gleich heute mitteilen, daß ich kein Kleinigkeitskrämer bin, und vor allen Dingen, daß ich keine Steckenpferde habe, auf denen ich besonders herumreite. Ein Dienstzweig ist für mich genau so wichtig wie der andere und auf irgendwelche Kleinigkeiten besonderen Wert zu legen, widerspricht meiner Natur.”

„Na, na,” dachte ein junger Leutnant, „wenn das nur wahr ist. Im Reden seid Ihr Brüder alle groß, aber wer keine Fehler hat, braucht nicht erst ausdrücklich zu versichern, daß er ein Tugendheld ist.”

Der Oberst hatte eine kleine Pause gemacht, wie das die Vorgesetzten in solchem Falle stets zu tun pflegen, um ihre Worte „voll und ganz” auf ihre Untergebenen wirken zu lassen, dann fuhr er fort: „Wie gesagt, meine Herren, ich habe bei dem Dienst stets nur einzig und allein das große Ganze im Auge, nur — und da ist es selbstverständlich, daß ich auf die Kleinigkeiten, aus denen sich das große Ganze zusammensetzt, ganz besonderen Wert lege.”

„Na, also!” dachte der junge Leutnant, „ich kenne Euch doch. Mir machst du kein X für ein U. Nun bin ich nur neugierig, was du für einen Vogel hast, denn darauf, daß du einen hast, laß'ich mich nach deinen letzten Worten hängen.”

Und die Neugierde des jungen Leutnants wurde schnell befriedigt, denn der Herr Oberst fuhr fort: „Meine Herren, ebensogut wie ich, wissen Sie alle, daß die Parade­aufstellung und der Parademarsch die Grundlage für die Disziplin und die Subordination sind — ohne diese beiden militärischen Tugenden geht es nict und deshalb spielen Parade­aufstellung und Parademarsch nach wie vor in der Armee die größte Rolle. Und das mit vollem Recht.”

„Quatsch!” dachte der junge Leutnant, und beinahe dachte er es zu laut, denn ganz erstaunt sah sich der Herr Oberst plötzlich um, ihm war, als hätte einer seiner Offiziere soeben etwas gesagt.

Aber da jetzt wieder erwartungs­volle Stille herrschte, mußte er sich doch wohl geirrt haben, und so begann er denn von neuem: „Meine Herren, eine tadellose Parade­aufstellung und ein ebensolcher Parademarsch ist aber nur dann denkbar, wenn wir auf drei Dinge ganz besonderen Wert legen, auf Richtung, Fühlung, Vordermann. Die Richtung muß schnur­gerade sein — schnur. Die Fühlung nicht zu eng und nicht zu weit, sondern lose, wie das Reglement es vorschreibt und der Vordermann haarscharf — haar, sodaß der Hintermann von seinem Vordermann vollständig gedeckt wird — voll.”

„Gott sei Dank!” dachte der junge Leutnant, „nun ist alles wieder in der schönsten Ordnung, anstatt des einen Vogels, den du vorhin ableugnetest, hast du sogar drei. Das kann schön werden und wenn mich meine Ahnungen nicht trügen, gehen wir genußreichen Zeiten entgegen.”

Und der junge Leutnant mit seinem ahnungsvollen Herzen behielt Recht, das zeigte sich gleich am ersten Tage, an dem der Herr Oberst sein Regiment selbst exerzierte. Zuerst erklärte er seinen sämtlichen Offizieren und Unteroffizieren noch einmal ausführlich, was er unter Richtung, Fühlung und Vordermann verstände und die Offiziere und Unteroffiziere lernten aufs neue, was sie schon lange wußten. Dann aber klärten sie dem erhaltenen Befehl gemäß die Mannschaften über das auf, was der Herr Oberst unter Richtung, Fühlung und Vordermann verstände, und auch die Kerls lernten von neuem, was sie schon lange wußten.

Dann wurde die Theorie in die Praxis übertragen und das Regiment mit richtiger Richtung, mit richtiger Fühlung und richtigem Vordermann in Parade­aufstellung aufgebaut.

Aber als das Regiment dann stand, war alles falsch. Das war überhaupt keine Richtung, die mußte schnurgerade sein — schnur, aber von Schnur keine Spur. Das war überhaupt nichts und wenn es doch etwas war, dann war es höchstens ein Halbkreis, aber so runde Halbkreise gab es garnicht.

Und nun erst die Fühlung, die war nicht lose, wie sie es sein sollte, aber auch nicht eng, wie sie es nicht sein sollte, die war garnichts.

Und der Vordermann sollte haarscharf genommen werden, haar, aber das war nicht haar, das war nicht mal scharf, geschweige denn haarscharf.

Der Herr Oberst war ganz außer sich und rief seinen Offizieren zu: „Wenn ich von meinen Herren so wenig unterstützt werde und wenn die Herren so wenig auf meine Intentionen eingehen, dann kann das Exerzieren heute morgen sehr lange dauern.”

Um halb elf Uhr erschien die Regimentsmusik draußen auf dem Exerzierplatz, denn es sollte ja auch noch Parademarsch geübt werden, aber der Oberst schickte die große Trommel nebst allen anderen Spielleuten wieder fort: „Vorläufig wäre noch gar nicht an einen Parademarsch zu denken, vielleicht morgen oder übermorgen oder nach acht Tagen oder sonst wann, aber heute? Ganz unmöglich — ganz.”

Und als der junge freche Leutnant das hörte, dachte er im stillen, daß der Oberst wirklich manchmal einen Unsinn redete wie eine Gans.

Am frühen Morgen war das Regiment ausgerückt, am späten Mittag kam es wieder in die Kaserne und damit es am nächsten Tage nicht wieder so spät würde, rückte die Truppe am Morgen zwei Stunden früher aus und kam, um das europäische Gleichgewicht wieder herzustellen, dafür wieder drei Stunden später zurück.

Und der Herr Oberst, der nur auf das große Ganze sah, dem jede Sache so wichtig war, daß er auf keine besonderen Wert legte, um dadurch eine andere ebenso wichtige nicht zu vernachlässigen, übte in den ganzen Stunden weiter nichts wie Richtung, Fühlung und Vordermann.

Es war wirklich zum Kotzen.

Und eines Tages brachte ein Leutnant, der sich am Abend vorher etwas zu reichlich Kraft zugetrunken hatte, um das Exerzieren am nächsten Morgen aushalten zu können, das Kunststück fertig und kotzte wirklich, dem Gaul des Herrn Oberst direkt vor die Füße, ja noch mehr, sogar auf dessen Vorderhufe.

Der Herr Oberst war außer sich. Er beurteilte die Kritik, die sein Leutnant da über ihn abhielt, sehr richtig, denn auch er war früher einmal Leutnant gewesen. Aber jetzt war er Oberst, Gott sei Dank, und seine Leutnants sollten ihn kennen lernen. Jetzt wollte er sie mit Richtung, Fühlung, Vordermann erst recht zwiebeln, aber natürlich nicht unnütz zwiebeln, denn deshalb zwiebelt ein Vorgesetzter nie.

Und so zwiebelte der Herr Oberst seine Leutnants fortan lediglich, damit ihnen Fühlung, Richtung und Vordermann noch mehr als bisher in Fleisch und Blut überginge.

Und das ging so weiter, bis dann eines Tages der Herr General erschien, um einmal nachzusehen, wie der neue Oberst sich eigentlich als Regiments­kommandeur mache. Natürlich hatte der General schon lange von den drei Vögeln des Kommandeurs gehört und hatte sich fest vorgenommen, ihn davon zu kurieren. Ein Arzt kann einem Kranken mehr Rezepte verschreiben als ein Vorgesetzter seinem Untergebenen, aber dafür sind die letzteren wirksamer.

Und so sagte der Herr General denn in sehr liebenswürdigem Ton zu dem Herrn Oberst, als er mit diesem im Kasino zusammensaß: „Es gibt doch wirklich zu sonderbare Naturen. Mir ist da neulich von einem Regiments­kommandeur, der da hinten in Ostpreußen irgendwo sein Regiment haben soll, erzählt worden, daß der sich überhaupt bei der Ausbildung seiner Truppe nur um Richtung, Fühlung und Vordermann kümmert. Verstehen Sie, wie so etwas möglich ist?”

Dem Oberst fiel mit einem hörbaren Ruck das Herz in die Hosen. Wenn ihm sein Leben lieb war, mu0te er natürlich ganz der Ansicht des Vorgesetzten sein und obgleich ihm die Worte beinahe in der Kehle stecken blieben, sagte er: „Der Herr General haben völlig Recht, auch mir ist so etwas absolut unverständlich.”

„Das freut mich, mein lieber Herr Oberst,” meinte der General leutselig, „aber ein Steckenpferd werden Sie ja auch haben, denn man muß ja eins haben. Ebenso wie selbst dem besten Vater eins seiner Kinder das liebste ist, so muß ein Oberst auch bei dem Exerzieren der Truppe irgend etwas haben, das ihm das Liebste ist, auf das er ganz besonderen Wert legt, weil ihm das besonders ans Herz gewachsen ist — also was ist das bei Ihnen?”

Der Herr General war auf die Antwort, die der andere geben würde, mehr als neugierig, aber der Herr Oberst war es erst recht. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, die Zunge klebte ihm am Gaumen und obgleich sein armes Gehirn einem Gehirnschlag nahe war, suchte das doch nach einer Antwort. Er mußte ja etwas bei dem Exerzieren besonders pflegen, der General verlangte es ja geradezu, aber was konnte das nur sein?

„Nun?” fragte der Herr General noch einmal, als der Oberst immer noch schwieg, „was ist denn Ihr Steckenpferd, mein lieber Herr Oberst, oder richtiger gesagt, worin besteht denn Ihr Vogel?”

Und der arme Oberst, der den sicheren Tod vor Augen sah, wenn er keine Antwort fand, sagte endlich, nur, um überhaupt etwas zu sagen: „Ich lege ganz besonderen Wert darauf, Herr General, daß die Mannschaften, wenn sie in schnurgerader Richtung mit richtiger Fühlung und haarscharf auf Vordermann mit Gewehr über in der Front dastehen, daß sie dann sie linke Hand ganz vorschriftsmäßig an der Hosennaht halten: der(1) Finger nach außen leicht geöffnet, den Handballen leise angelegt, den Daumen fest, aber nicht zu fest auf den Zeigefinger aufgelegt.”

„Sehr gut,” lobte der Herr General, „die richtige Handhaltung ist für die Ausbildung der Truppe sehr wichtig, nur eins ist mir nicht ganz klar, warum legen Sie gerade auf die Haltung der linken Hand einen solchen hohen Wert?”

„Aus einem sehr einfachen Grunde, Herr General,” erwiderte der Oberst, der vor lauter Aufregung überhaupt nicht mehr wußte, was er sagte, „wenn der Mann mit Gewehr über in der Front dasteht, hält er doch mit der rechten Hand das Gewehr, folglich kann er doch nur die linke an seine Hosennaht anlegen.”

Ganz erstaunt blickte der General auf, dann versank er in tiefes Nachdenken und dann sagte er: „Sonderbar — bei allen anderen Infanterie­regimentern ist es gerade umgekehrt.”


Fußnote:

(1) In der Fassung von „An die Gewehre” heißt es hier: „die Finger”. (zurück)


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