Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Ohligser Anzeiger” vom 11.12.1897
in: „Aus der Schule geplaudert”
Ein jeder, der einmal den bunten Rock angehabt hat, weiß aus eigener Erfahrung, einen wie hohen Wert man beim Militär, um nicht zu sagen, „beim Kommiß”, auf die Richtung legt.
Das Kommando heißt „Richt euch!”, und sobald das „euch” gesprochen ist, fliegen die Schädel — Soldaten haben nur Schädel, keine Köpfe — mit einem hörbaren Knack nach rechts. Wenn die Soldaten es jedesmal so machten, wie es verlangt wird, würde ihnen bei jedem Kopfdrehen die Wirbelsäule brechen.
„Wenn sie durch ist, gibt's eine neue,” ermahnt der Unteroffizier, „ihr seid Soldaten und keine Knochenschoner.”
Aber die Wirbelsäulen liegen leider nicht wie die Garnituren fix und fertig auf Kammer.
Auf das Kommando „euch” fliegen aber nicht nur die Schädel, sondern auch die linken Beine, alias „die krummen Knochen” genannt, mit heruntergedrückter Fußspitze „himmelhoch”.
Mit rechts gestelltem Kopf und hocherhobenem linken Bein wird angetreten und dann ganz kurz in die Richtungslinie hineingerückt.
Nichts ist vollkommen auf der Welt, geschweige denn beim Militär.
Eine tadellose Richtung gibt es wenigstens nicht in den Augen der Vorgesetzten.
Der Hauptmann steht am rechten Flügel der Kompagnie und mustert die Richtung.
„Leidlich, leidlich, aber doch nicht ganz sauber. Der fünfte Mann ist eine Kleinigkeit zu scharf, gehen Sie für Ihre Person etwas zurück — so, nun steht's — nein, der linke Flügelmann vom ersten Zug, können Sie denn den rechten Flügeloffizier sehen, Sie Nachtrat? Kommen Sie raus mit Ihren Füßen, noch mehr. Und der rechte Flügelmann vom zweiten Zug, wie der Mensch nur dasteht, Feldwebel, schreiben Sie den Mann zum Nachexerzieren auf, so etwas von schafsdämlicher Dösigkeit gibt es ja in ganz Europa nicht wieder, und der Kerl neben Ihnen, wollen Sie wohl Ihren Bauch zurücknehmen, noch mehr, gehen Sie zurück mit den Füßen. Und nun der dritte Zug: Keine Spur von Richtung! Aber meine Herren Zugführer, ich muß doch sehr bitten, daß Sie die ersten drei Rotten besser ansehen, das ist ja unerhört. Herr Leutnant, nehmen Sie den dritten Mann mehr vor, noch mehr — aber die Richtung ist ja jammervoll, jam-mer-voll. Die Points bleiben stehen — das übrige zurück, marsch, marsch!”
Wenige Sekunden später erfolgt abermals das Kommando: „Richt euch!”
„Besser, eine Kleinigkeit besser,” lobt der Hauptmann, „aber auch nur eine ganze Kleinigkeit — schön ist etwas anderes, und sauber ist es noch lange nicht, das brauchen Sie sich nicht einzubilden. Feldwebel, schreiben Sie mal den Meier auf, der Mensch steckt seinen Rüssel drei Kilometer weit vor, nehmen Sie das Kinn heran an die Binde, wozu tragen Sie das Ding denn sonst. Und nun der Haeser, Mann, sind Sie denn ganz irrsinnig geworden, Feldwebel, schreiben Sie den Mann auf, der Kerl glotzt wahrhaftig geradeaus, und der dritte Zug ist wieder nicht ausgerichtet — Kerls, glaubt ihr, ich hätte meine Lunge gestohlen! Keine Spur von Richtung! Und nun erst das zweite Glied — so etwas muß man mit eigenen Augen gesehen haben, um es für möglich zu halten! Den Unteroffizieren hinter der Front scheint die Richtung auch ein Buch mit sieben Siegeln zu sein.”
„Das nennt ihr Richtung? Points stehen bleiben, das übrige zurück, marsch, marsch.”
Endlich, endlich steht die Karre, tadellos ist die Richtung immer noch nicht, aber es geht doch wenigstens, na und damit muß man ja bei den schlechten Zeiten zufrieden sein.
Man kann mit der Richtung ein neugeborenes Kind zum Selbstmord treiben.
Es gibt Richtungen nach Points und nach Rotten, in Front und in Kehrt, mit gerader Front und mit schräger Front — die Varianten sind zahllos wie der Sand am Meer.
Und stimmen tut die Richtung nie, das kann einen Menschen rasend machen, eine Marmorsäule vor Ungeduld in Quecksilber verwandeln.
Aber außer dieser Richtung gibt es noch eine zweite, und auch bei dieser heißt es „richt euch.”
Als der Hauptmann morgens zum Dienst gekommen ist, hat ihm sein Feldwebel gemeldet, daß sich gestern abend ein Mann sinnlos betrunken und in seiner gehobenen Stimmung allerlei Unfug getrieben hat.
Der Hauptmann ist dafür verantwortlich, daß seine Untergebenen einen ordentlichen Lebenswandel führen, und so ist er von der Meldung seines Feldwebels wenig erbaut.
„Was macht man nur dabei?” fragt der Hauptmann verzweifelt.
„Wenn der Herr Hauptmann der Kompagnie vielleicht einmal ordentlich den Kopf waschen wollten.”
„Ja, das wird das beste sein. Zum Kreise rechts und links schwenkt marsch — marsch.”
Stillgestanden!
„Kerls, da ist gestern abend in der Kompagnie wieder eine Geschichte vorgekommen, für die ich überhaupt gar keine Worte habe. Ihr wißt, um was es sich handelt. Was geschehen ist, ist geschehen, und läßt sich nicht wieder rückgängig machen — natürlich wird der Mann bestraft. Feldwebel, schreiben Sie: der Musketier Hansen erhält drei Tage mittleren Arrest, weil er sich außer Dienst sinnlos betrunken und auf der Straße öffentlichen Unfug getrieben hat.”
„Musketier Hansen.”
„Herr Hauptmann.”
„Unteroffizier vom Dienst.”
„Herr Hauptmann?”
„Unteroffizier vom Dienst, führen Sie den Mann sofort in Arrest ab.”
„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”
„So,” sagt der Hauptmann, als die beiden den Blicken der Kompagnie entschwunden sind, „so, das wäre erledigt.
Euch aber sage ich, wenn mir solche Geschichte noch ein einziges Mal passiert, dann, dann, dann gnade euch Gott!”
Der Hauptmann hat sich in den Steigbügeln gehoben, hoch zu Roß, mit hocherhobenem rechten Arm hält er vor der Front wie ein Rächer.
„Passiert mir so etwas noch einmal, dann sollt ihr mich kennen lernen. Ich setze euch Dienst an, daß euch die Augen übergehen; mit dem Urlaub ist es selbstverständlich bis auf weiteres alle. Die Strafen sitzen jetzt locker, ihr habt gesehen, daß ich nicht lange fackele, und danach richtet euch.”
Und die Kerle müssen sich danach richten, ebenso wie nach Points und Rotten, und dieses „Richt euch” ist meist noch viel unangenehmer als das andere,
Am unangenehmsten ist diese Art der Richtung natürlich für die Offiziere.
Der Ofizier hat außer seinen wirklichen Vorgesetzten auch noch solche in seinen älteren Kameraden.
Jeder Offizier, der auch nur um einen Tag älter ist als der andere, kann sich dem jüngeren gegenüber als Vorgesetzter aufspielen und ihm seine Meinung sagen. Die Meinung des Älteren ist beim Militär stets die richtigere. Eigentlich ist das ein Unsinn, aber es geht nun einmal nicht anders. — Einer muß doch im Recht bleiben, und um die Autorität zu wahren, muß der Recht Behaltende stets der Ältere sein.
Leider Gottes aber hat jeder ältere Kamerad einen noch älteren, und da fast nie zwei Menschen über ein und denselben Punkt dieselbe Ansicht haben, so folgt daraus die allbekannte Tatsache, daß beim Militär ebenso viele Ansichten wie Köpfe sind.
Wonach soll man sich denn nur da „richten”? Und „richten” muß man sich.
Bei dem Soldaten heißt es „Richt euch”, bei dem Offiziersoldaten „Richten Sie sich”.
Das ist ganz genau dasselbe.
Der Muschko, der sich auf das Kommando „Richt euch” nicht „sauber” ausrichtet, fliegt unter Umständen, wenn sein Kapitano in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen, oder morgens unangenehme Briefe erhalten hat, drei Tage in den Kasten, „wegen grober Vernachlässigung beim Exerzieren”; hat er ganz besonders Pech, so fliegt er auf fünf Tage — warum richtet der Lümmel sich auch nicht besser aus? Das ist seine eigene Schuld.
Befolgt der Offizier das „Richten Sie sich” nicht, so fliegt er auch.
Der Soldat hat Pech, wenn er in den Kasten fliegt, der Offizier hat Dusel, wenn er nur in den Kasten, euphemistisch Stubenarrest genannt, fliegt, der kann noch viel weiter fliegen, aus dem Regiment, ja sogar ganz aus dem Dienst.
Wie weit sein Flug sich erstrecken soll, bestimmt der Herr Oberst.
Ein Regimentskommandeur ist mächtig, fast hätte ich gesagt „allmächtig”. Was der sagt und bestimmt, muß geschehen, seine Worte und Wünsche sind Befehle, und wenn man sich nicht danach „richtet”, muß man die Folgen tragen.
Es ist Sitte in der Armee, daß in jedem Regiment die Offiziere alle Vierteljahre schriftlich melden müssen, ob sie einen vorschriftsmäßigen Offizierkoffer, einen Armeerevolver und ein Fernglas besitzen.
Es ist dies eine weise Maßregel für den Fall einer plötzlichen Mobilmachung.
Es wäre eigentlich besser, wenn die Offiziere alle Vierteljahr darüber zu melden hätten, ob sie einen anständigen Zivilanzug besitzen.
Es wäre dies eine weise Maßregel, für den Fall einer plötzlichen Verabschiedung.
Einen Feldzug erleben nur wenige, eine Verabschiedung alle. Letztere kommt meist überraschender als ersterer, und es ist doch sehr peinlich, wenn man dann „nichts anzuziehen hat”.
Sollte sich nicht aus dieser Befürchtung der Luxus erklären, der jetzt in vielen Regimentern mit dem Zivil getrieben wird?
Das sogenannte „Räuberzivil”, an dem man früher den Offizier auf tausend Meilen erkannte, ist von der Erdoberfläche verschwunden, es wird erst wieder auftauchen, wenn ein sanfterer Wind weht, wenn es keine „Richtung” mehr gibt.
Denn an der „Richtung” gehen sie alle zugrunde: Der eine versteht nicht, „sich mit seinem Geld einzurichten”, der andere „richtet” sich sonst in seinem Lebenswandel nicht nach den bestehenden Gesetzen und Vorschriften, der dritte „richtet” sich beim Exerzieren nicht nach dem neuen Reglement, sonder er exerziert nach dem Reglement „Albrecht des Bären”, der bekanntlich schon einige Wochen tot ist, der vierte „richtet” sich beim Gefecht nicht nach dem Gelände, sondern geht frisch, fromm, fröhlich und „fergnügt” auf den Feind los; der fünfte, ein armer Häuptling, geht daran zugrunde, daß die „Richtung” in seiner Kompagnie nie stimmt.
„Und Richtung, meine Herren, muß sein, die Richtung ist das militärische Abc — wer sich nicht richten kann, der kann überhaupt gar nichts, der ist gar kein Soldat, wenn er auch zehnmal den bunten Rock anhat und die Drillichjacke — wie die Kerls es bei schlechtem Wetter, obgleich es verboten ist, mit Vorliebe tun — darunter trägt.”
„Richten muß sich der Soldat können, sonst soll ein heiliges Kanonenrohr auf den Kerl herunterfallen.”
„Ohne Richtung geht es nicht.”
Und das Kommando heißt: „Richt euch.”