Rekrutenbriefe

Militär-Humoreske von Frhr. v. Schlicht.
in: „Rekrutenbriefe” und
in: „Die Frau Oberst


Berlin, den 2. Oktober.

Lieber Bruder!

Seit gestern bin ich nun Soldat und sogar Gardiste in Berlin. Mein Sergeant Krause sagt uns gestern, Gardist in Berlin zu sein, wäre eine Auszeichnung, der man sich nur dadurch würdig erweisen könne, daß man sein ganzes bisheriges Leben vom Tag der Geburt bis zum Eintritt in die Armee lebhaft und aufrichtig bedaure und daß man jeden Abend seinem Gott gelobe, bis an sein Lebensende der Garde anzugehören — bis zum Ende des wehrpflichtigen Alters mit Leib und Seele und nachher mit der Seele allein. Die Einkleidung als Soldat war gar nicht so feierlich, wie ich mir das immer gedacht habe. Am Potsdamer Bahnhof wurden wir in Empfang genommen, dann ging's mit militärischer Bedeckung durch die Straßen der Stadt. Berlin mag ja ganz schön sein, ich kenne es ja noch nicht, aber wenn man wie ein entsprungener Verbrecher, Soldat hinten, Soldat vorne, durch die Straßen geführt wird, dann ist keine Stadt schön. Und dazu das scheußliche Gefühl: wie wird es werden? Besonders ich wurde den Gedanken nicht los, na, schließlich bin ich ja selbst Schuld daran, daß ich das Einjährigen-Examen nicht bestand und nun zwei Jahre dienen muß, denn ich stehe doch mit den Kameraden, mit denen ich zusammen dienen muß, nicht auf derselben Stufe. Sergeant Krause sagte uns gestern Abend, eine Klasse von gewissenlosen Subjekten, die solche vaterlandslosen Objekte wären, daß er ihren Namen nicht in den Mund nehmen könne, wolle jetzt bei dem Reichstag anstatt der zweijährigen die einjährige Dienstzeit beantragen. Er schimpfte mordsmäßig darüber, aber schließlich meinte er, mit dem Gesetz ginge es schon deshalb nicht, weil die wirklichen Einjährigen dann überhaupt nicht zu dienen brauchten und zur Entlassung kämen, bevor sie eingestellt wären. Und das ginge doch auch nicht. Sergeant Krause ist überhaupt groß im Reden, und ich werde Dir berichten, was er Denkwürdiges von sich gibt.

Ich komme mir in dem bunten Rock vorläufig noch sehr sonderbar vor, und schön war der Anblick für unsere Vorgesetzten, glaube ich, nicht, als wir gestern Mittag auf dem Kasernenhof standen, um als neu eingekleidete Rekruten gemustert zu werden. Einer nach dem andern kamen sie an, um uns zu bewundern, ungefähr so, wie der Schlachter den Ochsen daraufhin ansieht, was an ihm dran ist. Und nach der Musterung kam eine Rede und nach der Rede kam ein Hoch auf den Kaiser und auf die Armee. Wir riefen natürlich alle mit Hurra, aber wie soll man eigentlich einen Stand hochleben lassen, den man noch gar nicht kennt?

Und die ihn kennen, ließen ihn im Grunde ihres Herzens gar nicht leben, denn als das Hurrarufen vorüber war, hörte ich, wie unser Leutnant ganz laut vor sich hinsagte: „Nun kann die Schweinerei wieder losgehen!”

Bald mehr

Dein Bruder Fritz.

*         *         *

Berlin, den 8. Oktober.

Lieber Bruder!

Die Schweinerei, das Rekrutenexerzieren, hat begonnen, und gestern sind wir vereidigt worden. In den Zeitungen hast Du wohl darüber gelesen, wir waren im Lustgarten aufgebaut, und mit dem Glockenschlag zwölf Uhr erschien der Kaiser und wir schwuren ihm ewige Treue und ewigen Gehorsam. Es war sehr feierlich, und Sergeant Krause sagte uns, einen so schönen Moment würden wir in unserem Leben nie wieder haben, obgleich uns noch sehr viel Schönes bevorstände, so z. B. das Bataillons­exerzieren auf dem Tempelhofer Feld und große Gefechtsübungen bei Döberitz; vorläufig aber sind wir noch nicht so weit, wir üben Griffe und machen Wendungen. Die Wendung an sich ist ein Unsinn, sagt Krause, die wirkliche Wendung entsteht erst, wenn man Geist und Gemüt in sie hineinlegt. Das aber kann ich noch nicht, und so habe ich schon ein paarmal einen mächtigen Rüffel bekommen, aber Du brauchst Dich deshalb nicht zu ängstigen, bei dem Rüffel bleibt es, schlagen tun sie hier nicht. Aber sie möchten uns gerne schlagen, das sagen sie uns jeden Tag, und so leben wir denn eigentlich immer in der Furcht des Herrn. Du großer Gott, mal 'ne Ohrfeige zu bekommen, wäre ja schließlich nicht das schlimmste, der Schlag würde mich ja nicht weiter aufregen, wohl aber das Bewußtsein, stillhalten zu müssen wie ein kleines Kind. Na, überhaupt kommt mir manches sehr sonderbar vor. Wir sollen uns stets der Ehre bewußt sein, der Garde anzugehören, und dabei wird unser Ehrgefühl eigentlich jede Stunde mit Füßen getreten. Es geht wohl nicht anders, und wenn ich selbst Unteroffizier wäre, würde ich mich vielleicht auch nicht beherrschen können, aber ich habe in meiner ganzen Jugend nicht so oft das Wort Schafskopf zu hören bekommen, wie jetzt in einer Stunde. Trotz aller Schafsköpfigkeit habe ich nämlich nach Ansicht des Sergeanten Krause als Soldat einen großen Fehler, ich bin für einen Gemeinen zu klug: für einen Einjährigen ginge es zur Not, aber für einen Zweijährigen wäre ich zu gebildet. Und Bildung ist der Fluch.

„Sehen Sie,” sagte gestern Abend Sergeant Krause zu mir, „was die faulen Witzblätter da schreiben, die ein anständiger Mensch überhaupt nicht in die Hand nimmt und wenn er sie schon in die Hand nimmt, dann nur für bestimmte Zwecke und dann auch nur im Dunkeln und dann auch nur ungerne, weil man sich bei ihrem Gebrauch leicht die Finger beschmutzt, also was diese faulen Blätter schreiben, es käme darauf an, daß die Soldaten alle gleich aussähen, ist ja Unsinn; aber gleich denken müssen sie, sonst kann die Armee sich begraben lassen. Sie aber, Sie denken anders und deshalb sage ich Ihnen, denken Sie gar nicht. Als Zivilist können Sie später noch Unsinn genug denken, für diese zwei Jahre gewöhnen Sie sich aber diese Tätigkeit, von der ich für meine Person überhaupt nicht viel halte, überhaupt ab, Sie werden es mir noch danken.” So werde ich wohl bald gedankenlos sein und als solcher grüßt Dich schon heute

Dein Bruder Fritz.

*         *         *

Berlin, den 19. Oktober.

Lieber Bruder!

Gestern war Sonntag(1), und zur Feier des Tages wurden wir in die Kirche geführt, in den neuen Dom. Es war sehr schön und feierlich, und wenn die klugen Leute auch sagen, der Dom wäre das geschmackloseste Haus in ganz Berlin, mit hat er gefallen, schöner als unsere Kirche in Treuenbritzen ist er sicher. Es hat mir Freude gemacht, den Dom kennen zu lernen, aber sonst habe ich während der ganzen Zeit, Krauses Verbot entgegen, doch wieder nachgedacht. Du weißt, ich bin trotz aller Bitten unserer verstorbenen Mutter nie in die Kirche gegangen, und so war es mir ganz sonderbar, plötzlich zum Gottesdienst kommandiert zu werden. Mein Glaube ist erstorben und ich glaube nicht, daß er dadurch, daß ich auf Befehl alle vier Wochen mal eine Predigt höre, wieder lebendig wird. Im Gegenteil, der Zwang wird jedes noch etwa lebende Gefühl ertöten. Und wie ich, so denken auch wohl die meisten Kameraden. Ich habe sie während des Gottesdienstes scharf beobachtet, fast alle schliefen oder erzählten sich leise Geschichten oder lasen in ihren Gesangbüchern. Aufgepaßt hat kaum einer. Aber was soll man machen, man muß in die Kirche gehen, wie man zum Turnen oder zum Exerziere geht. Nach meiner Ansicht müßte der Kirchgang für die Soldaten freiwillig sein. Ob der liebe Herrgott sich wohl über die Leute freut, die da einfach auf Befehl zu ihm beten? Und den Herren Offizieren macht die Sache auch keinen Spaß. Ich habe ganz deutlich gehört, wie der eine sagte: „Das ist nun schon der dritte Sonntag, an dem ich zur Kirche muß, verflucht noch einmal! Na, hoffentlich macht der Mann Gottes seine Predigt kurz und schmerzlos, damit ich noch rechtzeitig zum Austern­frühstück bei Dressel sein kann.” Wir haben jetzt immer unser Gesangbuch in Händen, früher wurden sie immer gleich wieder auf Kammer abgegeben, jetzt aber haben wir sie in unseren Spinden, damit wir drin lesen können. Aber es liest keiner darin, wenigstens habe ich das noch nie gesehen.

Am Nachmittage wurden wir Rekruten abteilungsweise spazieren geführt. Wo die anderen waren, weiß ich nicht, wir waren mit Krause oder, besser gesagt, Krause war mit uns in der Siegesallee, in der lauter Könige oder Markgrafen stehen. Krause hielt uns eine lange Rede, er sagte, diese Denkmäler wären das schönste, was die Kunst aller Zeiten und aller Nationen hervorgebracht hätte, und nur ein durch und durch unkünstlerischer Mensch könne glauben, daß es etwas gäbe, was erhabener sein könne als das Denkmal des Roland von Berlin. Von jedem Markgrafen und jedem König erzählte er uns etwas, und zum Schluß sagte er: „Es wird die Stunde kommen, in der ihr nicht mehr spazieren geführt werdet, sondern wo eure militärische Ausbildung mit Gottes Hülfe(2) so weit gediehen ist, daß ihr allein ausgehen könnt. Wann diese Stunde kommt, weiß ich noch nicht, sie liegt noch in weiter Ferne, denn angesichts dieser Fürsten schwöre ich euch, daß mir eine solche Hammelherde wie ihr seid, noch nie begegnet ist. Aber trotzdem werdet auch ihr eines Tages frei herumlaufen können, und ich will zu eurer Ehre annehmen, daß ihr während der zwei Jahre nie einen anderen Spaziergang macht, als nach der Siegesallee. Man soll das Gute und Schöne suchen, wo man es nur immer finden kann, hier ist es, also hier gehört ihr her, und nicht etwa in die Friedrichstraße, wo aufgeputzte Jungfrauen euch vom Pfad der Tugend abzulenken versuchen. Was ihr da seht, ist künstliche Kunst, hier aber ist die wahre Kunst.” Krause wurde ganz gerührt, und zum Schluß sagte er: „Und noch eins schreibt euch hinter eure Ohren:Ich habe euch in der Instruktions­stunde beizubringen versucht, welche Vorgesetzten ihr auf der Straße zu grüßen habt, von den Fürsten in der Siegesallee kommt nichts in der Instruktion vor, aber ich, der Segeant Krause, sage euch, ein anständiger Soldat geht nicht durch die Siegesallee, ohne vor jedem Fürsten Front zu machen. Natürlich braucht er nichtzu warten, bis ihm abgewinkt wird, denn sonst könnte er ziemlich lange warten, aber er hat so lange stehen zu bleiben, bis der Fürst, falls er lebendig wäre, an ihm vorübergegangen wäre. Das merkt euch und handelt danach, und wenn ihr euch die Denkmäler beseht, habt ihr Schafsköpfe stramm zu stehen, wie es sich für euch einem Fürsten gegenüber gehört. Wenn ich hier die Zivilisten sehe, die mit dem Hut auf dem Kopf vor Otto dem Faulen oder sonst einem verdienstvollen Regenten stehen, dann juckt es mich jedesmal an den Fingernum ihnen den Hut vom Kopf zu schlagen, und ich habe mich schon oft darüber gewundert, daß Zivilisten da sBetreten der Siegesallee überhaupt erlaubt ist. Was verstehen die blöden Köpfe von Kunst.”

Es wird zum Essen holen geblasen, daher genug für heute.

Dein Bruder Fritz.

*         *         *

Berlin, den 15. November.

Lieber Bruder!

Du weißt wie oft ich dich bedauert habe, weil du infolge eines Unfalls ein etwas zu kurzes linkes Bein behalten hast und hinkst. Heute kann ich Dir nur sagen, freue Dich dessen, denn das Unglück birgt für Dich das Glück, daß Du nicht Sodat geworden bist. Seit 6 Wochen werden wir nun gebimmst und gebummsen, und in vier Wochen sollen wir vorgestellt werden, und ich kann Dir nur sagen, das ist keine reine und ungetrübte Freude. Wir leben und exerzieren ja nicht für uns oder die Armee, wie ich mir das früher einmal einbildete, sondern wir werden geschliffen, damit der Herr Hauptmann nicht seinen Abschied bekommt, damit der Major ein Lob über sein Bataillon erntet, damit der Herr Oberst mit seinem Regiment wiederum der beste ist, damit der Brigade-Kommandeur gut abschneidet, und damit der Divisions-Kommandeur in seiner Hoffnung, ein Corps zu erhalten, nicht getäuscht wird. Damit die Vorgesetzten nicht den Abschied bekommen, müssen wir schwitzen. Und wie! Manchmal sogar mehr als nach meiner Ansicht, um die sich ja kein Mensch kümmert, erträglich ist. „Dampfen müßt ihr, ihr müßt dampfen,” ruft Krause, und der Leutnant ruft: „Krause, machen Sie mehr Dampf auf.”

Und wenn wir dann tatsächlich dampfen, dann ruft der Hauptmann: „Krause, es ist kein Dampf in Ihrer Kolonne,” und wenn der Major dann kommt, heißt es: „Aber was ist denn das, die Leute dampfen ja noch nicht einmal.”

Einer reitet immer auf den(3) andern herum, es wird mit Hochdruck gearbeitet, die höheren Vorgesetzten machen die niederen nervös und unruhig und diese wieder uns. Es wird geflucht und gescholten und mancher Rippenstoß heimlich ausgeteilt. Sehen darf das natürlich keiner, dann ist der Teufel los. Aber die armen Unteroffiziere sind wirklich zu bedauern. Wenn sie sich einmal dazu hinreißen lassen, sich an jemand zu vergreifen, und wenn die Sache dann herauskommt, dann ist es mit ihrer Kapitulation vorbei und sie mögen sehen, wie sie als Zivilisten später durch die Welt kommen. Das ist auf der einen Seite gewiß sehr gerecht, aber andererseits sollte man von den Unteroffizieren auch nichts Unmögliches verlangen. Erreichen sie mit ihren Leuten trotz aller Mühe, die sie sich geben, kein gutes Resultat, dann ist es mit ihrer Kapitulation auch vorbei, sie müssen gut abschneiden und um das zu erreichen, greifen sie zu jedem Mittel, nicht aus angeborener Roheit (das wohl nur in den seltensten Fällen), sondern wohl fast immer unter dem fortgesetzten Druck, der von oben herab auf sie ausgeübt wird. Vom Oberst bis zum Leutnant herab reiten sie alle auf dem Unteroffizier herum, der sein Glied exerziert, und ein Wunder ist es dann eigentlich nicht, wenn der einmal vor Wut außer sich gerät und sich an einem seiner Untergebenen vergreift. Das sehen wir auch alle ein und nehmen es deshalb auch nicht übel, wenn wir einen Rippenstoß bekommen oder ohne Wissen des Hauptmanns heimlich auf der Stube exerzieren müssen. Der Unteroffizier ist es ja gar nicht, der uns quält, sondern in Wirklichkeit ist es der höhere Vorgesetzte, der den Unteroffizier verrückt gemacht hat.

Wir haben neulich darüber gesprochen und es ist unsere feste Überzeugung, daß die Soldaten­mißhandlungen erst dann aufhören werden, wenn die höheren Vorgesetzten wissen, daß eine schlechte Besichtigung ihnen noch nicht den Hals kosten kann. Von der Angst, in der unsere Vorgesetzten leben, kannst Du Dir gar keine Vorstellung machen, und ich wundere mich oft, daß sie sich gar nicht genieren, es so deutlich zu zeigen, wie sie für ihre Zukunft zittern. Am meisten Angst hat unser Leutnant, wir wissen es von seinem Burschen, der mit mir auf derselben Stube liegt. Der Leutnant hat ein großes Sündenregister; was er verbrochen hat, wissen wir nicht, aber der Oberst hat ihm mit einer Versetzung nach einer kleinen Garnison gedroht, wenn er nicht durch eine glänzende Rekrutenvorstellung alles, was er bisher gesündigt hat, wieder vergessen mache. Nun tobt er den ganzen Tag mit uns herum, der Bursche sagt, er wolle sich hier reich verloben, und damit er nicht versetzt wird, und damit ihm nicht ein anderer die reiche Braut fortnimmt, läßt er uns exerzieren, daß uns die Augen übergehen. Dabei ist er im Grunde seines Herzens gar nicht bösartig. er ist nur so furchtbar dumm, er weiß nicht, was er von uns verlangen kann, und wenn er Instruktions­stunde abhält, dann stoßen wir uns alle heimlich an, solchen Unsinn redet er. Wenn unser Leutnant wüßte, wie wir im stillen über ihn denken, hätte er wohl nicht den Mut, sich vor der Front so aufzuspielen.

Auch Krause fängt an, ängstlich zu werden, er verbirgt aber seine Angst unter gräßlichem Fluchen, und wenn wir dann zusammenfahren, tröstet er uns mit den Worten: „Wartet es nur ab, das kommt noch ganz anders.”

Und in dieser Erwartung grüße ich Dich

als Dein Bruder Fritz.

*         *         *

Berlin, den 15. Dezember.

Lieber Bruder!

Sergeant Krause hat Recht behalten, es ist noch ganz anders gekommen. Alle Vorgesetzten haben aufgehört, auf uns herumzureiten, kein Mensch schilt und flucht mehr, auch die heimlichen Rippenstöße sind fortgefallen. Die Vorgesetzten denken, wir wären so dumm, nicht zu merken, warum plötzlich ganz andere Saiten aufgezogen werden, aber wir wissen es doch. Gestern beim Kaffee haben wir lange darüber gesprochen. Die Vorgesetzten haben plötzlich Angst vor uns, sie denken, daß wir uns für alles Schelten und für alle Plackerei rächen werden, sie fürchten, daß wir unsere Sache absichtlich schlecht machen, damit sie hineinfallen. Wir sollen alles vergessen, was sie uns taten, und nun geben sie uns Zucker. Früher war alles schlecht, jetzt wird gelobt. Früher hieß es Schafskopf, jetzt heißt es: „mein Sohn” und „lieber Freund”. Und goldene Berge werden uns versprochen, wenn die Besichtigung gut geht. „Und wenn Majestät mit euch zufrieden ist, dann sollt ihr auch mit uns zufrieden sein. Urlaub die ganze Nacht hindurch und freies Bier so viel ihr wollt.” Und der Leutnant zittert in allen Knochen und hat uns sogar ein Faß Bier aus seiner eigenen Tasche versprochen, und Sergeant Krause ist mit einemmal höflich, er nennt uns sogar jetzt Sie, wie er das eigentlich immer hätte tun müssen. Aber man merkt ihm an, wie ungewohnt ihm diese Anrede ist, und wenn die Besichtigung vorüber ist, wird es wohl wieder Schafskopf und Du heißen. Und in dieser felsenfesten Erwartung begrüße ich Dich als

Dein Bruder Fritz.

*         *         *

Berlin, den 15. Januar.

Lieber Bruder!

Gottlob, die Besichtigung ist vorüber. Es ging alles wie am Schnürchen und wir haben viel Lob geerntet. Die Vorgesetzten strahlten, aber nicht lange. Schon am Nachmittag, bei Abgabe der Sachen auf Kammer, hagelte es wieder Schimpfworte, und wir konnten niemand etwas recht machen. Der einzige, der noch strahlt, ist unser Leutnant, er bleibt in Berlin und bekommt die reiche Braut. Ob wir wohl auch von ihm unser Freibier bekommen? Ich glaube nicht, und in diesem Glauben grüße ich Dich

als Dein Bruder Fritz.

*         *         *

Berlin, den 15. Januar.

Lieber Bruder!

Das Freibier des Leutnats ist ausgeblieben, aber dafür ist uns zur Belohnung für die glänzende Besichtigung eine Auszeichnung zu teil geworden, die wir nicht erwarteten und die wir nach Aussage des Sergeanten Krause überhaupt nicht verdienen. Man hat uns den versprochenen Ruhetag fortgenommen und bereits heute mit dem Kompagnie-Exerzieren begonnen. So haben alle einen Nutzen von der Besichtigung gehabt, und(4) wir nicht, aber du kennst ja das schöne Wort: „Wenn es dir nur gut geht, dann will ich gerne leiden!”

Und in diesem Sinne leide ich bis ans Ende meiner militärischen Laufbahn weiter als

Dein getreuer Bruder Fritz.


Fußnoten:

(1) Im Jahre 1903 fiel der 18. Oktober auf einen Sonntag. Das paßt sehr gut dazu, daß der Band „Rekrutenbriefe” im Oktober 1904 angekündigt wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit schrieb Schlicht am 19.10.1903 diesen „Brief”. (Zurück)

(2) In der Fassung von „Die Frau Oberst” heißt es hier: „Hilfe” (Zurück)

(3) In der Fassung von „Die Frau Oberst” heißt es hier: „auf dem andern” (Zurück)

(4) In der Fassung von „Die Frau Oberst” heißt es hier: „nur wir nicht” (Zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite