Der Reiseprinz.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Ihre Durchlaucht der Regimentschef” und
in:
„Seine Hoheit”


Die Kanonen donnerten, die Glocken läuteten, die Weiber kamen aus dem Hurrarufen nicht heraus und die Männer nicht aus der Kneipe, die Säuglinge bekamen eine Brust oder eine Flasche extra, je nach dem Ernährungs­vermögen der Mütter, die Schulkinder warfen mit patriotischer Begeisterung die Bücher für 24 Stunden an die Wand, die Gefangenen im Gefängnis spielten auf ihren Ketten, ähnlich den Clowns auf den abgestimmten Gläsern, die Nationalhymne, und die Bettler brachen aus allen Ecken und Kanten hervor, um die Jubelstimmung auszunutzen und reichen Lohn zu ernten. Denn Jubel, eitel Jubel und Sonnenschein herrschte im ganzen Land, und nicht ohne Grund: dem erlauchten Herrscherpaar war ein Sohn geboren worden. Eigentlich hatte es eine Tochter werden sollen, darüber waren sich in der feierlichen Stunde der Erzeugung der erlauchte Gatte und die erleuchtete Gattin einig gewesen, aber Gott hatte den Entwicklungsgang anders geleitet und so war aus dem Mädchen, noch bevor es geboren wurde, ein Junge geworden. Hinterher wäre diese Metamorphose ja auch schwieriger gewesen.

Der Prinz war da und darüber freuten sich alle, die seit Wochen in den Kirchen für eine glückliche Entbindung mitgebetet hatten — selbst die Kinder, die jungen Mädchen, die zu Haus noch an den Storh glauben mußten und es auch taten, oder wenigstens so taten, als ob sie es täten, selbst die hatten mitbeten müssen. Der Prinz war da und darüber freuten sich alle, nur das erlauchte Elternpaar freute sich nicht so recht, denn der Prinz hatte eine Prinzessin werden sollen. Nun war es doch wieder ein Junge geworden, noch dazu der siebente. Der erste Gedanke des hohen Vaters war: „Der siebente Junge, da muß ich schon wieder Gevatter stehen,” dann fiel ihm ein, daß er das bei seinem eigenen Jungen ja nicht brauche, das beruhigte ihn etwas, aber immerhin: Gott hatte seine Gebete nicht erhört, es war doch ein Junge.

Und ganz wie andere Väter dachte Se. Hoheit(1) schon am ersten Tag der Geburt des neuen Sohnes darüber nach: was soll der Bengel werden?

Die einfachste Antwort auf diese Frage lautete kurz und bündig: ein Prinz. Aber damit war Sr. Hoheit nicht gedient, denn im Gegensatz zu seinen anderen Brüdern und Vettern auf dem Thron hielt er darauf, daß seine Söhne auch etwas ordentliches erlernten und einen Beruf ergriffen. Bei dem ältesten war das naturgemäß am leichtesten: der wurde einfach Thronerbe, ein zwar schwerer und verantwortlicher Beruf, aber immerhin doch einer, der seine Annehmlichkeiten hatte. Der zweite Sohn wurde der Bruder des Thronerben, das hörte sich zwar nicht nach viel an, aber auch diese Karriere war nicht leicht: der Prinz mußte so erzogen werden, daß er jeder Zeit im stande wäre, den Thron zu besteigen, falls sein Bruder frühzeitig von dieser Erde abberufen werden sollte. Und da bei den Fürsten nicht minder als bei anderen Menschen Vorsicht ein gutes Teil der Weisheit ist, wurde der dritte Sohn zum Bruder des Thronfolger-Bruders ernannt und in diesem Sinne erzogen. Damit war nach menschlicher Voraussicht die Thronfolge gesichert, und der vierte Sohn ergriff daher einen anderen Beruf, er wurde Soldat, der fünfte wurde Militär und der sechste wurde Offizier. Was aber sollte der siebente werden? Das war ein Sonntagskind, da mußten die Götter also etwas ganz besonderes mit ihm vorhaben, das schien ja auch schon daraus hervorzugehen, daß es allen heißen, stillen Gebeten zum Trotz doch kein Mädchen geworden war. Und plötzlich wußte Seine Hoheit, der erlauchte Vater: „dies Kind ist uns geboren, damit es etwas ganz besonderes wird, warten wir ab, wie es sich körperlich und geistig entwickelt.”

Und der junge Prinz entwickelte sich, wie das bei einem Prinzen ganz selbstverständlich ist, nicht nur körperlich, sondern auch geistig derartig, daß alle, die Gelegenheit hatten, ihn seinen Eltern gegenüber loben zu dürfen, seines Lobes voll waren. Und eines schönen Tages war der Prinz erwachsen, er war nun zwanzig Jahre, ein schlanker, bildhübscher Mensch mit tadellosen Manieren, der alles gelernt hatte, was ein Prinz zu lernen braucht und der alle Examina mit der höchsten Auszeichnung bestanden hatte, nicht nur infolge seiner großen Kenntnisse, die er nicht besaß, sondern auch infolge der Weisheit seiner Examinatoren, die diese zur Schau trugen(2), wenn Se. Hoheit eine Antwort falsch gab. Dann sahen sie stets sofort ein, daß ihr bisheriges Wissen Stückwerk gewesen sei und daß nicht das richtig war, was sie selbst bisher für richtig gehalten hatten, sondern nur das, was Se. Hoheit sagte.

Zu dem Erstaunen der väterlichen Hoheit war der so sehr begabte Sohn aber trotz alledem immer noch nichts geworden — er lebte dahin wie eine bekleidete Lilie auf dem Felde und das Hofmarschallamt ernährte ihn. Das aber war nicht nach dem Sinn des hohen Vaters, sein Sohn sollte etwas werden, das aber war schwer, denn der Prinz hatte so viel Interessen, daß er sich eigentlich für nichts interessierte und der Vater hatte so wenig Interesse, daß er für die vielen Interessen seines Sohnes kein Verständnis hatte.

Da geschah es, daß ein befreundeter Fürst zu seinen Ahnen versammelt wurde und es war selbstverständlich, daß der Hof der Beisetzung beiwohnte. Aber wen sollte man schicken? Die regierende Hoheit wollte nicht an den Tod erinnert werden und ging nie zu einem Toten, der Thronfolger dachte wie sein Vater, der Thronfolger-Bruder dachte wie sein Bruder und dessen Bruder dachte wie Se. Hoheit selbst. Der Soldat war zu sehr Militär, um vom Dienst fortbleiben zu können, der Militär war zu sehr Soldat, um seine Mannschaften allein zu lassen, und der Offizier amüsierte sich als Leutnant viel zu gut in seiner Garnison, um eine Beerdigungsreise unternehmen zu wollen.

So fiel denn die Wahl auf den letztgeborenen Prinzen — den schönen Paul, wie ih die jungen Damen in den Ballhäusern und bei dem Ballett nannten, die sich seiner ganz besonderen Protektion erfreuten. Nicht etwa, als ob der junge Prinz dabei an irgend etwas böses dachte, nein, das nicht, aber er war nun einmal in dem Grundsatz erzogen, daß jeder Prinz der Protektor irgend einer Sache sein müsse. Und da sein Vater und seine Brüder schon alles andere protegierten, war für ihn nur die holde Weiblichkeit übrig geblieben(3).

Der schöne Paul erhielt die Nachricht, daß er abreisen müsse, als er eben mächtig zu tun hatte — er wollte sich gerade von seinen anstrengenden Protektorpflichten ausruhen und früh schlafen gehen: Enfin seul! Aber statt ins Bett zu gehen, mußte er gleich zur Bahn fahren, um erst am nächsten Morgen am Ziel seiner Reise anzukommen. Achtundvierzig Stunden später kam er mit einem hohen Orden, dem Geschenk des neuen Herrschers von Gottes Gnaden zurück und trotz der traurigen Veranlassung seiner Reise hatte er Gelegenheit gehabt, sich so gut zu amüsieren, daß er zu seinem hohen Vater sagte: „Wenn 'mal wieder irgendwo jemand stirbt, mich geniert's nicht, ich reise überall hin, wohin Du befiehlst.” Da freute sich der erlauchte Vater, als er das hörte, und da gerade in diesen Tagen an einem Fürstenhof ein Sohn geboren war, sandte er ihn gleich zur Taufe, und von der fuhr er zu einer silbernen Hochzeit, und von da zu einer grünen Hochzeit, und dann zu einer goldenen Hochzeit, und dann zu einer Fahnenweihe, und dann zu einer Denkmalsenthüllung, und dann nach einer Stadt, in der ein Denkmal enthüllt wurde, und dann zur Grundsteinlegung eines Denkmals, und dann zu der Eröffnung einer Ausstellung, und dann wieder zu einer Denkmalsfeier, und dann zu einer Beerdigung. So ging das in einem fort und Prinz Paul kam gar nicht mehr aus dem Schlafwagen heraus, und wenn er ausstieg, tat er es nur, um gleich wieder einzusteigen. Der Prinz reiste immer, und so hieß er denn bald überall nur der „Reiseprinz”. Über diesen Beinamen freuten sich alle, die ihn hörten, am meisten aber freute sich der erlauchte Vater, denn jetzt war aus seinem Sohn doch etwas Großes geworden, er hatte einen Namen, der in der Geschichte weiter leben würde, Gott hatte es weise gemacht, als er ihm damals anstatt der Tochter einen Sohn sandte. Und wenn der Herr den Prinzen Paul einmal später wieder zu sich rief, dann hatte der nicht umsonst gelebt: fremde Länder und Völker hatte er kennen gelernt, höchste Orden und Auszeichnungen waren ihm zu teil geworden, wenn er einen Toten begrub oder half, einen Lebendigen zu taufen, unvergängliche Reden hatte er bei Denkmals­enthüllungen und anderen Gelegenheiten halten dürfen, und was Prinz Paul auf diesen Reisen geleistet und geschaffen hatte, würde auch mit ihm nicht untergehen.

Und in dieser Voraussetzung hatte der hohe Vater recht, denn wenn Prinz Paul auf Reisen ging, befand sich in seinem Gefolge stets ein sehr hübscher, junger, schlanker Diener mit einem fast mädchenhaften Gesicht, der dem Prinzen so unentbehrlich war, daß dieser ihn nicht nur des Tages, sondern auch des Nachts stets um sich hatte. Es war eine Eigentümlichkeit des Prinzen, daß er nur schlanke Diener um sich liebte, und wenn einem das gute Leben zu gut bekam, dann schickte er ihn nach vier bis fünf Monaten fort, nachdem er versprochen hatte, auch in Zukunft für ihn zu sorgen, und ein anderer schlanker Diener trat an seine Stelle.

So war der Reiseprinz beständig tätig: am Tage begrub er die Toten, taufte die Lebendigen und enthüllte Denkmäler, und in schlaflosen Nächten sorgte er dafür, daß die Erinnerung an seine Reisen nicht mit ihm sterben würde, sondern daß sie weiter leben würde im Volke. Und da er sich Mühe gab, gelang es ihm auch.


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Seine Hoheit” werden in der ganzen Erzählung die Abkürzungen Se.Hoheit und Sr. Hoheit voll ausgeschrieben. (Zurück)

(2) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier „tragen”, was allerdings offenbar wohl ein Druckfehler ist. (Zurück)

(3) In der Fassung von „Ihre Durchlaucht der Regimentschef”, 1. Aufl., fehlt hier der Wortteil „blieben”, der in einer neuen Zeile stehen müßte. (Zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite