Der Regimentscafé.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 9.Dez. 1905 und
in: „Die Kommandeuse”


Frau Hauptmann von Düst hatte die Damen des Regiments zu einem großen Regimentscafé eingeladen, nicht wie sonst zu einem Kaffee mit zwei ffen, sondern zu einem Café mit einem f und einem accent aigu. Und man wußte, was das bedeutete: daß die Frau Oberst bei dem Café zugegen sein würde und daß es sich um eine hochpolitische Versammlung handelte.

Und zu dieser letzteren Annahme hatte man allen Grund. Das schönste und beste Gesprächsthema war vorhanden, es gab eine große Neuigkeit, ja noch mehr: eine neue, kleine Skandalgeschichte. Brennend gern hätte man sich darüber ausgesprochen, und die Damen hätten gern auf den Café mit einem f dem accent aigu verzichtet, wenn sie dafür nur einen anderen Kaffee bei einer anderen Dame bekommen hätten. Denn gerade bei Frau von Düst konnte man sich über das, was alle Herzen beschäftigte, nicht aussprechen. Natürlich war es Absicht, daß Frau von Düst mit ihrem Café allen anderen Kaffees zuvorgekommen war. Sie wollte versuchen, den herumschwirrenden Gerüchten ein Ende zu machen, sie wollte urbi et orbi verkündigen: was die Menschen sich geheimnisvoll ins Ohr flüstern, ist eine gemeine Verleumdung, weiter nichts. Und um die Damen davon zu überzeugen, würde sie die besten Kuchen aus der Stadt in großen Mengen einkaufen, sie würde ihre letzten echt russischen Zigaretten opfern, und vor allen Dingen würde sie hinterher ihren berühmten Zitronencreme geben, dessen Rezept sie ängstlicher hütete als ein Feldjäger die ihm anvertrauten Staatspapiere. Die Damen zuckten mitleidig die Achseln: als ob ihr das noch etwas nutzen würde! Und alle, die geladen, waren schon im voraus fest entschlossen, sich nicht überzeugen zu lassen, denn dann fehlte es ja wieder an einem pikanten Gesprächsthema, und auf so etwas verzichtet man doch nur dann, wenn man unbedingt muß.

Und außerdem ließ sich die Tatsache doch auch gar nicht wegleugnen: geküßt hatten sie sich draußen im Wald, nicht einmal, sondern fünfmal, und Fräulein von Brocken, die die Szene, hinter einem Baumstamm verdeckt, beobachtet hatte, meinte sogar, es wären sechs Küsse gewesen. Fünf wollte sie auf ihren Eid nehmen, in betreff des sechsten mußte sie es sich noch einmal überlegen, möglich war es ja, daß sie sich irrte, aber nicht sehr wahrscheinlich. Aber ehe man schwört, muß man alles reiflich bedenken, denn ins Zuchthaus will man doch auch nicht wegen eines Meineids, besonders dann nicht, wenn nur zwei fremde Menschen sich geküßt haben . . . ja, wenn man selbst irgendwie bei den Küssen beteiligt und interessiert gewesen wäre, dann vielleicht! Aber so? No!

Na, verdenken konnte man es ja schließlich dem Leutnant Berger nicht, daß er die sich ihm bietende Gelegenheit benützt hatte, Fräulein Berta, die schöne Tochter der Frau Hauptmann, zu küssen. Denn schön war sie, das erkannten selbst ihre Feindinnen an, und wenn sie reich wäre, hätte sie einen Fürsten heiraten können. So schön war sie und auch so wohlerzogen. Wenigstens hatte man das letztere bis vorgestern abends geglaubt, man hätte auf sie geschworen. Und statt dessen ging sie in den Wald und ließ sich küssen, fünfmal, wahrscheinlich sogar sechsmal, wer konnte das so genau wissen, wenn selbst Fräulein von Brocken es nicht einmal wußte?

Wenn die beiden sich absolut hatten küssen wollen, dann hätten sie sich wenigstens einen Platz aussuchen müssen, wo sie vor jeder Überraschung sicher waren. Aber im Wald? Wo das Echo schallt? Wo jeden Augenblick jemand kam? Oder wo jeden Augenblick jemand kommen konnte? Das war einfach schamlos! Dem Leutnant konnte man ja sein Benehmen nicht weiter übelnehmen, Gott, ein junger Leutnant denkt über das(1) Küssen ja nicht so streng, besonders ein Mann wie Berger. Der mußte in allen Gesellschaften mit seiner schönen Stimme das Lied singen: „Küssen ist keine Sünd', mit einem schönen Kind!” Und wenn er es sang, dann sah er mit seinen dunklen, leidenschaftlichen Augen die jungen Mädchen der Reihe nach an. Und daß es ihm kein großes Vergnügen machte, dieses Lied stets nur zu singen, daß es ihn vielmehr reizte, auch einmal danach zu handeln, das konnte ihm schließlich niemand übelnehmen.

Aber Berta von Düst hätte vorsichtiger sein müssen!

Mein Gott, wieviel junge Mädchen erlauben nicht ihrem Freund und Verehrer einen heimlichen Kuß auf die Hand, auf die Stirn, oder, wenn sie vor jeder Überraschung ganz sicher sind, sogar einen ganz flüchtigen, unschuldigen Kuß auf den Mund? Wer wird deswegen gleich ein strenger Sittenrichter sein und die junge Dame deswegen verdammen? Niemand! Nur darf die Sache nicht bekannt werden, sonst ist man gerichtet. Und Berta von Düst war gerichtet, ihr Ruf war dahin, untergraben(2) für immer. Wenn die beiden sich noch wenigstens hätten heiraten können! Aber daran war ja gar nicht zu denken, denn Berger war noch viel ärmer als sie, und das wollte viel heißen, denn Düsts lebten nur von dem Gehalt, das der Hauptmann bezog, und wenn der über kurz oder lang seinen Abschied erhielt, dann saßen sie da mit der kleinen Pension.

Ob der Hauptmann den Leutnant nicht fordern würde? Nach dem bestehenden Ehrenkodex mußte er es eigentlich, ja, er hätte es eigentlich schon tun müssen, und wenn er es noch nicht getan hatte, dann wollte man eben versuchen, die Sache totzuschweigen. Aber dazu war es zu spät. Fräulein von Brocken war schon mit der Neuigkeit in der Stadt herum, sie hatte es zwar allen unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit erzählt, aber trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, war die ganze Stadt unterrichtet. Nein, es war zu spät, und selbst der Café mit dem einen f und dem accent aigu konnte nichts mehr daran ändern.

So machten sich denn die Damen auf den Weg, nachdem sie sich möglichst elegant geputzt und ihre heitersten Mienen aufgesteckt hatte, denn es liegt für viele ein eigener Reiz darin, Unglücklichen zu zeigen, wie glücklich und beneidenswert man selber ist.

Aber das mußte man der Frau von Düst lassen, auch sie machte einen glücklichen Eindruck, wenigstens äußerlich. Sie war die Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit selbst, unermüdlich bot sie Kuchen, Schlagsahne und hinterher ihren Zitronencreme an, ja, als sie sah, wie ihre Speise auch heute allen ausgezeichnet schmeckte, erbot sie sich sogar freiwillig, das Rezept der Speise allen bekannt zu machen. Das rührte die Damen beinahe zu Tränen. Daß sie selbst dieses Opfer brachte, um sich das Schweigen ihrer Gäste zu erkaufen, daß sie für die Ehre ihres Kindes sogar die Ehre ihres Hauses preisgab (das war das Rezept des Zitronencremes bisher in mancher Weise gewesen), das war mehr als groß. Nur eine Mutter konnte so handeln, nur eine Mutter, die alles, alles für ihr Kind tut.

Aber es war zu spät. Und darin lag die ungeheure Tragik dieses mit Herzblut gebrachten Opfers.

Und die Hausfrau merkte selbst, daß es zu spät war. Sie wurde ganz verlegen, als keine der Damen jetzt das sonst so oft erbetene Rezept für sich in Anspruch nahm.

Von Berta wurde natürlich nicht gesprochen. Am Anfang hatte die Hausfrau ihr Kind entschuldigt — es sei zur Stadt, um eine wichtige Besorgung zu machen, müsse aber jeden Augenblick zurückkommen. Man tat, als glaubte man es, und als Berta nach einer Stunde auch noch nicht da war, fragte natürlich niemand nach ihr. Es wäre ja auch beinahe schamlos gewesen, wenn Berta sich heute hier gezeigt hätte. Nicht etwa als wenn sie etwas gar so Entsetzliches getan hätte, nein, das nicht, aber die Zeit mußte gewissermaßen ihr erst die Küsse wieder fortwaschen, eher konnte man ihr doch nicht wieder begegnen, eher konnte man sie doch nicht wieder begrüßen, als wäre nicht das Geringste vorgefallen. Aber für die Mütter, die selbst erwachsene Kinder hatten, war es auch dann sehr schwer, sie mit ihren eigenen Töchtern wieder zusammenzubringen. Die durften erst, wenn sie wirklich und in allen Ehren verlobt waren, erfahren, daß sich auch bisher sonst fremde Menschen einander küssen. Bis dahin mußten sie in dem Glauben erzogen werden, daß nur Vater und Mutter, Bruder und Schwester, und allenfalls auch Vetter und Cousine sich küssen, dieses letztere aber selbstverständlich nur in Gegenwart und unter stregnster Beaufsichtigung der Eltern.

Es war schon die dritte Kristallschale des berühmten Zitronencremes leergegessen worden, aber eine lebhafte Unterhaltung kam trotzdem nicht auf, obgleich die Hausfrau sich nach Kräften bemühte, eine lustige Konversation in Fluß zu bringen. Sie lachte und scherzte, aber sie erreichte dadurch weiter nichts, als daß die anderen Damen dachten: die Ärmste, wie sie uns leid tut! Mit blutendem Herzen, wenn man dem Sterben nahe ist, auch noch andere belustigen zu wollen, das ist mehr als traurig. Und alle dachten daran, daß ein gewisser Leoncavallo in einer Oper, „Bajazzo”, einen ähnlichen Stoff nicht ohne Erfolg in Musik gesetzt hatte, und sie alle waren der Meinung, auch die arme Frau Hauptmann von Düst wäre ein ausgezeichneter Opernstoff.

Aber die Hausfrau dachte anscheinend gar nicht daran, sich komponieren zu lassen, sie bot unermüdlich Kuchen und Café an, sie nahm sich sogar so zusammen, daß sie nicht ein einzigesmal statt Café Kaffee sagte, wie sie sich überhaupt fabelhaft in der Gewalt hatte. Aber als fast drei Stunden vorüber waren, da fing sie doch an, nervös und unruhig zu werden, und ihre Augen hingen beständig an der Tür.

Die Ärmste, sie ist mit ihren Kräften fertig, sie kann sich nicht mehr verstellen, ihre Selbstbeherrschung ist zu Ende, sie fürchtet, daß Berta jeden Augenblick zurückkommen kann, und sie will ihrem Kinde und uns ein Zusammentreffen ersparen!

So gab man sich denn gegenseitig ein Zeichen, daß es Zeit sei, aufzubrechen, und a tempo(3) erhoben sich alle Damen.

Und in diesem Augenblick sahen alle, wie es mit der so lange künstlich zur Schau getragenen Ruhe und Selbstbeherrschung der Hausfrau vorbei war. Ein anscheinend nervöses Zittern und Beben ging durch ihre Gestalt, und beinahe mit flehender Stimme sprach sie: „Nein, meine Damen, noch dürfen Sie nicht fortgehen . . . Berta muß jeden Augenblick zurückkommen, und ich darf es ihr nicht antun, daß sie mich hier allein antrifft. Sie dürfen ihr die Freude nicht verderben, sich von ihnen als glückliche Braut bewundern zu lassen. Sie wissen ja gar nicht, wie glücklich das Kind ist.(4) Denken Sie sich nur, vorgestern hat sie sich mit Leutnant Berger verlobt, draußen im Walde, als sie sich zufällig auf einem Spaziergang trafen. Beide liebten sich ja schon lange, aber Sie wissen alle, daß wir nicht reich sind, und Berger hatte ja früher auch nichts. Nun aber hat er das große Glück gehabt, daß sein Onkel, der ein sehr, sehr großes Vermögen besitzt, ihn zu sich auf das Gut nehmen will, ja, er hinterläßt ihm später seine vier großen, schuldenfreien Rittergüter, wenn er sich schon jetzt ganz der Landwirtschaft widmen will. Berger hat bereits heute seinen Abschied eingereicht, und übermorgen fahren wir alle zu seinem Onkel, um ihm Berta, die er in herzlichster Weise zu sich einlud, vorzustellen. Ach, wir sind ja so glücklich! Wo Berta nur bleiben mag, sie ist bei der Schneiderin und macht auch sonst noch tausend Einkäufe für die Reise, aber sie muß wirklich jeden Augenblick kommen.” — — —

„So, meine Damen,” sagt sich(5) die Hausfrau, „was ich euch da eben erzählte, das überlegt euch erst mal. Auf diese Minute habe ich mich ja schon den ganzen Nachmittag gefreut. Glaubt ihr, ich hätte euch nicht durchschaut? Ich will gerecht sein und eingestehen, daß ich an eurer Stelle vielleicht auch nicht anders gehandelt hätte. Aber jetzt bin ich begierig, was ihr sagen werdet.”

Aber die sagten gar nichts. Sie waren einfach sprachlos. Sie vergaßen sogar ganz, zu gratulieren, sie fanden ihre Sprache erst auf der Straße wieder. Dann aber fingen sie an zu schelten, sie waren außer sich, ja, noch mehr, sie waren empört. Aus tiefstem Herzen hatten sie die arme Frau von Düst bedauert. Trotzdem sie im Haushalt Wichtiges zu tun hatten, waren sie dennoch alle zu dem Café — der trotz des accent aigu weiter nichts(6) als ein ganz gewöhnlicher Kaffee gewesen war! — gekommen, um ihr zu zeigen, welch lebhaften Anteil sie an ihrem schweren Los nahmen. Ja, sie hatten nicht einmal das Opfer des Rezepts angenommen, um nicht in den Verdacht zu geraten, aus dem Unglück ihrer Mitmenschen Vorteil ziehen zu wollen. Nur um die Ärmste in ihrem Schmerz nicht allein zu lassen, waren sie viel länger geblieben, als sie wollten, und beinahe hätten sie zu viel Café(7) und Kuchen zu sich genommen. Sie hatten Opfer über Opfer gebracht für nichts und wieder nichts, sie hatten ihre Teilnahme einer Unwürdigen erwiesen, und sie gelobten sich im stillen, sich fortan um keinen Klatsch in der Stadt zu bekümmern, wenigstens so lange nicht, bis sie entweder die Gewißheit hatten, daß der Klatsch nur ein Klatsch sei, oder bis sie ganz genau wußten, daß an dem Klatsch — doch etwas Wahres wäre.


Fußnoten:

(1) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeiger” heißt es „übers”. (Zurück)

(2) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeiger” heißt es „begraben”. (Zurück)

(3) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeiger” heißt es „im Tempo”. (Zurück)

(4) In der Fassung von „Die Kommandeuse” fehlt dieser letzte Satz. (Zurück)

(5) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeiger” heißt es „sagte die Hausfrau”. (Zurück)

(6) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeiger” heißt es „nicht weiter”„ statt „weiter nichts”. (Zurück)

(7) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeiger” heißt es „Kaffee”. (Zurück)


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