Rapallo.

Von Wolf Grafen Baudissin (Freiherr v. Schlicht).

in: „Die Zeit”, Wien, 28. Dezember 1905

Zu meiner eigenen Schande sei es gestanden: in der Geographiestunde schlief ich als Schüler immer; vielleicht kam das daher, weil der Geographie die Rechenstunden vorausgingen, in denen ich auch schlief; kurz und gut, für Geographie hatte ich nie das geringste Interesse, und ich sehe noch das wutentbrannte Gesicht meines Lehrers vor mir, als ich von den Vereinigten Staaten Amerikas zwei bei Namen nennen konnte und er mir daher nicht die allerschlechteste , sondern nur die zweitschlechteste Zensur geben konnte. Geographie ist leider auch heute noch meine schwache Seite, und als gute Freunde mir rieten, die abgearbeiteten Nerven in Rapallo zu erholen, fragte ich: Wo liegt denn das? Die es wußten, lachten mich aus, und die es nicht wußten, lachten mich erst recht aus. Und dann erfuhr ich, Rapallo liege eine kleine Stunde mit der Bahn von Genua entfernt, am Golf von Rapallo, der sich im Südosten bis zur Küste von Chiavari und im Südwesten bis zum Vorgebirge Portofino erstrecke. Selbstverständlich stammte diese Weisheit aus dem neuesten „Meyer” (Seite 74); aber ich tat, als glaubte ich dem Sprecher, daß er alles, was er über Rapallo sagte, ebenso wie jeder andere gebildete Mensch in der Schule gelernt habe. Von all meinen Bekannten war noch kein einziger selbst in Rapallo gewesen, aber sie hatten Bekannte, deren Bekannte es von Bekannten gehört hatten, daß Rapallo wunderbar schön sein solle. So fuhr ich denn eines schönen Tages (es regnete und stürmte um die Wette) dem Süden entgegen: seit vier Wochen sitze ich nun schon hier, und mit Schrecken denke ich daran, daß bald die Abschiedsstunde schlagen wird. Das Schicksal hat es gefügt, daß ich ziemlich weit in der Welt herumgekommen bin: ich war im höchsten Norden im ewigen Eis, ich bin am Nordkap auf eine Sekthütte gestoßen, ich habe mich am Toten Meer darüber geärgert, daß es dort Münchener Bier vom Faß gab, und hätte am Jordan beinahe den Menschen erschlagen, der mir Ansichtskarten anbot. Bei den Pyramiden von Giseh wollte ich unbedingt einen Schakal schießen, der nach Aussage der Eingeborenen nur auf mich gewartet hatte, um getötet zu werden, bis besagter Schakal sich denn als ein Hund erwies, den man in ein Schakalfell eingenäht hatte; ich habe auf Korfu freudiges Wiedersehen mit einem Kellner gefeiert, der mich im Sommer stets in Marienbad bedient; ich habe in Monte Carlo der Versuchung zum Spiel widerstanden und von dem ersparten Geld eine Wagenfahrt über die Corniche nach Nizza gemacht und bin dabei von einem Erstaunen in das andere gefallen, daß von den hundert Automobilen, die in Karriere an uns vorübersausten, uns nicht ein einziges überfuhr. Kurz und gut, ich habe viel und vielerlei gesehen, aber noch nirgends etwas so Schönes wie Rapallo, das unbegreiflicherweise erst in den letzten Jahren bekannt geworden ist, dessen Besucherzahl jetzt aber ständig wächst. Ein Beweis dafür sind die vielen neuen Hotels, und die schlauen Italiener richten sich dabei nach dem Patriotismus der Gäste: für die eigenen Landsleute erbauten sie das Hotel „Elena” und für die Deutschen das Grand Hotel „Kronprinzessin Cäcilie”. Die eigentliche Saison, die darin besteht, daß die Preise erhöht werden und daß dafür die Verpflegung, die schon jetzt ganz ausgezeichnet ist, auch nicht um ein Atom besser wird, beginnt Mitte Januar, aber schon gegenwärtig, im Dezember, ist Rapallo von etwa zweihundert Fremden aus aller Herren Ländern besucht. Kein anderer Ort an der Riviera di Levante und auch kein Ort an der französischen Riviera bietet annähernd so schöne Spaziergänge wie Rapallo. Ich nenne nur die Ausflüge nach Portofino, Santa Margherita, Recco, in dessen Kurhotel Nietzsche mit seiner Schwester oft weilte, sowie östlich die Wege nach Chiavari und Sestri di Levante. Stundenlang geht man auf schönen Wegen dahin, und immer neue, immer schönere Ausblicke auf das Meer bieten sich dem Auge. Kein Geringerer als Böcklin hat hier die Motive für seine Bilder gesucht und gefunden. Gestern fragte mich meine Tischnachbarin: „Ob wohl jemand Rapallo so schön schildern kann, wie es in Wirklichkeit ist?” Mir fiel dabei ein Münchener Maler ein, mit dem ich in Spitzbergen zusammen war. Der hatte ein Bild von dem durch die Mitternachtssonne erleuchteten Himmel gemalt, aber als das Bild fertig war, vernichtete er es: „Ich verkaufe es doch nicht, kein Mensch wird mir glauben, daß es etwas so Schönes geben kann.” Und zu der landschaftlichen Schönheit Rapallos kommt das Klima, die herrliche Luft. Es gibt hier keinen Nebel und keinen Staub, selbst im Dezember haben wir zu wiederholten Malen im Freien Mittag gegessen. Im vorigen Jahre, als das Wetter sich ja um keine Voraussagungen und um keine Überlieferungen kümmerte, hat es hier allerdings auch geschneit und gefroren. Auf den Straßen bauten die Kinder große Schneemänner und zeigten den Fremden als größte Sehenswürdigkeit, aber selbstverständlich erst, nachdem diese dafür einen Soldo entrichtet hatten, ein Stück Eis. Aber nach drei Tagen war die Sehenswürdigkeit wieder verschwunden, und die Kinder nahmen den Handel mit kleinen Blumensträußen wieder auf. Das Lied aus dem „Mikado”, „Die Blumen, die blühen im Mai, tralala” paßt nicht auf Rapallo; hier blühen die Blumen immer, und jeden Morgen kaufe ich mir einen Strauß von fünfundzwanzig der schönsten Rosen frisch aus dem Garten, für einen Franken. Hier ist, Gott sei Dank, alles noch billig; das merkt man auch, wenn die Spitzenklöpplerinnen, die vom Morgen bis zum Abend vor ihren Häusern bei der Arbeit sitzen, mit ihren Spitzen ins Hotel kommen. Man schämt sich fast, für ein oder zwei Franken die fleißige Arbeit mehrerer Tage zu erstehen. Und auch hier gibt es Not und Elend. Gestern kaufte ich Spitzen bei einer armen Witwe, die zehn Kinder ernähren muß – ihr Mann ist vor einiger Zeit von einem Nachbarn im Jähzorn erstochen worden, und dieser freundliche Nachbar war 88 Jahre alt. Ein neuer Beweis dafür, daß Alter nicht vor Torheit schützt. Jedenfalls wird der Mörder an seiner lebenslangen Freiheitsstrafe nicht allzu lange zu tragen haben. Das Volk ist hier, wie überall in Italien, immer heiter und lustig. Jeden Morgen, wenn ich auf meinen Balkon trete, warten unten schon zwei junge Fischer auf mich – es ist ein stilles Abkommen, daß ich ihnen dann zehn Centesimi für Zigaretten zuwerfe, und jedesmal führen die beiden achtzehnjährigen, hübschen Burschen dann von neuem einen Freudentanz auf, als hätten sie das große Los gewonnen. Und wie glücklich waren kürzlich ein paar Arbeiter, als ich ihnen einige Soldi schenkte; auf Säcken, die sie halb mit Gras ausfüllen und dann wie eine Art Mütze über den Kopf ziehen, tragen sie schwere Steine und große Körbe mit Kohlen steile Pfade hinauf oder die steilen Treppen zum Benediktinerkloster La Cervora, das jetzt den französischen Karthäusermönchen gehört. Für das stille Leben, das die Mönche führen, entschädigt sie die herrliche Aussicht, die sie von dem Klostergarten aus genießen. Gewöhnlichen Sterblichen ist der Zutritt zum Kloster verschlossen, dagegen ist in Portofino die Villa zugänglich, in der Kaiser Friedrich zuerst Erholung suchte, bevor er von hier aus nach San Remo ging. Auch da genießt man einen prächtigen Rundblick über das Meer und über die mit blühenden Orangen und Oliven bedeckten Berge. Es ist schön hier in Rapallo, aber am schönsten ist es, sich aufs Meer hinausrudern zu lassen, in die Sonne zu sehen und zu träumen. Und ich träume dann regelmäßig, es käme endlich einmal ein Gast an, der mich nicht auf die „Erstklassigen Menschen” hin anredete, dem ich nicht auseinanderzusetzen brauchte, warum ich das Buch schrieb und was ich mir dabei dachte. Aber selbst die schönsten Träume gehen ja nur selten in Erfüllung, die allerschönsten nie – aber ich gebe trotzdem die Hoffnung nicht auf, ich träume weiter, während das Boot leise dahingleitet, während die Wellen leise murmeln und der Klang der Kirchenglocken weit über das Wasser schallt. Rapallo ist märchenhaft schön, und wenn es einmal wieder in der Geographiestunde durchgenommen wird, dann will ich auch ganz bestimmt aufpassen.



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© Karlheinz Everts