Die Qualverwandten.

Humoreske von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Deutsche Lesehalle”,
Sonntags-Beilage zum Berliner Tageblatt,
Jahrgg. 1898, Nr. 21, Seite 162-166 vom 22.Mai 1898,
in: „New Orleans Deutsche Zeitung” vom 12.06.1898 und
in: „Ehestandshumoresken”


Der Herr Premier war so glücklich, wie überhaupt ein Mensch auf dieser sogenannten „schönen” Welt es nur sein konnte. Vom frühen Vormittag bis zum späten Abend hatte er Dienst gehabt; am Morgen war trotz Schnee und Kälte eine lange Felddienst­übung gewesen; durchfroren, müde und hungrig war er gegen Mittag nach Hause gekommen. Kaum hatte er, nachdem er sich schnell umgekleidet, an dem von der theuren Gattin zierlich und appetitlich hergerichteten Frühstückstisch Platz genommen, da war eine Ordonnanz erschienen: „Der Herr Oberst ließe den Herrn Lieutenant bitten, sich sofort zu ihm auf das Regimentsbureau bemühen zu wollen.” Gegen die Bitten der Vorgesetzten ist man machtlos; so war der Herr Premier denn wieder in die Uniform gestiegen und hatte sich fluchend auf den Weg gemacht.

Als er ankam, war der Zahlmeister zum Vortrag da; nur Offiziere wissen, wie lange, wie endlos lange ein solcher Vortrag dauert, und eine gute Stunde hatte der Herr Premier warten müssen, bis er vorgelassen wurde, um gefragt zu werden, ob er seinen Vornamen, er hieß Karl, mit einem C oder einem K schreibe — es war dies für eine ihn betreffende Eingabe von der höchsten Wichtigkeit, und so hatte man nicht gewagt, den Bescheid durch eine Ordonnanz einholen zu lassen: es wäre doch immerhin möglich gewesen, daß der junge Mann sich verhört hätte! Endlich war er wieder zu Hause gewesen, hatte in aller Eile gefrühstückt, sich fünf Minuten auf das rechte Ohr gelegt — oder war es das linke gewesen? Ich bin nicht genau orientirt — war dann zum Nachmittagsdienst gegangen und hatte hinterher in das eine kleine halbe Stunde entfernt liegende Lazareth wandern müssen, um mit einem Soldaten, der am Tage vorher anstatt eines Stückes Kommißbrod sich den halben linken Daumen abgeschnitten hatte, ein Verletzungsprotokoll aufzunehmen.

Ach ja, ein Lieutenant hat viel und vielerlei zu thun, so Manches, von dem so Mancher gar nichts ahnt.

Der Herr Premier stöhnte plötzlich bei der Erinnerung an die großen Thaten, die er heute vollbracht hatte, dann aber bemächtigte sich seiner wieder das Gefühl der Glückseligkeit.

Des Tages Mühen und Qualen waren überstanden. Im bequemen Hausanzug lag er lang hingestreckt auf seiner Chaiselongue und sah den blauen Ringen nach, die er kunstvoll in die Luft jagte; die Ringe waren gut, aber die Cigarre war noch besser. Schade, daß sie sich ihrem Ende näherte! Da mußte er sich eine neue anzünden, und das war mit einiger Arbeit verbunden, und vor dieser Arbeit graute ihm. Er hatte sich fest vorgenommen, heute gar nichts mehr zu thun, absolut gar nichts, nur Abendbrod essen wollte er noch, sonst sich aber nicht von der Stelle rühren — es war zu mollig und behaglich in dem genüthlichen, schön durchwärmten Zimmer im Allgemeinen und auf der Chaiselongue im Besonderen. — Der Premier war in diesem Augenblick, wo er keinen Dienst hatte, nicht nur wieder gern Soldat, sondern auch wieder gern Mensch, obgleich er sich sonst immer sehnlichst wünschte, als Chausseestein geboren zu sein — dann hätten seine Vorgesetzten nach seiner Meinung nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung gehabt, sich an ihm zu stoßen.

Da öffnete sich die Stubenthür, und der Bursche erschien.

„Nun — was giebt's?”

„Ein Telegramm für den Herrn Lieutenant.”

Der Premier öffnete das blaue Briefchen, las die Botschaft, die der Draht ihm gebracht hatte, und sagt: „Es ist gut, Du kannst verschwinden,” und während Fritz, so hieß der jugendliche Krieger, mit stampfenden Schritten verschwand, legte der Offizier das Telegramm ruhig auf den neben seinem Lager stehenden Rauchtisch und dachte weiter nach.

Wenige Minuten später wurde die Stubenthür abermals geöffnet, und die schlanke, graziöse Gestalt der Hausfrau erschien auf der Schwelle.

„Wäre Schiller mir nicht zuvorgekommen, so würde ich in diesem Augenblick als erster aller Menschen das schöne Wort sagen: Wie kommt mir dieser Glanz in meine Hütte? Was führt Dich, die größte Feindin des alle Sorgen verscheuchenden Tabaks, in diese verräucherte Höhle, in der ich mich hoffentlich so gut konserviren werde, daß ich als General noch wie ein junger Lieutenant aussehe? Darf ich Dir, holdeste aller Gebieterinnen, einen Stuhl anbieten, damit Du mir in Ruhe erzählen kannst, was Dich hierher führt?”

„Nichts Besonderes,” gab sie zur Antwort, „ich wollte mich nur einmal nach Dir umsehen. Nein, bitte, bleib' nur ruhig liegen!” fuhr sie fort, als ihr Mann Anstalten machte, sich zu erheben und ihr einen Stuhl zu holen. „Du hast Deine Ruhe heute wirklich verdient.”

Statt jeder Antwort stöhnte er in unnennbarem Weh.

Sie lachte laut auf: „Nun, nun, beruhige Dich nur, so schlimm war es nun auch nicht! Was ich Dich fragen wollte, Du hast ein Telegramm erhalten?”

Er sah sie erstaunt an: „Wie kommst Du auf den Gedanken?”

„Fritz hat es mir gesagt.”

„Nun, dann wird es auch wohl so sein. Hast Du der Köchin gesagt, daß wir pünktlich um acht Uhr essen wollen?”

Er kannte seine kleine Frau, neugierig war sie nicht, absolut nicht, aber schon, als sie in das Zimmer trat, wußte er, daß sie nur wegen des Telegramms käme, und daß sie nur gar zu gern erfahren möchte, was die Depesche enthielte.

„Gewiß,” gab sie zur Antwort, „die Köchin weiß Bescheid. Hoffentlich hast Du keine unangenehme Nachricht erhalten?”

„Eine ganz gleichgiltige Mittheilung. Haben wir übrigens noch Gilka im Haus? Sonst laß Fritz doch noch eine Flasche holen!”

Seine Ruhe und Gleichgiltigkeit fingen an, sie nervös zu machen.

„Auch das ist schon besorgt. Ist der Inhalt des Telegramms ein Geheimniß?”

„Absolut nicht.”

Er schwieg und sah den Rauchwolken seiner Cigarre nach, während seine kleine Frau nervös mit ihren Ringen spielte.

„Du verstehst es, mich in einer Art und Weise auf die Folter zu spannen, die geradezu scheußlich ist!” rief sie endlich, als er immer noch nicht sprach.

„Aber, liebes Kind, ich verstehe Dich absolut nicht,” erwiederte er, „ich beantworte Dir mit der Zuverlässigkeit und Ausführlichkeit des großen Brockhaus alle Fragen, die Du an mich stellst, und bekomme dafür anstatt eines Kusses den Vorwurf, ein Folterknecht zu sein.”

„Aber so sag' mir doch endlich, was in dem Telegramm steht!” rief sie mit flehender Stimme.

„Aber selbstverständlich,” antwortete er mit der größten Ruhe, „ich bin wirklich nicht auf den Gedanken gekommen, daß Dich der Inhalt des Telegramms irgendwie interessirte. Ich glaube, es wird das Beste sein, wenn ich Dir die Depesche vorlese, ist es Dir recht?”

„Deine Gleichgiltigkeit kann einen Goldfisch dazu bringen, sich aus Verzweiflung in einen Haifisch zu verwandeln!”

„Hoffentlich wird unser Goldfisch nicht so thöricht sein, ich wüßte nicht recht, wo wir das Aquarium mit dem Haifisch aufstellen sollten; im Garten ginge es allenfalls, meinst Du nicht auch?”

„Aber Du wolltest mir doch das Telegramm vorlesen!” bat sie mit weinerlicher Stimme.

„Ach ja, richtig, das hatte ich ja ganz vergessen. Also höre!”

Er nahm die Depesche zur Hand und begann vorzulesen:

„Telegraphie des deutschen Reiches. Blatt Nr. 80, Leitung Nr. 1442, aufgenommen von Kl., ausgefertigt durch Bl. um sechs Uhr vierzig Minuten.”

„Aber das ist doch ganz gleichgiltig!” rief sie verzweifelt.

„Findest Du?” erwiederte er, „ich lese auch diese Angaben stets mit dem größten Interesse, das heißt natürlich nur, wenn ich den Text der Depesche schon kenne.”

„Und wie heißt der Text des Telegramms, das Du in Händen hast?”

„Wie gesagt, eine ganz gleichgiltige Mittheilung, wenn sie Dich aber wirklich interessirt —”

Vor dem flehentlichen Blick, mit dem sie ihn ansah, verstummte er, dann fuhr er fort:

„So will ich Deine Neugier, die Du nicht besitzest, nicht länger unbefriedigt lassen. Das Telegramm lautet: „Ankommen 7 Uhr 45 Minuten Lehrter Bahnhof, wohnen Hotel Monopol, wo wir Euch bestimmt erwarten. Onkel Ernst und Tante Minna.”

„Und das — das sagst Du mir erst jetzt?”

Fassungslos sah sie ihn an.

„Wie Du hörtest — ja,” gab er zurück, „im Uebrigen bin ich der Ansicht, daß Du diese welterschütternde Neuigkeit nach drei Wochen, um nicht zu sagen nach drei Monaten, auch noch früh genug erfahren hättest, denn ob Onkel Ernst und Tante Minna hier in Berlin oder in Chicago oder sonst irgendwo sich aufhalten, kann uns doch ganz gleichgiltig sein.”

„Meinst Du?” fragte Frau Erna.

„Natürlich meine ich!” lachte ich lustig.

„Aber wir werden mit Bestimmtheit erwartet!”

„Laß sie warten! Wie oft habe ich nicht schon in meinem Leben vergebens warten müssen! Wir können ihnen ja ein Telegramm senden, in dem wir lebhaft bedauern, bei Eingang ihrer Depesche nicht zu Haus gewesen zu sein; wie kommen die Leute überhaupt dazu, anzunehmen, daß wir zu Haus sind —”

„Erlaube!” fiel Frau Erna ihm ins Wort, „ich mache Dich darauf aufmerksam, daß die Leute, von denen Du sprichst, meine Verwandten sind!”

„Lieber gar keine Verwandten als solche Qualverwandten!”

„Was für Verwandte?” fragte sie erstaunt.

„Liebes Kind!” gab er zur Antwort, „unmittelbar nach Erschaffung der Welt, als alle lebenden Wesen in verschiedene Klassen eingetheilt wurden, entstand für die Spezies der Verwandten die Dreitheilung der Wahlverwandten, der Qualverwandten und der Prahlverwandten. Was Wahlverwandte sind, hat vor mir schon Herr von Goethe darzulegen versucht, bei ihm kannst Du es nachlesen. Der Begriff der „Prahlverwandten” ist zu einfach, als daß er einer Erklärung bedürfte. Welche Seligkeit erfüllt die Brust des Menschen, der da sagen kann: „Mein Onkel, Baron Rothschild, mein Vetter, Vanderbilt, meine Tante, Frau Geheimrath Krupp! — sieh, mit solchen Verwandten kann man doch noch prahlen, mit denen kann man doch noch renommiren, von denen hat man, wenn auch nur indirekt, etwas. Aber Qualverwandte? Entsetzlicher Gedanke! die sind nur auf der Welt, um Andere zu quälen, Jahr und Tag kümmern sie sich nicht um uns, vergessen unsere sämmtlichen Geburtstage, schenken uns weder etwas zur Hochzeit noch zur Konfirmation noch zur Beerdigung — aber wenn sie in der Residenz etwas besorgt haben wollen, wenn die Frau einen ganz modernen Hut wünscht, oder der theure Gatte eine Kiste besonders guter Cigarren hätte, wenn sie durch Berlin reisen, oder bei anderen für sie äußerst wichtigen Gelegenheiten erinnern sie sich plötzlich unserer. Da sind wir, „lieber Vetter”, „mein lieber Neffe”, „süße Kusine”, „reitzende Base”, je nachdem wir ihnen einen mehr oder weniger großen Gefallen erweisen sollen. Eitel und dumm, wie der Menschn nun einmal von Haus aus ist, läßt er sich durch solche Redensarten fangen, man läuft durch ganz Berlin, man verfährt sein letztes Geld in der Droschke, man leiht sich neues, wird bescheiden und fährt mit der Pferdebahn drei Tage und drei Nächte in der Stadt herum. Man erträgt Hunger und Durst, man wird beinahe zm Selbstmörder, man bereitet sich alle Qualen, die es auf der Welt giebt, und hat man sich den Verwandten zu Liebe sämmtliche Stiefel durchgelaufen und sämmtliche Hühneraugen abtreten lassen, so erntet man kein Wort des Dankes, ach nein, so etwas giebt es nicht, wir haben nach ihrer Ansicht einfach unsere Pflicht und Schuldigkeit gethan. Sie haben uns die Ehre angethan, uns zu quälen, und wir haben ihnen die Ehre angethan, uns von ihnen quälen zu lassen, — wir sind nach ihrer Meinung quitt. Pah!”

Der Premier schwieg erschöpft von seiner langen Rede und zündete sich die Cigarre, die ihm ausgegangen war, von Neuem an.

„Nun, und weiter?” fragte da die kleine Frau.

Erstaunt sah er sie an. „Weiter, noch weiter? Ich glaubte, mich über den Begriff der Qualverwandten so deutlich ausgedrückt zu haben, daß selbst ungeborene taubstumme Waisenkinder mich hätten verstehen können!”

„Mag sein,” gab sie zurück, „obgleich ich noch keine Gelegenheit hatte, die von Dir citirte Menschenklasse kennen zu lernen. Deine Definition habe ich gehört und auch begriffen.”

„Also doch!” unterbrach er sie geschmeichelt.

„Aber was ich nicht begriffen habe,” fuhr sie mit erhobener Stimme fort, „ist, was Deine lange Rede mit Onkel Ernst und Tante Minna zu thun hat!”

„Aber Kind,” rief er, „die Beiden sind doch die schlimmsten Qualverwandten, die man sich vorstellen kann!”

„Davon habe ich bis jetzt noch nichts gemerkt!” erwiederte sie etwas gereizt.

„Einmal muß man so etwas ja auch zum ersten Mal merken,” gab er zur Antwort, „und ich finde, mit dem, was sie heute Abend von uns verlangen, können wir ganz zufrieden sein.”

„Ich verstehe Dich wirklich nicht!”

„Wie kann man nur so begriffsstutzig sein! meine natürlich,” verbesserte er sich schnell, „wie kann man nur so etwas nicht einsehen wollen! Mehr können sie doch wirklich nicht von uns verlangen, als daß wir ihretwegen, müde und abgespannt, wie wir sind, von Charlottenburg nach Berlin fahren, nur um ihnen auf ihre Frage zu antworten, daß es uns gut geht, daß wir immer noch keine Kinder haben, und daß ich noch immer keine Aussicht habe, bei Lebzeiten Hauptmann zu werden! Eine größere Qual, als einen ganzen Abend mit solchen spießbürgerlichen Verwandten aus Posemuckel, die mir außerdem völlig gleichgiltig sind, zusammenzusitzen, kann ich mir gar nicht vorstellen, und da sie mir Qual bereiten, gehören eben auch sie zu der großen Familie der Qualverwandten.”

„Das ist Ansichtssache"” erwiederte sie. „Du magst denken, was Du willst, das kann ich ja nicht verhindern; aber ich glaube, es wird die höchste Zeit, daß wir uns auf den Weg machen.”

Er sah sie starr an, fassungslos.

„Was?” stotterte er endlich, „Du denkst doch nicht daran, zu den Verwandten zu gehen?”

„Allerdings,” gab sie zurück, „und Du wirst mich begleiten.”

„Ich soll Dich begleiten? Ich soll diesen schönen Abend, auf den ich mich gefreut habe, wie sich ein Schüler auf die großen Ferien freut, Deinen Verwandten opfern? Ich, der ich vom Dienst so müde und angegriffen bin, daß ich der größten Ruhe bedarf, ich soll Dich begleiten, und Du, die Du mir vorhin nicht gestattetest, daß ich aufstand, um Dir einen Stuhl zu holen, weil Du weißt, wie abgespannt ich bin, Du verlangst, daß ich mit Dir nach Berlin fahre? O, Erna, hätte ich das früher gewußt!”

„So hättest Du mich wahrscheinlich nie geheirathet?”

„So schlecht bin ich nun doch nicht!” vertheidigte er sich, „aber ich hätte Dir den Inhalt des Telegramms verschwiegen.”

Die Uhr schlug halb Acht.

„Karl, es wird wirklich höchste Zeit!” drängte sie.

Er rührte sich nicht.

„Willst Du mich wirklich nicht begleiten?”

„Ich sterbe ja lieber!”

„So stirb!” befahl sie, „dann gehe ich allein!”

„Das wirst Du nicht thun!”

„Und warum nicht?”

„Weil es sich nicht für Damen paßt, in dieser Stunde ohne männliche Begleitung auszugehen!”

„So mußt Du mich eben begleiten!”

„Aber, Kind, so nimm doch Vernunft an!” bat er. „Was haben wir davon, wenn wir mit Deinen Verwandten zusammen sind? — ich kenne sie ja kaum!”

„So wirst Du sie näher kennen lernen.”

„Und nachher verlangen sie tausend Gefälligkeiten von uns, das ist eine Thatsache —”

„Die erst abzuwarten bleibt,” fiel sie ihm ins Wort. „Nun wollen wir aber diesem Gespräch ein Ende machen: ich ziehe mich jetzt an und gehe in einer Viertelstunde fort. Ich gehe!”

„Und ich bleibe!”

„Dann Adieu, viel Vergnügen!” Und schnellen Schrittes eilte sie in ihr Toilettenzimmer.

„Erna, aber so hör' doch!” rief er ihr nach. Aber sie hörte nicht, und verzweifelt blieb der Herr des Hauses auf seiner Chaiselongue liegen. Das war nun der schöne Abend, auf den er sich so gefreut hatte, es war doch einfach zum Verzagen und zum Verzweifeln, der Teufel sollte die Verwandten und den Erfinder des Telegraphen mitsammt der ganzen Elektrizität holen, die war an dem ganzen Unglück schuld; wenn es keine Telegramme gäbe, könnte er heute Abend ruhig zu Haus sitzen! Was sollte er machen? „Ich kann Erna doch nicht allein gehen lassen!” sprach er verzweifelt vor sich hin. „Das geht doch nicht, das geht doch beim besten, eigentlich müßte ich sagen bei dem schlechtesten Willen nicht, denn mein Wille, sie zu begleiten, ist absolut nicht gut — au controleur — im Gegentheil!”

„Es hilft nichts, ich muß mit!” war das Ergebniß seiner Ueberlegung. „Das aber gelobe ich mir, die Verwandten sollen mich heute Abend in meiner eisigsten Laune kennen lernen, zum zweiten Mal telegraphiren sie mir nicht, sie sollen es merken, daß sie für mich Qualverwandte sind!”

Unterdeß saß Onkel Ernst mit seiner Frau im Speisesaal des „Hotel Monopol” und konferirte lange und ausführlich mit dem Kellner; denn für Onkel Ernst war das Essen und Trinken nicht Neben-, sondern Hauptbeschäftigung, und er trank niemals nur, um seinen Durst zu löschen.

„Nun, dann wären wir also einig,” meinte Onkel Ernst endlich, und zu seiner Frau gewandt, setzte er hinzu: „Bis um neun Uhr wollen wir noch warten, wenn die Kinder (es war nur gut, daß der Herr Premier diese zärtliche Anrede nicht hörte) dann nicht da sind, essen wir allein. Um Punkt Neun wird servirt, entweder für vier oder für zwei Personen, verstanden?”

„Sehr wohl, mein Herr!” beeilte sich der Kellner, zu versichern, und er ging, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.

Fünf Minuten vor neun Uhr trafen „die Kinder” ein.

Frau Erna vergnügt und lustig, erfreut, ihre Verwandten endlich einmal wieder zu sehen, der Premier kühl, steif, förmlich, mit einem Gesicht, als wenn er sagen wollte: „Mir wäre lieber, Ihr wäret nicht geboren!”

Gleich darauf setzte man sich zu Tisch.

„Und nun erzählt einmal, wie es Euch in der langen Zeit gegangen ist, da wir uns nicht sahen!” bat Onkel Ernst. „Geht es Euch gut, habt Ihr immer noch keine Aussicht, bald Hauptmann zu werden?”

Der Offizier stöhnte in unnennbarem Weh, es war ganz, wie er es vorausgesetzt hatte, und deswegen hatte man nun den weiten Weg machen müssen.

Frau Erna gab Antwort, während ihr Mann fleißig den Astern zusprach, und dann sagte sie: „Aber nun erzählt auch einmal, wie es Euch geht, vor allen Dingen, wie Ihr so plötzlich nach Berlin kommt.”

„Aber, Kinder, lest Ihr denn gar keine Zeitung?” fragte Onkel Ernst verwundert — der Premier rächte sich für das Wort „Kinder” dadurch, daß er den Onkel um ein volles Glas Sekt schädigte — „ich habe doch eine große Entdeckung gemacht!”

„Du, Onkel?” fragte Frau Erna erstaunt, während ihr Mann malitiös lächelte: Du großer Gott, heutzutage entdeckt ja jeder Mensch etwas, das sich hinterher als Unsinn erweist! Wenn man sich darauf noch etwas einbildet — lächerlich!

„Aber so erzähle doch, Onkel!” drängte Erna.

„Mein Gott, da ist nicht viel zu erzählen — Ihr wißt, mit der Landwirthschaft ist nicht mehr viel los, und schon dachte ich daran, meine Klitsche zu verkaufen, als ich vor einigen Wochen ganz durch Zufall die Entdeckung machte, daß ich auf meinem Grund und Boden ein geradezu großartiges Kalilager besäße. Na, die Fortsetzung könnt Ihr Euch denken — das Gut ist an eine Aktien­gesellschaft verkauft, und ich sage Euch, ich habe mir das Ding nicht schlecht bezahlen lassen, alles baar auf den Tisch in guten Tausend­mark­scheinen, außerdem habe ich mir zehn Prozent vom Reingewinn gesichert, und damit die guten Leute mich nicht über's Ohr hauen, habe ich mich mit hohem Gehalt als Generaldirektor engagiren lassen. Ich sage Euch, die Sache ist großartig — morgen bin ich bei dem landwirth­schaftlichen Minister zur Audienz, und wahrscheinlich werde ich übermorgen zu Sr. Majestät befohlen werden, um ihm Vortrag zu halten. Was sagt Ihr dazu?”

Beide waren eine weile starr vor Erstaunen, dann erhob der Offizier sein Glas und sagte: „Prosit, lieber Onkel!”

Onkel Ernst war plötzlich ein ganzn anderer Mensch geworden, der Qualverwandte hatte sich in einen Prahlverwandte verwandelt, und Erna, die kluge Frau, hörte im Geiste ihren Mann morgen zu einem Kameraden sagen: „Wissen Sie, ich war gestern Abend mit einem Verwandten, einem Onkel meiner Frau, zusammen. Sie haben sicher von ihm gelesen, die Notiz ging durch alle Zeitungen, er hat auf seinen ausgedehnten Besitzungen enorme Kalilager von geradezu unschätzbarem werth entdeckt. Die Sache macht solches Aufsehen, daß mein Onkel hierher befohlen ist, um Sr. Majestät darüber Vortrag zu halten.”

„Gewiß,” würde der Andere antworten, „ich habe davon gehört, und das ist Ihr Onkel? Donnerwetter, haben Sie einen Dusel! Hören Sie mal, den Mann würde ich mir warm halten!”

„Darauf können Sie sich verlassen!” würde ihr Gatte wiederholen, und gleichsam zur Bestätigung, wie richtig sie die Gedanken ihres Mannes errathen hatte, erhob dieser in demselben Augenblick sein Glas: „Prosit, mein lieber Onkel, auf Ihr Wohl, liebe Frau Tante!”

Und nie wieder entstand Streit, wenn Onkel Ernst und Tante Minna in Zukunft nach Berlin kamen, — als Qualverwandte a.D. und Prahlverwandte i.D. waren sie auch dem Herrn Premier jederzeit herzlich willkommen.


Oben.jpg - 455 Bytes
zu Schlichts Seite

© Karlheinz Everts