Eine Prüfung.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Zurück — marsch, marsch!”


Das Husarenregiment Kaiser Ferdinand hatte die Einladungen zu einem Ballfest ergehen lassen. Es war ein alter Brauch, den Ehrentag des Regiments, der mit goldenen Lettern in die Kriegsgeschichte eingeschrieben war, nicht wie bei vielen Truppenteilen durch ein Liebesmahl zu feiern, sondern man gab ein großes Fest, bei dem sich alle Freunde des Regiments einfanden.

Auch in diesem Jahr erweckten die Einladungskarten, wo sie abgegeben wurden, große Freude, nur im Hause des alten Medizinalrates schwankte man, ob man zu- oder absagen solle.

„Laß uns, bitte, absagen, Mama,” bat Ellen, die zwanzigjährige, schlanke und graziöse Tochter des Hauses, und legte zierlich ihren Arm um den Hals der trotz ihrer fünfzig Jahre noch immer fast jugendlich aussehenden Mutter. „Du wirst es mir nachfühlen, daß ich gerade an diesem Tage das Kasino nicht gerne betreten möchte.”

Die Mutter küßte ihr Kind auf die Stirn: „Hast du ihn denn immer noch nicht vergessen?” Und als die Tochter, in deren Augen die Thränen gestiegen waren, ihren Kopf an den Busen der Mutter barg, strich diese zärtlich über das dichte, braune Haar ihres Kindes. „Ja, ja, verdenken kann ich es dir nicht, er war hübsch und stattlich, eine vornehme, ritterliche Erscheinung, ein Mann von liebenswürdigem, heiteren Wesen. Ich hätte wohl gewünscht, daß er mein Sohn geworden wäre, aber, Liebling, wer weiß, was ihn damals abgehalten hat, um dich zu werben, wie du und ich es sicher erwarteten. Vielleicht hat er sein Herz geprüft und gefunden, daß es doch nicht die richtige Liebe sei, die er für dich empfand, und hat es für besser gefunden, nicht zu sprechen, anstatt dich und sich selbst unglücklich zu machen. Denk auch daran, vielleicht hat er recht gehandelt. Du bist noch jung, ein langes Leben liegt noch vor dir, die Zeit wird auch die Wunde deines Herzens heilen. Weine nicht, ich höre den Vater kommen, du weißt, er liebt es, fröhliche Gesichter zu sehen, wenn er von seiner Praxis nach Haus kommt. Laß mich lieber allein, ich werde mit deinem Vater sprechen und hoffentlich durchsetzen, daß wir den Ball nicht besuchen.”

Aber als der alte Medizinalrat hörte, um was es sich handelte, blickte sein sonst so lustiges, joviales Gesicht sehr ärgerlich drein. „Nun wollt ihr mir auch noch das größte Vergnügen des ganzen Jahres rauben? Das finde ich sehr wenig nett von euch. Ihr wißt, aus all den anderen Gesellschaften mache ich mir nicht viel, aber das Fest im Kasino liebe ich.”

Beruhigend legte seine Frau ihre Rechte auf seine Schulter. „Aber wenn Ellen dich nun sehr bittet, daß wir ihretwegen nicht hingehen!” —

„Elle soll sich nicht auslachen lassen,” schalt der Vater, „was ist denn da groß geschehen? Der Kramsta hat ihr im vorigen Jahr sehr stark den Hof gemacht und sie hat wahrscheinlich nicht zum ersten und sicher nicht zum letztenmal ihr Herz verloren. Man weiß ja, wie das so kommt, er hatte den Ruf, der beste Tänzer zu sein, na, und ganz umsonst habe ich das Geld für Ellens Tanzstunden ja auch nicht ausgegeben. Beim ersten Walzer fanden sie, daß sie gut zusammen tanzten, beim zweiten Walzer, daß sie sehr gut zu einander paßten, und beim dritten Walzer kamen sie aus dem Takt und die Sache war zu Ende.”

„Wie kannst du nur so leicht darüber sprechen,” tadelte sie unwillig, „auch du hast doch erwartet, daß Kramsta am Tage nach dem vorjährigen Kasinoball um Ellen anhalten würde?”

„Gewiß,” pflichtete er ihr bei, „weil du mich die ganze Nacht nicht schlafen ließest, sondern mir wenigstens fünfundzwanzigmal mit aller Bestimmtheit erklärtest, daß Kramsta kommen würde. Du sprachst mit dem Brustton solcher Ueberzeugung, daß nicht nur der ungläubige Thomas, sondern überhaupt sämtliche Ungläubige der Welt dir geglaubt haben würden.”

„Und da warst sehr verwundert, ebenso wie wir, daß er nicht kam.”

„Das gebe ich gern zu,” erwiderte er. „Liebes Kind, man wundert sich immer, wenn etwas nicht eintrifft, was man fest erwartet und geglaubt hat. Ich erinnere dich nur an dein verwundertes Gesicht, das du gestern abend machtest, als trotz aller deiner Erwartungen deine Torte absolut nicht steif wurde, sondern daß sie, als du die Form umkehrtest, wie ein Glas Wasser auseinander lief.”

„Aber so sprich doch ernsthaft,” bat sie, „ich finde, der Gegenstand unserer Unterhaltung ist zum Scherzen wenig oder gar nicht geeignet.”

Er küßte ihr ritterlich die Hand. „Du hast mich viel zu gut erzogen, als daß ich es ernsthaft wagen würde, deinen Unmut zu erwecken. Sprechen wir also ruhig und sachlich. Auch ich habe erwartet, daß Kramsta um Ellen anhalten würde, ich habe es sogar für Ellen gewünscht, denn ich sah, daß Ellen ihn liebte. Daß er kommen mußte, oder richtiger gesagt, daß er hätte kommen müssen, sehe ich ebeno wenig ein, wie deine Behauptung, daß er Ellen kompromittiert hat. Das ist Unsinn, verzeih das herbe Wort, es ist nun einmal gesprochen. Bitte, unterbrich mich nicht,” bat er, „die zwei Augen des Vaters sehen ebenso scharf, vielleicht noch schärfer, sicher aber unbefangener als das brühmte Mutterauge, das häufig nicht das sieht, was es sieht, sondern das, was es sehen möchte. In dieser heiligen Stunde will ich dir sogar gestehen, was ich dir bisher verschwieg, ich selbst habe Kramsta abgeraten, zu uns zu kommen.”

Fassungslos starrte seine Frau ihn an. „Das hättest du gethan, der du die Liebe zu deiner Tochter immer auf den Lippen trägst, das hättest du gethan? Du hast es ruhig mit angesehen, wie das Kind sich grämte und härmte, wie es weinte und blasser wurde von Tag zu Tag? Pfui, schäme dich!”

„Und wenn ich nun so gehandelt hätte, weil ich Ellen vielleicht noch lieber habe als du?” Er hatte ihr gegenüber auf einem Lehnstuhl Platz genommen und sah sie mit seinen offenen, blauen Augen treuherzig an. „Hältst du mich wirklich, wie es scheint, für einen Rabenvater? Kennst du mich nach zwanzigjähriger Ehe so wenig? Dann bleibt mir ja nichts anderes übrig, als dir den Zusammenhang klar zu machen. Du erinerst dich, daß ich euch an jenem denkwürdigen Kasinoabend allein nach Haus fahren ließ, ich selbst blieb noch dort mit einigen älteren und jüngeren Herren sitzen. Wie es gekommen ist, weiß ich nicht mehr, kurz und gut, auf einmal wurde gejeut.Du kennst mich, mich lockt kene Karte, so sah ich in aller Ruhe dem Spiel zu. Es wurde hoch, sehr hoch gespielt, große Summen wurden gewonnen und verloren. Kramsta, der sich auch am Spiel beteiligte, hatte ein wahnsinniges Pech — als das Spiel zu Ende war, hatte er eine Summe verloren, die ich dir lieber nicht nennen will. Als die Gesellschaft sich zum Aufbruch rüstete und ich noch einmal in den Saal zurückging, um meine Zigarrenspitze zu holen, die ich auf dem Tisch hatte liegen lassen, fand ich Kramsta in einer Sofaecke sitzend, ganz allein in dem großen Saal, der deutlich die Spuren des soeben beendeten Gelages trug.

Als ich bei ihm vorbeiging, sah er mich todestraurig an. „So, nun ist's aus, Herr Rat, ganz aus.”

Ich konnte nicht umhin, ihn wegen seines leichtsinnigen Spiels zu tadeln.

„Ja, wie konnte ich nur so handeln?” sprach er vor sich hin, und dann, wohl einem plötzlichen Impulse folgend, fuhr er fort: „Nun ist ja doch alles aus und alle Hoffnungen sind begraben, nun darf ich mich Ihnen anvertrauen, ich möchte nicht, daß Sie, dem ich einst näher zu treten hoffte, schlecht von mir denken.”

Ich setzte mich zu ihm und hörte seiner Beichte zu. Er hatte Schulen, auch die Summe verschweige ich dir lieber, nur so viel will ich dir sagen, daß sie den Rest seines einst großen Barvermögens weit überstieg. Er erzählte mir, daß er Ellen liebe und um sie habe anhalten wollen, daß ihm aber immer davor gegraut habe, mir dann seine Schulden gestehen zu müsen. Er hätte auch den leisesten Schein vermeiden wollen, als sei er durch seine pekuniären Verhältnisse gezwungen worden, zu heiraten, reich zu heiraten. Er hatte sich an seinen Onkel, dessen großes Majorat ihm dereinst zufällt, mit der Bitte gewandt, ihm zu helfen, der aber hatte geantwortet: Nach meinem Tode bekommst du alles, bei Lebzeiten nichts mehr. Er habe den Gedanken an Ellen schon aufgegeben, aber in ihrer Nähe sei am heutigen Abend die Liebe mächtiger denn je in ihm geworden, und er habe einsehen müssen, daß er ohne sie nicht leben könne. Als das Jeu begonnen, habe er geschwankt, ob er sich beteiligen solle, dann aber habe er plötzlich gedacht, daß er beim Jeu vielleicht gewinnen und seine Schulden werde decken können. Es sei anders gekommen, nun habe er auch den Rest seines Vermögens verloren, nun sei es ganz aus.

Aufmerksam hatte ich ihm zugehört, als Arzt lernt man es ja, auc in den Seelen der Menschen zu lesen, und so las ich in seinem Innern während er sprach. Und eins fand ich in ihm, eine anständige, ritterliche, vornehme Gesinnung. Sympathisch hatten mich seine Worte berührt, daß er sich seiner Schulden wegen gescheut hatte, zu mir zu kommen.

Ich hätte ihm geholfen, um seiner selbst willen, ich that es gerne, weil ich auch an Ellen dachte. Wir schlossen einen Pakt, die Spielschulen wurden gedeckt, ich übernahm es, die anderen Schulden zu bezahlen. Ich kaufte die Wechsel auf, löste sie ein und ließ mir von Kramsta einen Schuldschein geben, den er sofort nach Antritt seiner Erbschaft einlöst. Wird Kramsta mein Schwiegersohn, so habe ich eigentlich nur im eigenen Interesse und in dem meines Kindes so gehandelt; heiratet er Ellen nicht, so habe ich wenigstens ein Menschenleben gerettet. Ich verlangte von Kramsta als Gegenleistung, daß er sich noch nicht um Ellen bewerben dürfe und nahm ihm sein Wort ab, daß er sich ihr nicht eher wieder nähern würde, bevor ich es erlaubte. Auf meinen Rat hin ließ er sich auf drei Jahre zur Reitschule kommandieren, drei Jahre werden sich die beiden also, wenn ich es so will, nicht sehen. Ellen ist noch jung, wer weiß, ob sie nicht noch einen anderen als Kramsta wählt, und auch er selbst muß erst beweisen, daß er ein ernster, solider Mann ist, dem ich mein Kind ruhig anvertrauen kann. Ein Jahr ist nun verflossen, ein Jahr hat er sich tadellos gemacht, und mit der Zulage, die ich ihm gebe und über die wir später auch abrechnen, kommt er aus, ohne Schulden zu machen. Ich weiß dies nicht von ihm selbst, ich stehe gar nicht mit ihm in Korrespondenz, selbst das Geld geht durch dritte Hand, aber ich bin dennoch über alles, was er thut, genau orientiert. So, Liebste, nun habe ich dir alles gesagt und nun frage ich dich, nachdem ich dir den Eid abgenommen habe, gegen Ellen von alledem keine Silbe zu verraten, nun frage ich dich, kannst du es verantworten, mich dem Kasinofest fern zu halten?”

Sie war aufgestanden und hatte sich über ihn gebeugt, um ihm die Stirn zu küssen. „Verzeih mir,” bat sie, „und zürne mir nicht, daß ich auch nur einen Augenblick an dir zweifeln konnte, wie gut du bist!”

„Gewiß, gewiß, ich bin die Perle von einem Menschen, leider kommen aber doch zuweilen Stunden, in der du es bezweifelst, daß ich wirklich prima Qualität bin,” lachte er vergnügt. „Du großer Gott, wozu hat man denn sein vieles Geld verdient, wenn man es nicht einmal dazu verwenden soll, um hin und wieder damit einem Armen zu helfen! Nun thu' mir aber den einzigen Gefallen und sprich von der ganzen Geschichte nicht mehr. Wie ich sie dir ein ganzes Jahr verschwiegen habe, so hätte ich sie auch noch länger für mich behalten, wenn ich dieses Geständnis meiner Sünden nicht für nötig gehalten hätte, um die Erlaubnis zum Ausgehen zu bekommen.”

„Wie kannst du nur so sprechen,” schalt sie halb scherzend, halb ernsthaft, „als wenn hier im Hause ein anderer Wille herrschte, als nur der deine!”

„Henriette, daß ich dein Diener bin, habe ich gewußt alle Zeit, daß ich aber auch dein Herr bin, erfahre ich erst in diesem Augenblick” sagte der alte Herr jovial lachend, „nun aber setze dich mit unserem Kind in Verbindung, sage ihr, wir würden den Ball besuchen, daran ließe sich absolut nichts ändern.”

Die Frau Medizinalrat ging, um ihre Tochter aufzusuchen, die sie in ihrem Zimmer wußte. „Nun? Was sagt Papa? Wollen wir absagen?”

Die Mutter nahm auf der Chaiselongue Platz und zog die Tochter zu sich heran. „Setz' dich zu mir, mein Kind, und höre, was ich dir zu sagen habe. Wir werden den Ball besuchen. Dein Vater hat so entschieden, und nachdem ich seine Gründe gehört, kann ich ihm nur zustimmen. Es liegen eigentlich gar keine Gründe vor, das Fest nicht zu besuchen. Kramsta ist nicht hier — warum sollst du da nicht auf den Ball gehen? Ich sagte dir schon vorhin, vielleicht hat er nicht die richtige Liebe für dich empfunden. Nun sei verständig, Ellen, weine nicht. Der Vater will es und du weißt, da ist nichts zu ändern. Und nun zeig mir, was du auf dem Ball anziehen willst, ich möchte gerne, daß du auch diesesmal die Schönste bist.”

*     *     *

Zu acht Uhr war geladen, Wagen auf Wagen fuhr donnernd durch das Portal des alten Schlosses, das einst stolzen und mächtigen Herzögen und Landgrafen als Wohnung gedient hatte, jetzt aber zur Kaserne eingerichtet war.

Fast als letzter kam der Medizinalrat mit seinen Damen — im Augenblick, da er hatte anfangen wollen Toilette zu machen, war er zu einer Kranken gerufen worden. Er hatte seinen Damen den Vorschlag gemacht, allein voran zu fahren, aber sie hatten erklärt, seine Rückkehr abwarten zu wollen.

„Ich kenne mein eigenes Kind nicht wieder,” dachte der Medizinalrat, während sie noch im Wagen saßen und darauf warteten, bei der Treppe vorfahren zu können, „früher wollte sie immer die erste sein und manche Strafrede habe ich hinnehmen müssen, wenn ich nicht auf die Minute im Frack und weißer Binde dastand. Aber heute ist ihr alles gleichgiltig! Na, wenn sie erst ein paarmal getanzt hat, wird die gute Stimmung schon wieder kommen.”

Endlich war der Wagen vorgefahren, ein Husar öffnete den Wagenschlag und ein wenig später, nachdem sie die Garderobe abgelegt hatten, betraten sie den großen Saal, in dem der Kommandeur mit seiner Gemahlin die Honneurs machte. Eine lebhaft plaudernde Menge wogte auf und ab, es war ein Händedrücken und ein Begrüßen, als ob man sich seit einer Ewigkeit nicht gesehen hätte, die Offiziere des Regiments, junge Assessoren und Referendare, Offiziere von benachbarten Garnisonen eilten mit den Tanzkarten in der Hand umher und bald war auch Ellen, die als vorzügliche Tänzerin bekannt war, von einer Schar von Herren umringt, die sich einen Tanz sichern wollten. Gleichzeitig reichte Ellen ihre Karte hin, wer mit ihr tanzte, war ihr ganz gleich, da der, mit dem zu tanzen ihr allein ein Vergnügen machte, doch nicht hier war.

In einem Nebenzimmer, allen Blicken sichtbar, saß die Regiments­musik und wartete des Zeichens zum Beginn des Balles. Jetzt trat der Kommandeur auf den Tanzordner zu — zustimmend verneigte sich dieser vor seinem Vorgesetzten, winkte dem Kapellmeister und gleich darauf rauschten die Klänge der „blauen Donau” durch den Saal.

„Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?”

Ellen fuhr aus ihrem Grübeln empor, wehmütig berührten sie gerade die Töne dieses Walzers, seiner Lieblingsmelodie, nach der sie so oft im seligen Vergessen dahingeschwebt waren.

„Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?”

Verwundert sah der junge Offizier, der den ersten Walzer hatte, zu ihr empor. Einen Augenblick dachte sie daran, ihn zu bitten, ihr den Tanz zu erlassen, dann aber duldete sie es, daß er sie umfaßte und mit ihr davon tanzte. Sie erschrak, als sie merkte, wie schwer sie tanzte, wie schwer sie sich auf ihren Herrn stützte, ihr war, als hätte sie Blei in den Füßen.

„Ich danke Ihnen sehr, bitte, führen Sie mich nach meinem Platz zurück, mir war den ganzen Tag schon nicht wohl, ich hätte nicht kommen sollen.”

Nun saß sie dicht neben ihrer Mutter und sah dem Tanz zu. Während sie sonst vor Scham hätte weinen mögen, wenn sie einmal nicht aufgefordert wurde, bat sie heute alle Tänzer, sie zu entschuldigen. Stärker als je wurde hier in diesen Räumen die Erinnerung an den Geliebten in ihr wach. Dort in jener Nische hatte er gerade heute vor einem Jahr mit ihr gesessen und geplaudert, dort in jener Ecke neben dem Kamin hatten sie gestanden, um sich auszuruhen nach einem langen, langen Walzer, bei dem keiner von ihnen ein Wort gesprochen hatte, weil die Glückseligkeit, die sie durchdrang, keine Worte aufkommen ließ: auch nach dem Tanz hatten sie schweigend nebeneinander gestanden, nur ihre Augen hatten gesprochen und verraten, was in ihnen vorging. Dort vor jener Thür hatten ihre Stühle während des Kotillons gestanden, dort hatte er neben ihr gesessen und mit halblauter Stimme süße Liebesworte und Schmeichelnamen ihr zugeflüstert, die den Glauben in ihr erweckten, in ihr erwecken mußten, daß er sie liebe, wie auch sie ihn liebte. Sie hatte auf ihn gewartet Tag für Tag, Woche für Woche, bis sie gehört hatte, daß er auf Urlaub gegangen sei, nach dessen Beendigung er ein dreijähriges Kommando antreten werde. Da hatte sie mit sich gekämpft und gerungen, sie wollte Herr ihrer Liebe werden, nicht mehr denken an den, der sich so unwürdig benommen hatte, sie wollte ihn vergessen, aber sie mußte einsehen, daß man die Liebe nicht gewaltsam aus dem Herzen reißen kann und daß es ein Unding ist zu sagen: „Ich will dich nicht mehr lieben.”

Unterdes stand der, dem alle ihre Gedanken galten, nur wenige Schritte von ihr entfernt, in dem Rauchzimmer vor ihrem Vater.

„Sie hier, Herr Leutnant? Das ist gegen die Abrede!”

„Doch nicht so ganz, wie es vielleicht den Anschein hat,” gab Kramsta zur Antwort, „ich bin dienstlich hier, um mit dem Kommandeur zu sprechen. Ich will mich ein Jahr beurlauben lassen, mein guter Onkel fängt an, sich zu langweilen auf seinem großen Besitz, seitdem ihn die Gicht plagt und er nicht mehr wie sonst sich um die Wirtschaft kümmern kann. Er verlangt, daß ich zu ihm komme, er droht mir mit allem Möglichen, sogar mit Enterbung, wenn ich mich nicht beurlauben lasse. So habe ich nur die Qual, nicht einmal die Wahl, denn es wäre Wahnsinn, den Wunsch des Onkels nicht zu erfüllen. Ich habe dem Kommandeur mündlich die Angelegenheit auseinandergesetzt, ich wollte nur Sie noch sprechen, nun ist alles in Ordnung, ich kann wieder von dannen fahren. Heimlich, wie ich gekommen bin, ziehe ich wieder von dannen, außer den Kameraden, die ich um Verschwiegenheit bat, weiß niemand, ich betone das Wort niemand, daß ich hier bin. Und nun adieu, Herr Medizinalrat, will's Gott, auf baldiges Wiedersehen.”

Er reichte seinem väterlichen Freunde die Hand, dieser aber that, als bemerke er es nicht: „Nun, so eilig werden Sie es doch mit der Abreise nicht haben, wann geht denn Ihr Zug?”

„Urlaub habe ich bis übermorgen abend, aber je eher ich fahre, desto besser ist es.”

Der alte Medizinalrat nickte beistimmend. „So unrecht haben Sie wohl nicht, na, einen Augenblick können Sie mir doch noch Gesellschaft leisten, das habe ich denn doch schließlich, ohne mich rühmen zu wollen, um Sie verdient.”

„Wenn Ihnen wirklich etwas an meiner Gesellschaft liegt, bleibe ich natürlich mehr als gerne und erzähle Ihnen, wie es mir ergangen ist.”

Und während der junge Offizier sprach, lauschte der Aeltere mit Vergnügen und freute sich über die frische Art, über den sonnigen Humor des Jüngeren, über dessen chevalereske Ansichten und Meinungen.

„Ein netter Mensch ist er ja immer gewesen,” dachte der Aeltere, „aber er hat sich entschieden doch noch zu seinem Vorteil verändert, er ist ruhiger, besonnener geworden, viel solider darf er nun nicht mehr werden, sonst wird er ein Philister, und damit ist weder mir noch Ellen gedient.”

Im Geiste fühlte er plötzlich Ellens Augen auf sich ruhen; er sah sie vor sich, so still und ernst, so ganz anders wie sonst, und mit einemmal durchfuhr ihn der Gedanke: „Was würde Ellen wohl darum geben, wenn sie statt meiner dem liebenswürdigen Menschen hier gegenüber sitzen könnte?”

„Wollen Sie Ellen, ich meine meiner Frau und Tochter nicht wenigstens guten Tag sagen?”

Fröhlich lächelnd, das Glück und die Freude seines Kindes sich vorstellend, blickte der alte Herr sein Gegenüber an.

Der saß einen Augenblick da, als wisse er nicht, ob er wache oder träume.

„Ist das Ihr Ernst?” fragte er endlich mit zitternder, vor Aufregung bebender Stimme, und als der andere ihm heiter zunickte, fuhr er fort: „Ob ich will? Davon kann doch nicht die Rede sein Aber eins sage ich Ihnen, Herr Rat, wenn ich mit Ihrer Fräulein Tochter gesprochen habe und wenn ich sehe, daß sie mich noch ebenso liebt, wie ich sie, lasse ich mich nicht zum zweitenmal, ohne mein Herz ausgeschüttet zu haben, in die Verbannung schicken.”

„Na, dann schütten Sie nur aus,” sagte der alte Herr lachend. „Verlobungen können rückgängig gemacht, Ehen geschieden werden. Wenn Sie in Zukunft wieder Anlaß zur Klage geben, will ich Sie schon wieder los werden. Das lassen Sie nur meine Sorge sein.”

„Und lassen Sie es meine Sorge sein, daß Sie mich nicht wieder los werden,” lachte der junge Offizier, „nun aber entschuldigen Sie mich!” und mit schnellen Schritten eilte er in den Tanzsaal.

Fast die ganze Zeit hatte Ellen dem Tanz zugesehen, und erst auf dringendes Zureden ihrer Mutter, die sie bat, nicht unnötige Reden heraufzubeschwören, war sie hin und wieder ihrem Tänzer gefolgt. Jetzt stand sie im Gespräch mit ihrem Herrn, als sie plötzlich Kramsta auf sich zukommen sah. Sie hatte nicht Zeit, sich zu besinnen, zu überlegen, wie sie sich ihm gegenüber benehmen sollte, sie fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen stieg und in ihren Schläfen hämmerte, sie glaubte umsinken zu müssen — da stand er schon vor ihr, etwas blasser als sonst, aber so ruhig und sicher in seinem Auftreten, daß es auch ihr gelang, sich wieder zu beherrschen.

„Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein? Sie gestatten, Herr Kamerad?” und schon, ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er seinen Arm um sie gelegt und führte sie fort.

„Kramsta ist da.” Das Wort ging von Mund zu Mund, Ellen fühlte, wie aller Blicke auf ihnen ruhten, wie sie beobachtet wurden. Nach und nach hörten die anderen Paare auf zu tanzen, gleichsam als wollten sie die beiden beobachten, und ganz allein tanzte Ellen mit Kramsta in dem großen Saal.

„Wollen wir nicht, bitte, aufhören, Herr Leutnant, ich möchte nicht gerne unnötig die allgemeine Aufmerksamkeit erregen.”

Es waren die ersten Worte, die sie sprach, und sie hörte, wie ihre Stimme zitterte.

„Wie Sie befehlen,” gab er zurück, „aber vorher noch eins. Sie müssen mir Gelegenheit geben, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen. Ihr Herr Vater weiß, was mich veranlaßte, so zu handeln, wie ich es that. Trotzdem hat er mir erlaubt, mich Ihnen heute abend zu nähern, er hat mir verziehen, darf ich hoffen, daß auch Sie dasselbe thun werden?”

Da sah sie hell leuchtenden Auges zu ihm empor, und mit leiser Stimme flüsterte sie: „Die Liebe verzeiht alles, und ich habe nie aufgehört, dich zu lieben!” —


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© Karlheinz Everts