Militärische Prüfsteine.

Militär-Humoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Indiana Tribüne” vom 19.8.1898,
in: „Was ist los?” und
in: „Der stumme Kerl”


Ecksteine sind bekanntlich nur dazu da, daß man an ihnen zu Fall kommt. Mit tödlicher Sicherheit fährt ein Anfänger im edlen Sport des Radfahrens direkt auf den Eckstein zu, auch wenn dieser ganz versteckt im Graben steht, bricht sich Beine oder Arme und dankt seinem Schöpfer, daß wenigstens die teure Maschine nicht in die Brüche gegangen ist. Im Unglück werden die Menschen bescheiden — dies alte Wort ist noch älter als alt.

Der Ecksteine giebt es genug in diesem Leben. Man mag sich noch so viele Mühe geben, ihnen aus dem Wege zu gehen, den wenigsten gelingt dies Kunststück. Die Meisten straucheln und sie merken dies erst, wenn sie mit einem „Hopla” die Beine ineinander verwickeln und mit ihrer Nasenspitze einen Bohrversuch in den mehr oder weniger wasserreichen Erdboden ausführen.

Man fällt viel schneller hin, als man wieder aufsteht; manche erheben sich überhaupt nicht wieder und zu diesen gehört die große Zahl derer, die mit einem lauten, vernehmlichen „Hopla” über einen der vielen militärischen Ecksteine fallen. „Aurea aetas erat,” singt Ovid — ach ja, früher gab es auch beim Militär eine köstliche Zeit, da gab es nur einen einzigen Eckstein. Der lag groß und breit, allen sichtbar, an der Majorsecke, wer ihn dennoch nicht sah, wurde von guten Freunden und Bekannten darauf aufmerksam gemacht, ein „Achtung” machte ihn aufmerksam auf die Gefahr, die ihm drohte. Sprang er schnell beiseite oder wußte er geschickt um den Stein herumzugehen, so war er gerettet, lief er aber dennoch, trotz aller warnenden Zurufe, direkt darauf los — ja, dann war ihm nicht zu helfen, gegen zu große Ungeschicklichkeit ist kein Kraut gewachsen.

So war es früher — und jetzt?

Die Ecksteine vermehren sich wie die Kaninchen. Wer als junger Lieutenant eintritt — also jeder — thut gut, sich beizeiten nach einer passenden Civilstellung umzusehen; wer abends mit dem Helm zu Bette geht, weiß nie, ob er nicht am nächsten Morgen mit dem Cylinder aufsteht. Ja, ja, die Zeiten sind schlechter geworden. Wo sind die guten Freunde, die mit warnender Stimme riefen: „Achtung, ein Stein!”? Die sind tot, gestorben, verschwunden von der Erdoberfläche. Heuzutage denkt jeder nur an sich; er hat genug zu thun, aufzupassen, daß er selbst nicht fällt. Wer liegt, der liegt und über ihn hinweg schreiten die andern vorwärts, aber für sie alle kommt die Stunde, wo sie über irgend einen Eckstein, der ihrer geduldig harrt, zu Fall kommen.

Was für die hohen Vorgesetzten die Ecksteine, das sind für die Soldaten und Offizier-Soldaten (die Herren Lieutenants) die Prüfsteine. Jeder, der einmal einen bunten Rock, und wenn auch nur aus weiter Ferne, gesehen hat, weiß, daß der Hauptprüfstein der Armee der Parademarsch ist. Schon das Wort besagt, daß der Marsch nur bei Paraden, bei feierlichen Gelegenheiten zur Anwendung kommt. — Die Zeiten, wo man in geschlossener Kolonne im strammen Schritt bis auf wenige hundert Meter an den Feind heranmarschierte, stehen blieb, eine Salve abgab und dann wieder weiter marschierte, sind vorüber.

Die einen sagen „Leider Gottes”, die anderen sagen „Gott sei Dank”, zur Beruhigung für den einen Teil und zur Beunruhigung für den anderen ist aber der Parademarsch als solcher geblieben.

„Parademarsch — Bataillon —”

Nur wer selbst jemals in der Front gestanden hat, kennt das schauderhafte Gefühl, das den Zuhörer bei diesen Worten durchdringt.

Ein Parademarsch entwickelt sich wie alles Schöne hier auf Erden aus kleinen Anfängen heraus; er beginnt damit, daß der einzelne Rekrut „langsamen Schritt nach Zählen” übt. Offiziell existiert dieser langsame Schritt nicht mehr, aber offiziös lebt er ruhig weiter und er wird leben, so lange die Rekruten „krumme Knochen” haben. Wann wird die Stunde kommen, da die Leute keine krummen Knochen mehr haben? Nie; denn mögen die Gebeine auch noch so gerade sein, krumm sind sie nach Ansicht der Vorgesetzten doch.

Und wo in der Welt ist der Mensch, der da zu behaupten wagt, daß die Vorgesetzten sich zuweilen irren? —

Kann der brave Krieger den langsamen Schritt, so lernt er den Geschwindschritt: einhundertundvierzehnmal in der Minute muß er dabei abwechselnd den rechten und den linken, nein, den linken und den rechten — nur Bruder Österreich tritt rechts an — Fuß zur Erde niedersetzen, die Fußspitzen auswärts nehmen und die Knie dabei „durchdrücken”.

„Mensch, drücken Sie die Knie durch,” ruft der Unteroffizier sechzigmal in der Sekunde, aber wer es nicht kann, der kann es nicht. Ebensogut könnte man ihm zurufen: „Mensch, erfinden Sie schnell einmal ein Mittel, innerhalb einer Minute Millionär zu werden.” —

Ist die Einzeldressur beendet, so werden zwei Knaben zu gleicher Zeit vorgenommen: diese müssen nebeneinander und hintereinander marschieren, ohne sich gegenseitig anzurennen und ohne sich auf die Hacken zu treten.

Dem edlen Dioskurenpaar folgt ein Terzett, diesem ein Quartett und so geht das immer weiter, bis schließlich eines Morgens,es kann aber auch Mittags sein, die ganze Kompagnie in Linie zu zwei Gliedern auf dem Kasernenhof steht, um den ersten Parademarsch in Kompagniefront zu üben.

„Immer geradeaus gehen, Leute,” ermahnt der Hauptmann, „immer nur geradeaus, kümmert Euch nur nicht darum, was Eure Nebenleute machen. Jeder marschiert für sich und sieht dabei hierher, her zu mir. Nun, nur Mut. ,Parademarsch — Bataillon — marsch'.”

Hundertundzwanzig linke Stiefel — und was für Stiefel! — fliegen gleichzeitig in die Luft, nein, ich irre mich: unter den vielen linken befindet sich ein rechter.

Dieser Stiefel gehört einem Mann im zweiten Glied, und die Folge ist, daß er seinem Vordermann ganz gehörig in die Kniekehlen tritt. Natürlich nimmt der das übel und er benutzt die Gelegenheit, als er den rechten Fuß zur Erde stellen soll, einmal nach hinten auszuschlagen. Durch die vielen Freiübungen, die unsere Leute machen, sind sie so gewandt, daß sie, ohne daß es ihnen irgend welche nennenswerte Schwierigkeit(1) bereitet, ein halbes Jahr und länger auf einem Bein stehen können — auf keinem Bein zu stehen vermag aber selbst der tüchtigste Vaterlands­verteidiger nicht.

In demselben Augenblick, da der Mann im ersten Glied nach hinten ausschlägt, muß er den linken Fuß emporheben, er taumelt und fängt an zu wanken. Schnell setzt er den rechten Fuß wieder hin, aber es ist zu spät, er fällt gegen die linke Schulter seines rechten Nebenmannes, der aber lehnt sich gegen solche Anlehnung auf und giebt seinem Kameraden mit dem linken Ellbogen einen energischen Stoß in die rechte Seite, auf daß er wieder hingeht, von wo er gekommen ist. Der Getroffene schwankt nach links, auch von dort wird er wieder zurückexpediert, so fliegt er hin und her und bringt Unruhe in die ganze Kompagnie.

„Nur immer ruhig geradeaus geh'n,” ermahnt der Hauptmann, „immer nur geradeaus, nicht fallen, immer ruhig weiter gehen, immer Ruhe, Ruhe, Ruhe.”

Wenn man einer durchgehenden Lokomotive „Halt” zuruft, so hat das genau denselben Erfolg, als wenn man einer bei dem Parademarsch in Unordnung geratenen Kompagnie „Ruhe” zuruft, nämlich gar keinen.

So kommt die Kompagnie dann derartig schlecht vorbei, daß der Hauptmann seufzend sprich: „Solchen Marsch, den lieb' ich nicht! Das wollen wir gleich noch einmal machen!”

Die Kompagnie wird wieder aufgebaut und voller Ingrimm dreht sich der Mann im ersten Glied um: „Das sag' ich Dir, wenn du krummer Hund” (er sagt wirklich „Hund”, ich kann nichts dafür) „noch einmal mit dem rechten Fuß antrittst, schlag ich Dir nachher die Jacke voll.”

Diese Drohung nützt mehr als alle freundlichen Ermahnungen, der Jüngling tritt ebenso wie seine Kameraden mit dem linken Langschäftigen an. Aber wenn er seine Sache jetzt auch gut macht, so sind genug Leute da, die keine Ahnung haben; anstatt geradeaus zu gehen, torkeln sie hin und her, als wenn sie voll süßen Weins wären.

Und der Hauptmann seufzend spricht:
„Solchen Marsch, den lieb' ich nicht.”

Abermals wird die Kompagnie aufgebaut und während im Rühren die erste Richtung hergestellt wird, versetzen die alten Leute den neben, vor und hinter ihnen stehenden Rekruten ebenso energische wie freundschaftliche Rippenstöße. „Die Kindsköpfe” sind nach ihrer Meinung ganz allein daran schuld, daß der Parademarsch nichts taugte.

Und abermals geht die Reise los und sie wird an demselben Morgen noch oft unternommen.

„Kinder,” spricht der Herr Hauptmann endlich, „ich will Euch 'mal etwas sagen: Daß bei dem Exerzieren einmal etwas mißglückt, kann ja vorkommen, wenn es natürlich auch nicht vorkommen darf. Was den einen Tag weniger gut geht, geht am nächsten Tag dafür desto besser. Der Parademarsch aber muß immer gut gehen! Immer! Das ist der Prüfstein, ob Ihr etwas leistet oder nicht. Und das sage ich Euch schon heute: Wir werden jetzt jeden Tag zum Schluß des Exerzierens einen Parademarsch machen, ob nur einen oder hundert oder tausend, das hängt ganz von Euch ab. Ich höre aber nicht eher auf, als bis der Parademarsch tadellos ist. Danach richtet Euch. So, und nun wollen wir die Sache noch einmal machen.”

Der Ausdruck „wollen” ist sehr euphemistisch. Von Wollen ist nur äußerlich die Rede; innerlich heißt es: sollen, müssen und es wird so lange marschiert, bis der Parademarsch „einigermaßen” war. Gut ist er nie; ist er es dennoch, so wird es nicht gesagt, damit die Jungens sich nicht etwa einbilden, daß sie etwas leisten. Das giebt es nicht: nur Lernende geben sich Mühe; wer da etwas kann, wird leicht faul und träge. —

Der militärischen Prüfsteine giebt es natürlich ungezählte; alles, alles kann dazu erhoben werden, je nach Umständen.

„Kinder,” spricht der Häuptling eines Tages zu seiner Schaar, „ich will Euch einmal etwas sagen. Ein Parademarsch kann einmal umgeworfen werden, das kann vorkommen, wenn es natürlich auch nicht vorkommen darf; aber die Griffe müssen immer gehen; die sind der Prüfstein für Euch, ob Ihr etwas leistet oder nicht, und ich sage Euch, ich höre des Mittags nicht eher auf zu exerzieren, als bis ich von Euch einen tadellosen Griff gesehen habe. Danach richtet Euch, bitte.”

Was von den Griffen gilt, gilt natürlich auch noch von vielen anderen schönen Dingen, als da sind: Wendungen, Richtung und was das Exerzier-Reglement sonst noch immer in seinem Schoße birgt.

Wie die Vorgesetzten an den Ecksteinen, so straucheln die Untergebenen bei den Prüfsteinen: sie bekommen nicht den Abschied wie diese — das wäre ihnen das liebste — aber sie bekommen Strafen. Mit kleinen fängt man an, mit großen hört man auf.

Ich stand einmal bei einem Hauptmann, der die Gewohnheit hatte, täglich nur zwei Stunden Dienst anzusetzen, der aber in Wirklichkeit stets vier, manchmal aber auch fünf Stunden en suite exerzierte. Die Folge war, daß man natürlich gleich von Anfang an ganz gewaltig bummelte, man mußte seine Kräfte schonen, um überhaupt so lange aushalten zu können.

Jeder Dienst begann damit, daß bei dem Exerzierhaus fünfzig Tornister hingelegt wurden, von denen jeder mit zwanzig Pfund Sand beschwert war. Daß die Tornister nicht einfach hingelegt, sondern fein säuberlich ausgerichtet wurden, ist bei einem so ordnungsliebenden Staat wie dem unsrigen ja ganz selbstverständlich.

Die Kompagnie selbst exerzierte mit leeren Tornistern.

Kaum war das erste Kommando erfolgt, so begann die Bummelei und es dauerte keine fünf Minuten, so donnerte der Hauptmann von seinem Hohen Roß herunter: „Feldwebel, der Mensch da bummelt, tauschen!”

Den Sünder am Arm nehmend, zog der Feldwebel von dannen, nicht um ihn zu ermorden, wohl aber um den leeren Tornister des Mannes gegen einen mit Sand gefüllten zu tauschen.

Der Jüngling, dessen Gewicht sich plötzlich um zwanzig Pfund — und die waren reichlich gemessen — vermehrt hatte, trat in die Front zurück, der Feldwebel aber blieb gleich bei den Tornistern stehen. Er kannte seinen Hauptmann; jetzt hieß es jeden Augenblick: „Meier, tauschen! Hansen, tauschen! Petersen, tauschen!”

Die Leute waren an diesen Tauschhandel schon so gewöhnt, daß er auf sie gar keinen Eindruck mehr machte; lachend meldeten sie sich beim Feldwebel „Zur Stelle.”

Betrübten Sinnes sah der, wie die Zahl der gepackten „Affen” abnahm; er war nicht traurig darüber, daß so viele Leute bummelten, das war ihm ganz gleichgültig, er dachte nur an sich selbst. Sobald er „ausverkauft” hatte, wie er es nannte, mußte er wieder eintreten, und das war ihm natürlich sehr unangenehm.

Zuweilen kam es auch vor, daß der eine oder der andere den „Affen” wieder ablegen durfte, nicht, weil er nicht mehr bummelte, sondern weil ein anderer noch mehr bummelte. Aber das waren Ausnahmen; für gewöhnlich wurde man das, was man sich aufgeladen hatte, nicht wieder los.

Nützte diese Methode nichts, um den Leuten solche Achtung vor den Prüfsteinen beizubringen, daß sie diese nicht umwarfen, dann kam das Nachexerzieren, und hatte auch dieses nicht den gewünschten Erfolg, so sperrte man den „Lümmel” drei Tage ein. — —

Jeder Prüfstein der Untergebenen kann für den Vorgesetzten sehr leicht zum Eckstein werden und „Hinc”, sagt der Spatz, „hinc illae lacrimae!” Das heißt auf deutsch: „Da haben wir den Thee!”


Fußnote:

(1) In der Fassung von „Der stumme Kerl” heißt es hier: „nennenswerten Schwierigkeiten” (zurück)


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© Karlheinz Everts