Ein Ehrenbeleidigungsprozeß.

Die Zeitung „Wiener Neues Journal” berichtet am 20.Juni 1907
über einen Ehrenbeleidigungsprozeß des Freiherrn v . Schlicht.


Ein interessanter Ehrenbeleidigungsprozeß des Freiherrn v. Schlicht (Grafen Baudissin) gegen den bekannten Automobilfahrer Dr. Karl Dieterich beschäftigte, wie uns aus Dresden telegraphiert wird, das dortige Schöffengericht. Graf Baudissin, der Verfasser des bekannten Romans „Erstklassige Menschen”, ließ im vorigen Jahre in Dresden ein Buch erscheinen, betitelt „Dresden und die Dresdener”, das insofern in gewissen Kreisen Aufsehen erregte, als in dem Buche, das man ironischerweise auch als Adreßbuch bezeichnete, verschiedene Personen der ersten Gesellschaftskreise glossiert und mit gerade nicht sehr schmeichelhaften Beinamen ausgezeichnet waren. Das Schlichtsche Buch enthielt auch eine Abteilung „Industrie, Handel und Bankwesen”, und unter den hier aufgezählten Persönlichkeiten befanden sich auch die bekannten Automobilfahrer Hans Dieterich und Dr. Karl Dieterich. Bei ersterem ist die Glosse zu lesen: „Können Automobile auch langsam fahren?” und bei Dr. Karl Dietrich: „Denkt wie obiger.” Hierin erblickte Dr. Dietrich eine Beleidigung, da er sich als rücksichtsloser Automobilfahrer hingestellt glaubte. Er schrieb daher an Freiherrn v. Schlicht einen geharnischten Brief, in dem er v.Schlichts Buch als ein Pamphlet bezeichnete und auch bemerkte, daß es nach einer Reklame für „Odol” aussehe, weil Geheimrat Lingner, der Fabrikant des „Odol”, sehr oft und immer in äußerst schmeichelhafter Weise genannt sei. Daraufhin strengte Graf Baudissin gegen Dr. Dietrich die Beleidigungsklage an, die vor dem Dresdener Schöffengerichte zur Verhandlung kam. Nachdem der als Zeuge erschienene Geheime Kommerzienrat Lingner das Gerücht, Freiherr v. Schlicht habe sein Buch im Auftrage Lingners gegen ein Honorar von 30.000 Kronen geschrieben, als unbegründet bezeichnet hatte, schlossen die Parteien einen Vergleich und erklärten, daß ihnen die Absicht einer Beleidigung ferngelegen hätte. Freiherr v. Schlicht versprach außerdem in künftigen Auflagen seines Buches die Bemerkung „Können Automobile auch langsam fahren?” wegzulassen.


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© Karlheinz Everts