Der kleine Platow.

Von Freiherr von Schlicht.(1)
in: „Die Zukunft”, 19.9.1903, Band 44, S. 520-528,
in: „Der deutsche Correspondent”,Sonntags-Correspondent, vom 1.11.1903 und
in: „Ein Ehrenwort”.


Der kleine Platow hatte Weltschmerz. Zwischen Fisch und Braten hatte sein Nachbar diese Thatsache plötzlich konstatirt und von Mund zu Mund ging es: „Der kleine Platow hat Weltschmerz.” Und Alle sagten: „Der kleine Platow”; nicht ein Einziger ließ die Worte „der kleine” fort, in denen eine gewisse Zärtlichkeit lag.

Der kleine Platow war der Liebling des Regimentes. Alle verzogen und verhätschelten ihn, der Oberst an der Spitze. Der hatte eines Tages eine Offizier­versammlung abgehalten, in der ausgesprochenen Absicht, seinen Herren einmal wieder sehr grob zu werden. Der Anfang seiner Rede hatte auch die kühnsten Erwartungen übertroffen, aber dann war er immer milder und milder geworden und schließlich hatte er seinen Herren nichts als Liebenswürdigkeiten gesagt. Das wußte sich Keiner zu erklären; und die Beiden, die die Lösung des Räthsels kannten, hielten sie geheim. Der Oberst hatte, nachdem die Herren entlassen waren, den kleinen Platow in eine stille Ecke gerufen und ihm gesagt: „Wenn ich wieder einaml Offizier­versammlung abhalte, dann stellen Sie sich, bitte, so hin, daß ich Sie nicht sehen kann; denn wenn ich Sie ansehe, freue ich mich und dann verraucht mein Zorn. Das darf aber nicht sein. Wenn die Umstände es erfordern, muß ich streng und unerbittlich bleiben.”

Von dem Tage an stand Platow bei den Versammlungen immer hinter dem dicken Major vom zweiten Bataillon; da konnte ihn der Oberst selbst dann nicht finden, wenn er ihn suchte. Ueber den Herrn Major cirkulirte im Regiment die Scherzfrage: Der Dicke ist dreimal so breit als schwer; sein Gewicht beträgt 220 Pfund; wie breit ist sein Rückenmaß?

Der kleine Platow war der Liebling Aller. Sein frisches, fröhliches Wesen, sein offenes, freies Gesicht, seine tadellosen Manieren nahmen Alle für ihn ein. Und heute hatte der kleine Platow Weltschmerz.

„Aber Kind, was haben Sie nur?” Einer nach dem Anderen fragte ihn, Jeder versuchte, ihn nach besten Kräften zu trösten. Alle tranken ihm zu. Sein Hauptmann bestellte sich eine Flasche Champagner und schickte ihm durch die Ordonnanz ein großes Glas. Und der Tischdirektor beschloß, nachher für den kleinen Platow in den tiefsten Keller zu steigen. Dort lagen in einer versteckten Ecke noch einige Flaschen alten Rothweines, Chateau Léoville Poyferré, von 75; den hatte noch Keiner getrunken, ohne wieder Freude am Leben zu gewinnen. Das war eine Medinzin gegen alle Leiden. Aber dem kleinen Platow nützte sie nichts. Er trank den Wein eben so wie den sauren Mosel, den ihm sein Nachbar, in der Absicht, ihm eine Freude zu machen, eingeschänkt hatte, und er dankte für alle Liebenswürdigkeit, die man ihm erwies, nicht nur mit Worten, sondern auch mit seinen Augen, die deutlich sagten: „Ihr Alle seid so gut mit mir, Eure Liebe beschämt mich, aber sie vermag mich nicht zu trösten und kann mir nicht helfen.”

Und je aufmerksamer die Kameraden wurden, je mehr sie versuchten, ihn zu trösten, da sie ihm anmerkten, daß eine schwere Last ihn bedrückte, um so stiller und ernster wurde der kleine Platow; sein kleines Gesicht wurde immer blasser und blasser, — und plötzlich stand er auf, um sich zu verabschieden. Niemand machte den Versuch, ihn zurückzuhalten, aber unausgesprochen ging es von Mund zu Mund: „Wir dürfen ihn nicht allein lassen! Einer muß bei ihm bleiben.” Alle standen im Begriff, ihm zu folgen; aber als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, entschied die Stimme des Tischältesten: „Lohe, gehen Sie mit ihm. Sie sind ja sein bester Freund, trösten Sie ihn, und wenn Sie allein keinen Rath wissen, dann kommen Sie zu mir oder wenden Sie sich an einen anderen älteren Kameraden.”

Lohe traf den Kameraden noch in der Garderobe: „Ich wußte, daß mir Jemand nachgeschickt würde; es ist mir lieb, daß gerade Du es bist. Komm mir mir in meine Stube! Helfen kannst Du mir auch nicht, aber ich bin dann wenigstens nicht ganz allein.”

Platow wohnte in dem Offizierflügel der Kaserne, in dem die sechs jüngsten Lieutenants des Regimentes hausten, und der Flügel konnte viel erzählen von lustigen Trinkgelagen, frohen Festen und tollen Streichen, die dort unter dem Schutz der Nacht verübt wurden. Aber als Lohe jetzt mit dem Freund durch den nur matt erleuchteten Korridor schritt, als ihre Tritte von den Fliesen widerhallten, da war ihm plötzlich, als schritte er in einer Gruft oder in einer Kapelle, und er konnte sich eines leichten Schauers nicht erwehren.

Platow öffnete die Thür zu seinem Zimmer; es war kalt und ungemüthlich, trotzdem die Lampe brannte.

„Du mußt den Mantel schon anbehalten, Lohe. Der Fourierunteroffizier will keine Kohlen mehr herausrücken; er sagt, er komme sonst nicht aus, und ich selbst kann mir keine Feuerung kaufen. Wenn Du willst, kannst Du Dich aber auch in mein Bett legen; da frierst Du nicht.”

„Nein, danke, es wird schon so gehen; mein Pelz ist schön warm, aber Du selbst wirst frieren. Du schüttelst Dich ja jetzt schon vor Kälte. Unbedingt muß geheizt werden. Hier ist Geld; rufe Deinen Burschen, daß er über die Straße läuft und Kohlen besorgt.”

„Du weißt, ich borge mir nie Geld von Kameraden,” gab Platow zur Antwort, aber sein Widerspruch nützte ihm diesmal nichts. Eine Viertelstunde später brannte im Ofen ein helles Feuer, das den kleinen Raum bald erwärmte.

„Nun könnte man wohl seinen Pelz ausziehen,” meine Lohe. „Und nun, alter Freund, schütte Dein Herz aus. Wenn ein Anderer einmal den sogenannten Weltschmerz hat, dann wissen wir, daß es nicht viel bedeutet; das Leiden vergeht eben so schnell, wie es kommt. Bei Dir aber liegt die Sache anders. Ich kenne Dich. Aber so wie heute habe ich Dich noch nie gesehen. Etwas Schweres muß Dich bedrücken. Vertraue Dich mir an. Was ists?”

Platow ging in seinem Zimmer auf und ab. Jetzt blieb er vor dem Freund stehen: „Es ist ja eigentlich Unsinn, daß ich Dir Alles erzähle, aber vielleicht ist es doch gut, wenn wenigstens Einer im Regiment Bescheid weiß, um später falschen Gerüchten entgegentreten zu können. Das Nähere erzähle ich Dir nachher. Für jetzt nur die Mittheilung, daß wir heute zum letzten Mal zusammen sind. Heute noch muß ich zur Waffe greifen und von dieser Welt Abschied nehmen.”

Lohe sprang in die Höhe und starrte den Kameraden an: „Was willst Du?” Aber schnell hatte er sich gefaßt und nahm seinen Platz wieder ein: „Du bist verrückt.”

„Vielleicht doch nicht so ganz,” meinte Platow. „Du sagtest vorhin, daß Du mich kennst; da müßtest Du auch wissen, daß ich nicht im Scherz von solchen Sachen spreche.”

Den Anderen packte wahres Entsetzen. Er hörte aus den Worten des Freundes nur zu gut heraus, daß es ihm bitterer Ernst sei mit Dem, was er sagte, aber er wollte und konnte das Entsetzliche nicht glauben: der junge, ewig heitere Kamerad, der ihm da in seiner Jugend, kaum vierundzwanzig Jahre alt, gegenüberstand, wollte seinem Leben ein Ende machen, wollte für immer fortgehen aus dem Kreise der Kameraden und aus dem Regiment? So plötzlich sollten Alle ihn verlieren? Das konnte und durfte nicht sein. Wenn es nicht anders ging, mußte er mit Gewalt daran verhindert werden, seinen Entschluß auszuführen.

„Lieber Freund,” sagte Platow, bevor Lohe sich noch zu fassen vermocht hatte, „ich weiß Alles, was Du mir sagen willst; es ist das Selbe, was man immer in Fällen dieser Art zu sagen pflegt: daß man einen solchen Entschluß, besonders in meiner Jugend, stets in der Uebereilung fasse, daß es zu diesem äußersten Schritt immer noch Zeit sei, daß es sicher noch einen anderen Ausweg gebe, — und dergleichen Redensarten mehr, die zwar gut gemeint sind, aber wirklich nichts nützen. Höre mich an: und Du wirst mir beistimmen, daß ich nicht anders handeln kann. Ich muß etwas weit ausholen, will aber versuchen, mich so kurz wie möglich zu fassen.

Mein ganzes Leben, von der Stunde meiner Geburt bis zu diesem Augenblick, ist eigentlich weiter nichts als ein Trauerspiel in zahllosen Akten gewesen. Mein Vater war, wie Du weißt, Offizier, der im letzten Feldzug Invalide wurde und von seiner kümmerlichen Pension lebte. Sechs Kinder waren schon da. Du kannst Dir also denken, daß mein Erscheinen nicht mit Freude begrüßt wurde. Man hatte, wie ich später erfuhr, erwartet, daß ich nicht lebend das Licht der Welt erblicken würde. Statt meiner starb die Mutter und wenig später auch der Vater an den Folgen seiner Wunden und an der Last seiner Sorgen. Noch als Säugling kam ich zu Verwandten, die großen Reichthum, aber kein Herz besaßen; ich wenigstens erinnere mich nicht, aus ihrem Munde auch nur ein einziges Mal ein freundliches Wort gehört zu haben. Sie hatten nur die eine Sorge, mich so bald wie möglich wieder loszuwerden, und dieser Wunsch ging für sie in Erfüllung, als ich das achte Lebensjahr erreichte. Da steckte man mich in das Kadettencorps. Du kennst das Leben dort und ich brauche es Dir nicht zu schildern. Es ist nicht so schlimm, wie es oft gemacht wird, aber es ist doch freudlos und vor allen Dingen fehlt Eins: die Liebe. Man findet Kameradschaft und Freundschaft, man findet freundliche Vorgesetzte, die sich unser annehmen, soweit sies vermögen, aber man findet nicht einen einzigen Menschen, der uns Liebe entgegenbringt, und gerade Liebe kann man in so jungen Jahren nicht entbehren. So habe ich eine Jugend durchgemacht, wie sie trauriger nicht gedacht werden kann. Ich habe nicht gehungert und nicht gefroren, gewiß nicht, aber ich hätte oft gern mit den Kindern armer Leute getauscht, wenn ich sie an der Hand ihrer Eltern an mir vorübergehen sah. Und ärmer als ich waren die Armen ja auch nicht: ich besaß nichts als meinen Namen, und je älter ich wurde, desto mehr graute mir vor dem glänzenden Elend, dem ich entgegenging. Obendrein empfand ich für den Soldatenberuf nicht nur nicht die leiseste Neigung, sondern fing ihn mit der Zeit zu hassen an. Ich war ein guter Schüler, im Exerziren der Beste der Compagnie; ich wurde den Anderen als Muster hingestellt und das Lob regnete manchmal auf mich herab. Das Talent zum Soldaten war mir angeboren, aber die Liebe zu dem Beruf fehlte mir, das ewige Einerlei des Dienstes widerte mich an. Wenn die Schlafsäle der Kadettenhäuser von den vielen Thränen, von den vielen Seufzern, Klagen und Stoßgebeten erzählen könnten, die da zum Himmel emporgeschickt werden . . . Das würde eine sehr traurige Geschichte werden. Wie ist es aber auch anders möglich? Wie soll ein Junge von acht oder neun Jahren wissen, ob er wirklich Lust hat, Offizier zu werden? Was ahnt sein kleines Herz von den Anforderungen, die an ihn herantreten, was weiß er, worin die Thätigkeit eines Offiziers besteht, und wie soll er wissen, ob diese Thätigkeit ihm später für sein ganzes Leben genügt? Und so unendlich Viele werden überhaupt nicht gefragt, ob sie auch Lust haben, Offizier zu werden. Sie werden einfach von den Eltern und Vormündern in den bunten Rock gesteckt, weil die Erziehung im Corps so billig ist. Und wenn sie dann später im Leben Schiffbruch leiden; wer trägt dann die Schuld?”

Voll Erstaunen hatte Lohe dem Kameraden zugehört. Alles, was Platow sagte, war ihm so neu, daß ers nicht glauben konnte. Platow hatte stets im Regiment nicht nur als der diensteifrigste, sondern auch als der dienstfreudigste Offizier gegolten; und nun sollte das Alles nur Verstellung gewesen sein?

„Mein ganzes militärisches Leben war weiter nichts als eine große Lüge,” fuhr Platow nach einer kurzen Pause fort. „Ich log, weil es ja doch keinen Zweck gehabt hätte, die Wahrheit zu sagen. Hätte ich meinen Verwandten geschrieben: nehmt mich aus dem Corps heraus, laßt mich studiren oder ein Handwerk lernen, so hätte man mich für wahnsinnig und für mehr als undankbar gehalten und mich wohl überhaupt keiner Antwort gewürdigt. Und was hätte es genützt, wenn ich den Vorgesetzten erzählt hätte: Ich mache ,Linksum', weil es befohlen ist, aber dafür, daß die Wendung gut ausfällt, kann ich nichts und es ist mir auch ganz einerlei, ob sie gut oder schlecht wird, denn ich habe keine Freude an meinem Beruf? Das wäre den Vorgesetzten ganz gleichgiltig gewesen und obendrein hätte man mich noch ausgelacht und gefragt: ,Wie ist es nur möglich, daß ein Kadett, dem der praktische Dienst so spielend leicht wird, nicht mit Lust und Liebe Soldat ist? Das giebts ja gar nicht!'

So wuchs ich heran und der große Tag kam, wo ich als Fähnrich in die Armee gesteckt wurde. Meine Verwandten bewilligten mir großzügig eine Zulage, unter der Bedingung, daß ich nie Schulden mache; aber als ich Lieutenant wurde, mußte ich meinem Onkel doch eine Schuld von zweihundert Mark beichten. In meiner Gutmüthigkeit hatte ich mich verleiten lassen, für einen Kameraden, der später um die Ecke ging, zu bürgen. Umgehend schickten meine Verwandten das Geld, aber zugleich auch die Mittheilung, daß ich fortan zusehen solle, wie ich ohne Zulage durch die Welt komme, denn ich hätte das in mich gesetzte Vertrauen schändlich mißbraucht. Deutlich las ich aus den Zeilen meines Onkels die Freude heraus, mich von der Tasche loszuwerden. Für einen Augenblick dachte ich daran, ihm den wahren Sachverhalt zu erklären, dann aber bäumte sich der Stolz in mir auf: Lieber hungern als Almosen annehmen!

Und ich habe gehungert, lieber Freund, in des Wortes wahrster Bedeutung. Wie oft habe ich nicht eine Einladung vorgeschützt, um das Mittagessen im Kasino zu sparen, und mir dann aus dem Mannschaftkantine für zehn Pfennige irgend eine Kleinigkeit holen lassen! Und es langte trotzdem nicht. Was nützte es, daß ich mir die paar Mark für das Mittagessen absparte: wenn am Ersten das Gehaltsbuch kam, waren die Abzüge immer sehr viel größer, als ich erwartet hatte. Wie oft habe ich nicht, trotz allen Einschränkungen, am Ersten nicht mehr als zwanzig Mark zu sehen bekommen! Davon gingen noch der Lohn für den Burschen ab, das Geld für die kleinen Extra-Ausgaben, — und mit einem Zehnmarkstück in der Tasche sollte ich dann den ganzen Monat reichen. Ich hatte ja nicht einmal die ,Königliche Zulage'. Mein Onkel hatte sich dem Regiment gegenüber verpflichtet, mir als Lieutenant einen monatlichen Zuschuß zu geben; daß er diese Zulage nachher zurückgenommen hatte, wußte nur ich und ich war zu stolz, um zu dem Oberst hinzugehen und ihm zu sagen: ,Ich habe nichts, schreibt meinen Namen auf die Liste der völlig Mittellosen und erwirkt mir die Königszulage!' Drei lange Jahre habe ich so gelebt. Das Einzige, was mir das Dasein erträglich machte, war die Freundschaft und die Zuneigung, die mir alle Kameraden entgegenbrachten. Wie oft war ich nicht in Versuchung, mein Herz irgend Einem auszuschütten! Doch immer wieder sagte ich mir: Mach ein frohes Gesicht! Helfen kann Dir doch Niemand. Dein Dienst wird Dir dadurch nicht sympathischer, daß Du über ihn schiltst, und dadurch, daß Du über Deine Armuth klagst, wirst Du nicht reicher. Mach ein frohes Gesicht und gedenke des alten Wortes: Je weniger Jemand Anderen sein Leid klagt, um so beliebter ist er.

So spielte ich Komoedie, ich war immer lustig und guter Dinge, war anscheinend immer das sorglose Kind, das von Allen verhätschelt und verzogen wurde, als ob ich eine Puppe wäre. Glaube mir, lieber Freund: wenn der Oberst mir zärtlich die Haare streichelte oder ein älterer Kamerad meine Hände in die seinen nahm, habe ich mich oft vor mir selbst geschämt; denn ich war doch kein Schoßkind, sondern trotz meinen jungen Jahren ein Mann, der mit dem Leben kämpfte.

Und ich habe gekämpft, — bis auch für mich die Stunde kam, in der ich unterlag.

Ein Jahr ist es heute her. Die Besichtigung durch Excellenz stand vor der Thür und wir hatten vom frühesten Morgen bis zum Mittag Dienst abgehalten; zuerst Instruktion, dann Exerziren: Gewehr über, Gewehr ab, Rechtsum, Linksum, Front und Kehrt. Mehr als vier Stunden hatte ich die Gewehrhaltung, die Lage der Hände, die Fußstellung und was weiß ich sonst noch korrgirt. Wäre ich Soldat mit Leib und Seele, so hätte mir die Sache sicher Freude gemacht; so aber ekelte es mich an, und als der Dienst endlich fertig war, war auch ich mit meinen Kräften fertig. Man muß mir meine vollständige Erschlaffung und Abspannung angemerkt haben, denn der Oberst, der auf dem Kasernenhof uns eine Weile zugesehen hatte, rief mich zu sich heran: ,Platow, so geht es nicht weiter, Sie reiben sich im Dienst auf. Man kann auch zu eifrig sein. Man sieht es Ihnen ja an, welche Mühe Sie sich mit Ihren Leuten geben. Sie müssen unbedingt einmal Etwas für sich thun! Wenn die Besichtigung zu Ende ist, müssen Sie auf Urlaub gehen. Wir sprechen später darüber.' Und ohne meine Antwort abzuwarten, ging er auf sein Bureau.

Wie im Traum kam ich in meiner Stube an: Urlaub! Von dem Tage an, wo mein Onkel mir die Zulage entzog, hatte ich die Hoffnung, jemals auf Urlaub zu fahren, für immer begraben. Ich hatte nie daran gedacht, jemals eine Reise zu machen; denn woher sollte ich die Mittel nehmen? Mit den dreißig Mark, die ich im besten Fall von meinem Gehalt zu sehen bekam, konnte ich doch nichts unternehmen. Urlaub existirte für mich überhaupt nicht auf der Welt. Selbst als Kadett hatte ich alle Ferien im Corps zugebracht und sehnsüchtig den Kameraden nachgeschaut, wenn sie zu den Eltern oder Verwandten fuhren. Ich hatte mich darein gefunden, daß Andere reisten und daß ich selbst stets zu Haus blieb. Nun erinnerte mich der Kommandeur daran, daß es auch für mich Urlaub auf der Welt gebe. Und mit einem Mal packte es mich wie eine wilde Leidenschaft: reisen, — nur ein einziges Mal auf Reisen gehen können, nur einmal vier Wochen fort von dem Kasernenhof, auf dem ich nun schon bald fünfzehn Jahre, ohne jede Unterbrechung, täglich Stunden lang stand, nur einmal vier Wochen keine Soldaten sehen und keine Gewehrgriffe üben müssen! Wie wohl mir Das thun würde! Ich glaubte, als ein neuer Mensch zurückzukommen, glaubte, daß diese kurze Frist genügen würde, um eine Umwandlung in meinem Innern hervorzurufen, glaubte, daß der Dienst, der mir jetzt zuwider war, mir später Freude machen würde. Ach, was erhoffte ich nicht Alles von dieser Reise! Und plötzlich stand mein Entschluß fest: Du wirst fahren. Ich war außer mir vor Freude . . . Aber die Freude schwand schnell wieder. Woher sollte ich die Mittel nehmen? Mit einem kleinen Vorschuß beim Zahlmeister war mir nicht gedient; was nützten mir fünfzig oder sechzig Mark? Den Offizier–Unterstützungfond konnte ich nicht in Anspruch nehmen, ohne meine ganze Lage zu erklären; und selbst wenn ich es thäte, hätte ich auch dort im besten Fall kaum hundert Mark erhalten. Ich brauchte aber mehr Geld, ich mußte mich ganz neu ausrüsten, besaß kein Civil, und wenn ich nun einmal reiste, wollte ich wenigstens die vier Wochen frei von allen Sorgen sein; die dreißig Tage hindurch wollte ich mich wenigstens satt essen können, ohne bei jedem Gericht, das ich mir bestellte, die Frage erörtern zu müssen: Kannst Du es auch bezahlen?

Aber woher die Mittel nehmen? Schon hatte ich meinen Entschluß wieder aufgegeben: da fiel mein Blick auf einen Brief, der auf dem Tisch lag. Wer hatte mir Etwas zu schreiben? Monate vergingen, ohne daß die Post zu mir kam. Do öffnete ich neugierig das Couvert und las mit Erstaunen die Offerte, in der ein Gelddarleiher Offizieren jede Summe zu mäßigen Zinsen anbot. Ich warf das Blatt in den Papierkorb, aber ich holte es gleich darauf wieder heraus und las es immer und immer wieder. War es nicht mehr als ein Zufall, daß ich das Schreiben gerade in diesem Augenblick erhielt? Später habe ich ja erfahren, daß der Mann nicht nur mir, sondern allen Kameraden seine Offerte geschickt hat; aber mir war in jener Minute, als wüßte er von meiner Noth, von meiner Sehnsucht, für kurze Zeit die drückenden Fesseln abzustreifen, und er erschien mir fast wie ein rettender Engel.”

Mit ganz entsetzten Augen sah Lohe den Kameraden an: „Jetzt entsinne ich mich . . . Hoffentlich hast Du Dich mit dem Halsabschneider nicht eingelassen! Der Oberst warnte uns noch vor ihm und drohte Jedem mit ehrengerichtlicher Untersuchung, der sich an ihn wenden würde.”

Um Platows Mund spielte für einen Augenblick ein leises, mildes Lächeln. „Wie fast jede Ermahnung, so kam auch diese zu spät, wenigstens für mich: ich hatte das Geld, zweitausend Mark, bereits in der Tasche. Und ich glaube, ich hätte in der Stimmung und Verfassung, in der ich mich damals befand, die Seligkeit, auf Reisen gehen zu können, wenn es hätte sein müssen, noch weit theurer bezahlt als mit den tausend Mark Zinsen, die der Mann sich im Voraus dafür berechnete, daß er mir half. Zweitausend Mark erhielt ich, für dreitausend schrieb ich quer.”

„Aber Platow, wie konntest Du nur?” Das war Alles, was Lohe vor Angst und Entsetzen zu sagen vermochte.

„Ja, wie konnte ich nur?” wiederholte Platow. „Das habe ich mich auch tausend und abertausend Male gefragt, seit ich das Geld verausgabt hatte, der Urlaub zu Ende war und ich nur zu schnell einsehen mußte, daß das Wort wahr ist: Ketten drücken Den am wenigsten, der sie immer trägt. Vier Wochen hatte ich mich in der Welt herumgetrieben, als freier Mann den Verkehr mit Leuten der verschiedensten Stände und der verschiedensten Berufsklassen gesucht, eine herrliche Zeit verlebt. Ja, diese vier Wochen sind die einzigen meines kurzen Lebens, in denen ich mich glücklich fühlte; nicht, weil ich nichts that (ich habe mir dieses Dasein ohne Thätigkeit nie denken können), sondern, weil ich zum ersten Mal seit fünfzehn langen Jahren keine Uniform trug, keine Soldaten sah, keine Griffe und Wendungen zu kommandiren brauchte. Aber als ich dann zurückkam, merkte ich, daß die Lust und Liebe zu meinem Beruf inzwischen nicht in mir erwacht, sondern wonöglich noch mehr erstorben war. Nachts um Zwei kam ich direkt aus Italien zurück. Das Erste, was ich in meinem Zimmer entdeckte, war der Dienstzettel: morgen früh um sechs Uhr Instruktion über die Kriegsartikel, im Anschluß daran Zielen und Anschlagsübungen. Ich habe abwechselnd gelacht und geweint, im Bett mit den Zähnen geknirscht, — wenige Stunden später mich dann aber wieder in das Joch einspannen lassen. Auch seitdem brachte ich das Kunststück fertig, als diensteifriger Offizier zu erscheinen, und immer war ich der frohe, lustige Kamerad, trotz allen Sorgen, die mich drückten. Auf Urlaub hatte ich nicht daran gedacht; jetzt aber ließ die Sorge mich keine Nacht schlafen. Von dem Augenblick an, wo ich hier wieder meine Kasernenstube betrat, quälte mich die Frage: Wie willst Du die dreitausend Mark Schulden zurückzahlen?”

„Aber so was überlegt man sich doch vorher,” warf Lohe ein; „Du mußtest doch wissen, daß Dirs nie möglich sein würde!”

Platow lachte bitter auf: „Du hast ja so Recht, lieber Freunde; und gewiß hätte ich mirs damals selbst gesagt, wenn meine Nerven nicht mehr als überreizt gewesen wären. Ich hatte damals nur den einen Wunsch, nur den einen Gedanken: Du mußt fort, wenn Du hier nicht in der Tretmühle wahnsinnig werden sollst. Mach Dir klar, was es heißt, fünfzehn Jahre lang keinen Tag ausgespannt zu haben und trotz dieser langen, langen Dienstzeit doch erst dreiundzwanzig Jahre alt zu sein! Ich will offen gestehen: ich habe, als ich mir das Geld lieh, gar nicht daran gedacht, wie ich es zurückzahlen könnte. Ich habe die Hilfe, die sich mir bot, genommen, wie ein Ertrinkender das Stück Holz, das ihm zugeworfen wird, ergreift, ohne zu fragen, woher es kommt, wem es gehört und wem er es zurückgeben muß, wenn er sich gerettet hat . . . Und ich hatte mich doch selbst retten wollen und war noch so jung . . . In schlaflosen Nächten habe ich mich unzählige Male gefragt: War es nicht ein bodenloser Leichtsinn, daß Du damals auf Urlaub gingest? Aber eben so oft habe ich mit einem lauten ,Nein' geantwortet. Und ich bereue es auch heute noch nicht, trotzdem das kurze Glück, das ich genoß, meinem Leben ein Ende macht. Denn sterben muß ich. Mein Ehrenwort ist seit Stunden verfallen. Als ein Ehrloser stehe ich vor Dir. Ich bin unwürdig des Rockes, den ich trage.”

„Aber um Gottes willen, warum hast Du Dich denn nicht bei Zeiten nach Hilfe umgesehen? Ich selbst, so weit ichs vermag, ein Jeder hätte Dir nach Maßgabe seiner Mittel mit Freude Geld zur Verfügung gestellt.”

Wieder spielte ein leises, müdes Lächeln um Platows Mund: „Glaubst Du wirklich, ich hätte nicht daran gedacht? Aber Jeder von Euch hätte mich gefragt: ,Wozu brauchen Sie das Geld?' und selbst wenn Ihr mich nicht gefragt hättet, zugeflüstert hättet Ihrs Euch doch: Platow muß Schulden haben. Ueber kurz oder lang wäre die Wahrheit an das Tageslicht gekommen, — und was dann? Das Ehrengericht hätte mich erwartet, das Offiziercorps hätte es vielleicht für seine Pflicht gehalten, die Schuld zu bezahlen, aber mich selbst hätte man ehrengerichtlich wegen Schulden verabschiedet. Ohne Geld zu leben, habe ich schließlich gelernt, und wer ernstlich arbeiten will, findet immer noch seinen Verdienst, aber ohne Ehre kann ich nicht leben, weder hier noch in einem anderen Land. Und die Ehre zu retten, sah ich keine Möglichkeit.

Ich habe nichts unversucht gelassen. Bei allen guten Freunden und Bekannten außerhalb des Regimentes klopfte ich an und Jeder fragte: Wozu brauchen Sie das Geld? Wenn ich aber ehrlich genug war, die Wahrheit zu sagen, dann zuckte man die Achseln: ,Herr Lieutenant, wie kann man sich aber auch nur mit einem Wucherer einlassen! Ich möchte mich da nicht hineinmischen. Na, Sie werden die Sache schon anderweitig arrangiren.' Und man schob mich freundlich zur Thür hinaus. Ich habe allen Stolz gezähmt und sogar an meine Verwandten geschrieben. Ich habe die absolute Gewißheit: wenn ich nicht mehr lebe, wird der Onkel die Schuld tilgen. Das erfordert seine Ehre als Großkaufmann. Aber so lange ich noch hier auf der Erde weile, giebt er nicht einen Pfennig. ,Wenden Sie sich doch an Ihren reichen Onkel! Für Den sind die paar tausend Mark doch eine Bagatelle!' Hundertmal habe ich diese Antwort erhalten und allmählich gab ich es auf, zu erwidern: Er ist der einzige Mensch, von dem ich ganz genau weiß, daß er mir nicht hilft, schon deshalb nicht, weil er mich am Allerwenigsten verstehen würde. Und schließlich . . . Ich weiß überhaupt nicht, ob mich Jemand verstehen, mein Thun und Handeln begreifen wird. Die Meisten werden sagen: Was brauchte er auf Urlaub zu fahren? Wer kein Geld hat, muß hübsch zu Hause bleiben. Er war ja noch so jung und hätte ruhig warten können; vielleicht hätte er noch einmal in der Lotterie gewonnen oder es wäre ihm sonst irgendwie Geld in den Schoß gefallen.”

Der kleine Platow fuhr sich mit der Hand durch die Haare: „Ich höre im Geist all diese Redensarten. In einer Hinsicht aber haben die Leute Recht: ich hätte warten können, bis ich Hauptmann zweiter Klasse war. Das dauert ja . . . nur noch zwölf Jahre.”

Er ging im Zimmer auf und ab; dann blieb er abermals vor dem Kameraden stehen: „Sieh mal, lieber Freund, was mir das Scheiden von der Welt schwer macht, ist, daß man mit Steinen auf mich werfen wird. Immer wieder wird man fragen: Wie konnte er nur so leichtsinnig sein? Ich habe versucht, Dir Alles zu erzählen, Dir klar zu machen, wie ich dazu kam, meine Ehre aufs Spiel zu setzen. Willst Du ein gutes Wort für mich einlegen, wenn ich nicht mehr bin? Ich möchte nicht, daß die Kameraden, die stets nur Freundschaft und Güte für mich hatten, nach meinem Tode glauben, sie hätten sie einem Unwürdigen erwiesen.”

Das klang so traurig, so verzagt, daß Lohe in die Höhe sprang und den Freund an der Schulter packte: „Mensch, Platow, Alles, was Du sagt, ist ja Unsinn . . . Du sollst nicht sterben! Du darst nicht sterben! Ich will zu meinen Bekannten gehen, will für Dich, nein: für mich selbst bitten. Morgen schon kannst Du das Geld in Händen haben!”

„Und selbst wenn ich es jetzt hätte, wäre es zu spät. Seit Stunden ist mein Wort verfallen, das Schreiben an den Kommandeur ist unterwegs, retten kann mich Niemand und meine Ehre kann ich mir nur selbst wiedergeben. Und deshalb bitte ich Dich noch einmal: Leg Du wenigstens ein gutes Wort für mich ein. Willst Du?”

Aber Lohe hatte die letzten Worte kaum gehört. Er saß in tiefem Sinnen und Grübeln. Es war ja ein Wahnsinn, was Platow sagte; noch mußte sich ein Ausweg finden lassen. Er schlug die Hände vors Gesicht und zermarterte sich sein Gehirn.

So sah und hört er nicht, wie Platow mit leisen Schritten in das Nebenzimmer ging. Mit einem Schrei fuhr er erst in die Höhe, als aus dem Zimmer nebenan ein Schuß ertönte.

„Platow!”

Lohe stürzte in das Schlafzimmer. Da lag der Kamerad auf seinem Bett. Aus der Wunde an der Schläfe sickerte das Blut . . . Der kleine Platow hatte eine kurze Spanne Glück mit seinem Leben bezahlt.

Freiherr von Schlicht


Fußnote:

(1) In der Zeitschrift „Die Zukunft” findet sich folgende Fußnote:
„Unter dem Titel «Ein Ehrenwort» läßt der durch seine Militärhumoresken bekannte Freiherr von Schlicht im Oktober bei Heinrich Minden in Dresden einen neuen Novellenband erscheinen, aus dem hier eine Probe gegeben wird.”. (zurück)


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