Ein Pfingstausflug.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen
in: „Deutsche Lesehalle”,
Sonntags-Beilage des „Berliner Tageblatts”, Jahrgg. 1893, Nr. 21, 21.5.1893, Seite 167-168,
in: „Humoresken” und
in: „Humoresken und Erinnerungen”.


Unser lieber Freund, der Major a.D. von Kratzer, hatte zur Feier des Pfingstfestes von einem seiner Neffen, einem etwa dreiundzwanzigjährigen Studenten der Juristerei, Besuch bekommen, und wir Anderen, die wir täglich zusammenkamen, betrachteten den Gast als auch zu uns gehörig. Um gleich den richtigen Eindruck einer Großstadt auf ihn einwirken zu lassen, waren wir direkt vom Bahnhof Friedrichstraße zu Dressel in der Droschke erster Klasse gefahren. Zum Gehen war der Weg ja auch zu weit, und wir hatten durch ein opulentes Mittagessen versucht, die richtige Festesstimmung herbeizuführen. Unter den Linden wogten die Menschen zahlreicher und lebhafter auf und ab denn je, zahllose Droschken erster und zweiter Güte, Fuhrwerke jeglicher Art, vom elegantesten Viererzug bis zum gewöhnlichen, aber mit frischem grünen Laub bekränzten Arbeitswagen, Reiter jeglichen Alters und Standes, vom berufsmäßigen Sportsman bis hinab zu jenen glücklichen Unglücklichen, die nur an Sonn- und Feiertagen den Büreaubock mit einem nicht minder steifbeinigen anderen alten Bock vertauschen, sie Alle stürmten hin zum Brandenburger Thor, hinaus zu den Zelten, hinaus in den Thiergarten und Grunewald, hinaus in den heiteren, hellen, fröhlichen Sonnenschein.

Wir hatten unser Diner beendet und uns die Cigarren angezündet, und jene selige Ruhe und weihevolle Stimmung war über uns gekommen, in der man allen Menschen alle Thorheiten verzeiht.

„Kinder,” bat da plötzlich der alte Kratzer, „thut mir die Liebe, es ist ja heute Pfingstsonntag, laßt uns noch eine Pommery trinken, ehe wir uns schlafen legen.”

„Was, schlafen gehen?” riefen wir entrüstet, „mein lieber Freund, daraus wird nichts, getrunken ist genug, die Rechnung wird es gleich beweisen. Und dann, auf in den Kampf, Torero, hinaus per pedes apostolorum ins gelobte Land, hinaus zum Spandauer oder Tempelhofer Bock. Dann wollen wir unserem Gast einmal Berlin zeigen.”

Starren, entsetzten Auges sah der alte Major mich an und legte dann seine Hand auf den Arm seines Neffen: „Mußt Du, so geh, nur lasse mir den Knaben,” citirte er mit feierlichem Pathos Frau Hedwigs Worte, „einmal habe ich das Wagniß unternommen, einen Fremden an einem Pfingstsonntag in die Vergnügungen der Residenz einzuweihen, einmal und nicht wieder. Es ist ein altes Wort: Man soll keinen Reisenden aufhalten, so Euer Herz Euch also von dannen ruft, seid Ihr hiermit in Gnaden entlassen, wo nicht, bleibt hier und lauschet meiner Geschichte, die ich zum Nutz und Frommen Vieler jetzt erzählen will. Es war vor vielen Jahren —”

„Lieber Freund,” unterbrach ich den guten Kratzer, „nimm es mir nicht übel, ich finde, Du fängst an seicht zu werden und zu verflachen, Deine Geschichten fangen alle mit denselben Worten an und endigen gewöhnlich damit, daß sie keine Pointe haben.”

„Junger Mann,” erwiederte mir der Getadelte, „soll ich dem Pfingstfeste zu Ehren, an dem ein Jeder und vor allen Dingen eine Jede etwas, womöglich Alles neu enzieht, auch meiner Geschichte ein neues Kleid anlegen? Doch es sei, wie Du befiehlst. Also: Vor vielen Jahren war es.”

„Ich bin erstaunt über Deine phänomenale dichterische Begabung.”

„Unterbrich mich nicht, sonst mußt Du die nächste Flasche allein bezahlen. Ich war damals hier Pressier(1), ich sollte in möglichst kurzer Zeit möglichst viel lernen, um mein Fähnrich­examen bestehen und in die Armee eintreten zu können. Es gibt zweierlei Pressen — wenigstens theilte der selige General Z., der Vorsitzende der Prüfungskommission, sie so ein — solche ohne Hausthürschlüssel und solche mit Hausthürschlüssel. Nun, ich hatte das Letztere erwählt, und nie wieder bin ich in meinem Leben so leichtsinnig mit meiner Gesundheit und meinem Geldbeutel umgegangen, wie in jenen sechs Monaten, die ich hier auf der Presse zubrachte, „unter der strengsten, gewissenhaftesten Aufsicht in und außer dem Hause”, wie der groß und fett gedruckte Prospekt besagte. Eines Tages, es war ein Pfingstsonntag, bekamen wir einen neuen Kameraden, einen Herrn von Tschraska, Pole, leichtsinnig, leichtlebig und unermeßlich reich. Er wurde in unsere Räuberhöhle geschickt, um ein ordentlicher, fleißiger Mensch zu werden, leider ist ihm dies wie so vielen Anderen nicht gelungen. Mit offenen Armen nahmen wir ihn auf und beschlossen im hohen Rath, d.h. oben in der fünften Etage, sofort dem neuen Freunde Berlin zu zeigen. Welcher Tag wäre dazu geeigneter gewesen als der Pfingstsonntag? Wir zählten unsere Gelder und waren selbst höchlichst erstaunt über die Menge der blanken Goldstücke. Trotz alledem gingen wir vorsichtshalber noch zu unserem Pensionsvater, der zum Zeichen, daß er Vorsteher eines Militärpädagogums sei, stets, auch bei Tisch eine Soldatenmütze auf dem Kopfe hatte, obgleich er in seinem ganzen Leben nicht vierundzwanzig Stunden Soldat gewesen war, und schwindelten dem alten Herrn noch einige blaue Scheine ab. Dann zogen wir los. Es war ein Tag gerade wie der heutige, voll eitel Jubel und Sonnenschein. Wir machten die Linden unsicher, bummelten durch den Thiergarten und landeten endlich auf dem Tempelhofer Bock. Wir waren die Fröhlichsten der Fröhlichen, es gab keinen Unsinn, den wir an jenem Tage nicht vollführt, und keine der vielen Schönen ging an uns vorüber, ohne daß wir ihr ein Scherzwort zuriefen oder eine Kußhand zuwarfen. Dabei vergaßen wir aber auch das Trinken nicht, gar manche dunkle Tropfen wanderte hinab in die dunkle Tiefe, und mit unseren Bierbässen sangen wir nach unserer Meinung die Tyroler Volkslieder viel schöner als die direkt aus Tyrol stammende Sängergesellschaft, an der Alles falsch war, sogar die Stimmen. Den vielen Bitten und Aufforderungen der Polizei mußten wir aber endlich nachgeben, und so zogen wir denn wieder zur Stadt zurück, kehrten noch in unzähligen Cafés ein und landeten am frühen Morgen wieder vor unsere Wohnung. Auf einmal hieß es: „Wo ist Tschraska?”   „Ih,” meinte der Eine, „der dreht wohl noch irgendwo eine Laterne aus.” Wir warteten eine Zeit lang, Tschraska kam nicht. „Kinder,” sagte ich endlich, „das geht nicht, ohne Tschraska können wir nicht in das Haus hineingehen. Wir können ihn, der hier vollständig fremd, außerdem der deutschen Sprache fast gar nicht mächtig ist, unmöglich allein herumlaufen lassen. Wie leicht kann ihm ein Unglück zustoßen, und wer von uns möchte daran schuld sein? Auf, laßt uns ihn suchen!”

Es wurde ein genauer Plan verabredet, immer Zwei erhielten eine Straße zum Absuchen, der Eine sollte auf der rechten, der Andere auf der linken Seite gehn, genau in einer Stunde wollten wir uns alle wieder hier vor dem Hause treffen. Die Jagd begann, und als wir zur verabredeten Stunde wieder zusammenkamen — fehlte Tschraska noch immer. Mit verlegenen Gesichtern sahen wir uns an, Manchem von uns mochte das Herz unruhig schlagen, wir hatten ihn zu der Bummelreise veranlaßt, nun mußten wir auch dafür sorgen, daß ihn kein Unfall beträfe. Wir mußten uns eingestehen, daß wir ihm fleißiger zugetrunken hatten, als wohl recht gewesen wäre, wir wußten, er hatte eine bedeutende Summe Geldes bei sich, dazu am Pfingsttage das Gewühl und das Gewoge der Menschen — es war kein angenehmer Gedanke. Wir standen noch zusammen und besprachen, wie wir Tschraska nur finden sollten, ob wir die Polizei benachrichtigen müßten — da kam eilends eine Droschke herangerasselt, aus der ein sehr elegant gekleideter Herr von etwa dreißig Jahren sprang: „Meine Herren, ich bringe Ihnen hier Ihren Kameraden. ich traf ihn Unter den Linden, wo er, unzusammenhängende Worte vor sich hin murmelnd, herumirrte. Ich erkannte an der Sprache in ihm einen Landsmann, ich nahm mich seiner an, und es gelang mir schließlich, seine Wohnung zu erfahren.”

Wie von einem Alp befreit, athmeten wir auf: „Mein Herr, wie sollen wir Ihnen danken?”

„Dadurch, daß Sie mir versprechen, in Zukunft vernünftiger zu werden und künftig nicht solche Geschichten zu machen, die leicht ein böses Ende nehmen können.”

Wir gelobten Alles, jeden anderen Dank wies der edle Menschenfreund von sich, nur mit der größten Mühe gelang es uns, den Kutscher bezahlen zu dürfen. Sorgsam hoben wir unsern armen Polen aus dem Wagen und geleiteten ihn heim, nachdem der Retter versprochen hatte, am nächsten Mittag sich nach dem Befinden seines Landsmanns zu erkundigen.

Am nächsten Morgen kam Tschraska zu mir ins Zimmer. Mir war selbst erbärmlich zu Muthe, als ich aber den edlen Polen vor mir sah, freute ich mich doch, daß ich nicht war wie jener Sünder.

„Wo ist mein Geld geblieben?”

„Lieber Freund,” entgegnete ich, „Sie fragen mich in einer Minute mehr, als zehn Weise in einem Jahr beantworten können, weiß ich doch nicht einmal, wo mein eigenes Geld geblieben ist.”

„Kann ich doch nicht ausgegeben haben tausend Thaler?”

Mein Herren, so schnell bin ich noch nie wach geworden, und nunn kam es heraus: Der arme Tschraska war um Alles bestohlen, um Ringe, Uhr und Geld, Alles, Alles war dahin, und Niemand anders als der edle Retter kann der Dieb gewesen sein. Wir haben Himmel und Hölle und die gesammte Polizei in Bewegung gesetzt — vergebens.

Meine Herren, sehen Sie sich nur einmal dort den Menschenknäuel an, wie leicht kann dort Einer „zufällig” sein Portemonnaie verlieren, und wer ist im Stande, aus diesen Hunderten den „Finder” zu ermitteln?

Und deswegen, meine Herren, mache ich nie wieder in meinem Leben eine Pfingstreise; von dem Geld, das uns gestohlen wird, haben wir gar nichts, von dem Geld, das wir für unsere Vergnügungen ausgeben, wenigstens immer etwas, selbst wenn es, wie wahrscheinlich morgen bei uns, ein kleiner Kater ist.”


(1) Schlicht war selbst auf einer „Presse mit Haustürschlüssel” gewesen. (Siehe seine Autobiographie.)


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