Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 6.Juni 1909,
in: „Exzellenz ist wütend” und
in: „An die Gewehre”.
Ebenso unentbehrlich wie dem Schriftsteller der Federhalter, ist dem berittenen Offizier, wenn er in das Manöver oder sonst in ein Scheingefecht geht, der Pferdehalter.
Es ist jetzt Brauch und Sitte, daß die Gefechtsübungen möglichst kriegsmäßig verlaufen, und dazu gehört, daß man das feindliche Feuer, wenn es im Frieden auch nur aus Platzpatronen besteht, respektiert, daß man sich in den Ernstfall hineindenkt und annimmt, daß einem in Wirklichkeit die modernen Infanteriegeschosse um die Ohren sausen. Die Offiziere der Infanterie müssen ihre Leute so geschickt durch das Gelände führen, daß diese dem feindlichen Feuer möglichst wenig ausgesetzt werden und sie selbst dürfen sich auch nicht unnütz den Geschossen des Gegners preisgeben. Je größer das Ziel ist, desto leichter wird es getroffen und darum heißt es jetzt für die berittenen Offiziere der Fußtruppen, sobald man sich dem wirksamen Feuer des Feindes nähert: „Herunter vom Gaul.”
Und in diesem großen Augenblick, in dem der Reiter sich aus dem Sattel schwingt, um zu Fuß seine Truppe anzuführen, muß der Pferdehalter zur Stelle sein. Der macht dann die Bügel hoch, ergreift das Streitroß am Zügel und führt es dann in einem gewissen Abstand hinter der Truppe her, bis das Gefecht zu Ende ist. Und wenn der Reiter sich dann wieder in den Sattel schwingen will, muß der Pferdehalter blitzschnell mit dem Schinder wieder zur Stelle sein, ganz einerlei, wo er sich aufhält, und noch viel einerleier, wo der abgesessene Reiter ist. Mögen auch tausend Kilometer die beiden trennen, dem Pferdehalter wird auch nicht eine Minute Zeit gelassen, um diese Entfernung zurückzulegen. Mag der Mann das anfangen, wie er will, das ist seine Sache, aber wenn der Gaul nicht in derselben Sekunde zur Stelle ist, in der er gebraucht wird, dann hol den Pferdehalter der Teufel.
Schon aus diesen wenigen Worten geht hervor, daß der Pferdehalter, wenn er nicht in Arrest fliegen will, ein sehr geschickter Mensch sein muß. Vor allen Dingen wird aber eins von ihm verlangt: „Die große Kunst, mit Pferden umzugehen.”
Der Pferdehalter soll und muß es verstehen, seinen eigenen Willen derartig auf das Pferd zu übertragen, daß dieses gar nicht auf den Gedanken kommt, selbst Gedanken zu haben.
Und die Gedankenübertragung muß in durchaus liebevoller Weise erfolgen.
Denn Gnade Gott dem Pferdehalter, der es wagt, dem störrischen Gaul eines Vorgesetzten eins mit der Faust in die Rippen zu geben oder gar mit den Zügeln ins Maul zu reißen.
Es ist ein alter Brauch in der Armee, daß man zum Pferdehalter fast immer einen Spielmann nimmt, und auch das hat seinen Grund. Ein Mann, der in der Feuerlinie liegt, kann dort mit seinem Gewehr auf den Verlauf des Gefechtes von größerem Nutzen sein, als wenn er hinter der Front die „Anne Liese” spazieren führt. Die Spielleute aber haben während des Gefechtes bis zum letzten Augenblick, in dem zum Sturmangriff geblasen wird, sowieso nichts zu tun. Sie liegen untätig hinter der Schützenlinie, bohren mit den Fingern abwechselnd im Dreck und in der Nase herum, und wenn sie dabei überhaupt etwas denken, dann denken sie höchstens an das Wiedersehen, das sie am Abend mit ihrer heißgeliebten Guste feiern werden.
Vielleicht nimmt man aber auch gerade die Spielleute zu Pferdehaltern, weil man glaubt, daß die Musik ihr Herz milde und sanft gemacht hat, und daß sie infolgedessen auch mit den Pferden sanft umgehen werden.
Unter den Spielleuten, den Hornisten und Trommlern, befinden sich natürlich musikalische und unmusikalische Seelen. Es gibt da Leute, die die Signale und Märsche spielend lernen, auf der anderen Seite aber auch Dösköppe, in die weder mit Liebe noch mit Fluchen auch nur ein einziger richtiger Ton hneinzubringen ist.
Ein solcher Unglücksrabe war der Hornist Müller. Es gab keinen Ton, den er nicht blies, wenn er etwas blasen sollte, aber er blies niemals den richtigen.
Der Tambourmajor, dem Müller direkt unterstellt war, nahm sich jeden Abend bei dem Zubettgehen fest vor, den Müller am nächsten Tag umzubringen, aber wenn er sich dann die Sache beschlafen hatte, ließ er ihn doch am Leben. Einmal mußte er ihn ja doch wieder los werden, aber alle Versuche in dieser Hinsicht bleiben erfolglos, und da, in der höchsten Verzweiflung, kam der Tambourmajor eines Tages auf einen rettenden Gedanken.
Er nahm sich seinen Zögling in einer stillen Ecke vor: „Müller, Ihr Leben liegt in meiner Hand, das wissen Sie. Wenn Sie noch weiter so falsch blasen und ich Sie eines Tages umbringe, dann werden alle Gerichte der Welt mich freisprechen, denn dann habe ich nur in der größten Notwehr gehandelt, um mein eigenes Leben zu retten. Vorläufig will ich Sie aber noch auf der Welt lassen, aber nur unter einer Bedingung. Sie dürfen von heute an keinen Ton mehr blasen. Wenn die anderen hier üben, können Sie tun und treiben, was Sie wollen. Wenn wir durch die Straßen der Stadt marschieren, dann nehmen Sie Ihr Instrument ebenso wie die anderen an den Mund, aber wenn Sie auch nur einen einzigen Ton blasen, auch nur einen einzigen, dann, Müller, ist es aus, dann ermorde ich Sie. Daß Sie jemals in die Lage kommen sollten, wirklich blasen zu müssen, brauchen Sie nicht zu fürchten. Ich werde mit Ihrem Feldwebel sprechen, der wird Sie nur auf solche Wachen schicken, die außerhalb der Stadt liegen, und also niemals alarmiert werden. Und bei den Gefechtsübungen sind Sie von heute ab ein für allemal Pferdehalter, und als solcher werden Sie ja niemals in Versuchung kommen, blasen zu müssen. Wenn nachher das Exerzieren der Spielleute beginnt, dann treten Sie ein, bis dahin aber können Sie sich jucken oder sonst was tun, wenn Sie keine Flöhe haben.”
Aber Müller hatte welche, und so ging ihm die Zeit denn schnell herum.
Für Müller begann nun ein faules Leben. Bei den Gefechtsübungen trat er stets als Pferdehalter in Aktion, und da er vom Lande war, Pferde sehr lieb hatte und ausgezeichnet mit ihnen umzugehen verstand, und da er ferner auch stets sofort zur Stelle wae, wenn man ihn brauchte, so wurde der Herr Major, der oft auf seinen eigenen Pferdehalter warten mußte, bald auf ihn aufmerksam, und als er erst der Pferdehalter des Majors geworden war, wurde der Herr Oberst, der sehr oft auf seinen Pferdehalter warten mußte, bald auf Müller aufmerksam, der stets als erster mit seinem Gaul zur Stelle war.
Und unter gleichzeitiger Beförderung zum Gefreiten avancierte Müller eines Tages zum Pferdehalter des Herrn Oberst.
Das war eine Auszeichnung, die Müller sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Wenn er zum Obersten selbst ernannt worden wäre, hätte er nicht stolzer sein können.
Er gelobte sich, das in ihn gesetzte Vertrauen stets zu rechtfertigen, und erwies sich seiner neuen Stellung durchaus würdig. Trotz seiner reichen Kenntnisse und seiner noch viel größeren Erfahrung mußte selbst der Herr Oberst sich eingestehen, daß es einen solchen idealen Pferdehalter wie den Müller überhaupt noch nicht in der preußischen Armee gegeben habe.
Da geschah es eines Tages, daß Exzellenz zur Besichtigung des Regiments in der Garnison eintraf. Wie das so üblich ist, und wie das Reglement es auch vorschreibt, kam nach dem Parademarsch ein großes Gefecht an die Reihe. Exzellenz stellte selbst die Aufgabe, und er freute sich nicht nur darüber, daß der Oberst nach seiner Auffassung das meiste ganz falsch machte und ihm selbst dadurch Gelegenheit gab, nachher bei der Kritik sein eigenes Licht leuchten zu lassen, sondern er freute sich auch über den Schneid, mit dem der Herr Oberst, als man sich dem Gegner immer mehr näherte, plötzlich vom Gaul sprang und die Truppen zu Fuß anführte.
Das war eine sehr beachtenswerte Leistung, und Exzellenz gelobte sich, diesen Oberst den anderen Regiments–Kommandeuren als leuchtendes Vorbild hinzustellen. Die saßen immer wie festgeklebt auf ihren Gäulen, nicht nur, weil ihnen das Ab- und Aufsteigen Schwierigkeiten bereitete, sondern weil sie auch stets Angst hatten, daß der Pferdehalter nachher nicht rechtzeitig zur Stelle sein würde.
Aber was eine gute Erziehung auch in dieser Hinsicht vermochte, sah er an dem Pferdehalter des Herrn Oberst. Der hielt sich stets in dessen nächster Nähe, und wußte das Vorgehen der Truppen, das Gelände und die Gefechtsentwicklungen stets so auszunutzen, daß er selbst bei seinem Vorgehen von den Gegnern nicht bemerkt werden konnte.
Der Mann gefiel seiner Exzellenz, und er nahm sich vor, ihn bei der ersten passenden Gelegenheit dem Herrn Oberst abzuknöpfen, und ihn für die bevorstehenden Herbstmanöver zu seinem eigenen Pferdehalter zu ernennen.
Wie der Mann wohl heißen mochte?
Exzellenz sah plötzlich ein, daß der Mann ihm diese Frage wahrscheinlich am allerbesten selbst beantworten könne, und so ritt er denn jetzt auf ihn zu, umsomehr, als sein knurrender Magen ihn daran erinnerte, daß es Zeit sei, das Gefecht abzubrechen.
Nach wenigen Minuten war er bei dem Pferdehalter des Herrn Oberst angekoimmen und voll ehrlicher Anerkennung musterte er dessen Aeußeres. Der Mann sah bildhübsch aus, und daß er auch viel auf sein Aeußeres gab, bewies die Sauberkeit seines Anzuges.
„Bravo, mein Sohn!” lobte Exzellenz, „Sie gefallen mir, wie heißen Sie?”
„Müller, Eure Exzellenz.”
„Sehr schön, den Namen werde ich mir merken, schon deshalb, weil ich Sie später wahrscheinlich zu meinem Pferdehalter ernennen will, vorausgesetzt, daß ich von Ihrem Vorgesetzten nur gutes über Sie erfahre, woran ich aber nicht zweifle. Wir sprechen später noch darüber. Nun aber, mein Sohn, wollen wir mit der Uebung für heute genug sein lassen, blasen Sie das Signal: Das ganze Halt!”
Wie Müller es beim Exerzieren der Spielleute gelernt hatte, führte er das Signalhorn blitzschnell an den Mund, aber er blies nicht.
„Blasen Sie: Das ganze Halt!” befahl Exzellenz noch einmal.
Aber Müller blies nicht. Einmal, weil er an den sicheren Tod dachte, den ihm sein Tambourmajor für den Fall angedroht hatte, daß er jemals blasen würde, dann aber auch deshalb nicht, weil er gar nicht blasen konnte. Im Laufe der Zeit hatte er sogar die falschen Töne, die er früher konnte, verlernt, und nun erst die richtigen! Die hatte er ja überhaupt nie gekannt.
Exzellenz sah voller Teilnahme, wie der Mann sich, nach seiner Meinung vergebens, zu blasen bemühte.
„Dem armen Kerl ist die Freude, später mein Pferdehalter zu werden, in die Glieder gefahren,” dachte Exzellenz. „Das fühle ich ja vollständig nach, aber er muß ein Mann sein und sich zu beherrschen wissen.”
Nun befahl er denn noch einmal: „Blasen Sie: Das Ganze Halt!”
Aber Müller blies immer noch nicht.
Trotz des Wohlwollens, das Exzellenz dem Mann entgegenbrachte, wurde er nun aber doch ungeduldig. Das Regiment machte schon mit „Marsch, marsch, hurra!” den Sturmangriff. Es mußte jetzt geblasen werden, nicht nur mit Rücksicht auf seinen immer größer werdenden Hunger, sondern auch, weil die Gefechtslage es erforderte.
Aber Müller blies immer noch nicht.
Da riß Seiner Exzellenz die Geduld: „Himmelkreuzdonnerwetter, warum blasen Sie nicht?”
Müller fühlte, wie ihm die Gänsehaut über den Rücken lief. Wenn es nun kein Unglück gab, hatte es noch nie eins gegeben.
„Antwort will ich haben, oder ich sperre Sie vom Fleck aus drei Tage ein!”
Auch das noch. Dem armen Müller wurde schwarz vor den Augen, aber nun half alles nichts mehr, antworten mußte er, und so sagte er denn: „Ich kann nicht blasen, Exzellenz.”
Exzellenz machte ein seinem hohen Gehalt und seiner sonstigen Klugheit absolut nicht entsprechendes dummes Gesicht: „Was können Sie nicht? Sie können nicht blasen? Zum Donnerwetter noch einmal, sind Sie denn nun Spielmann, oder sind Sie es nicht? Und warum sind Sie denn Gefreiter geworden, wenn Sie das nicht Ihrem Blasen zu verdanken haben?”
Wieder hieß es die Wahrheit sprechen, und so sagte Müller denn: „Ich bin Spielmann, Exzellenz, aber ich bin nur zum Pferdehalter ausgebildet und habe die Gefreitenknöpfe bekommen, weil ich so gut Pferde halten kann.”
Exzellenz fiel beinahe vom Gaul, so etwas hatte er denn doch noch nicht erlebt, da wandte er sich an seinen Adjutanten: „Haben Sie Worte? Haben Sie Worte? Haben Sie Worte?”
Gleich darauf stürmte er von dannen, ein anderer Hornist blies das Signal, und dann hatte Exzellenz eine sehr lange und erregte Aussprache mit dem Herrn Oberst, dann mit dem Herrn Major, zu dessen Bataillon Müller gehörte, dann mit dem Bataillonsadjutanten, dem die Spielleute direkt unterstellt sind, dann mit dem Hauptmann, zu dessen Kompagnie Müller gehörte, und nicht zuletzt mit dem Tambourmajor.
Das Resultat dieser Unterredung war für alle Beteiligten sehr traurig. Der Oberst bekam einen mordsmäßigen Rüffel, der Major einen noch größeren, der Adjutant bekam drei Tage Stubenarrest, weil er sich nicht um die Ausbildung der Spielleute gekümmert hatte, der Hauptmann bekam einen Anpfiff, daß ihm der Helm auf dem Kopfe wackelte und der Tambourmajor bekam drei Tage Arrest, weil er Müller nicht als Spielmann ausgebildet hatte.
Nur Müller selbst bekam nichts auf den Hut, er avancierte sogar zum Pferdehalter Seiner Exzellenz.
Und so unglaublich Exzellenz es gefunden hatte, daß der Herr Oberst einen Spielmann lediglich als Pferdehalter benutzte — als Müller erst sein Pferdehalter war, und natürlich immer noch nicht blasen konnte, fand er das nicht nur ganz gleichgültig, sondern sogar ganz selbstverständlich.
Was brauchte ein Pferdehalter, selbst wenn er ein Spielmann war, blasen zu können? Dafür waren ja die anderen Spielleute da, die nicht ausschließlich Pferdehalter waren.