Das Pensionsbein.

Humoristische Plauderei.
Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hagener Zeitung” vom 7.1.1898,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 8.1.1898 und
in: „Kieler Zeitung” vom 9.1.1898 und
in: „Excellenz kommt”.


Der Herr Premier befindet sich in der denkbar schlechtesten Laune. Drei Abende nach einander hat er tanzen müssen und als er sich dann endlich vornahm, so, heute wirst du aber mit den Hühnern zu Bette gehen und einmal schlafen(1), da hatte es an die Thür gepocht und eine Ordonnanz war erschienen.

„Nun, was giebt es denn schon wieder?” hatte er den Bleisoldaten angefahren.

Der aber hatte, wie das Gesetz es befiehlt, das Maul, pardon den Mund gehalten, aus der großen Ledermappe das Parolebuch herausgenommen, es mit militärischem Griff auseinander geklappt und mit kurzem, energischen Ruck es dem Lieutenant unter die Nase geschoben.

Und dann hatte der Herr Premier gelesen: Morgen früh Exerzieren einer kriegsstarken Kompagnie. Als Zugführer treten ein — und unter den Namen, die dort aufgeführt waren, befand sich auch der seinige.

Fluchend hatte er das Buch zusammengeklappt und es der Ordonnanz vor die Füße geworfen: „Scheeren Sie sich zum Teufel mitsammt Ihrer kriegsstarken Kompagnie.”

Eine Ordonnanz, die jeden Tag den Herrn Offizieren das Unangenehmste, was es auf erden giebt, den Dienst, mittheilen muß, erlebt Verschiedenes — so hatte auch der Zorn des Herrn Premiers sie nicht aus der Fassung zu bringen vermocht. Ruhig hatte sie das Buch wieder aufgehoben, es wieder aufgeklappt und dem Herrn Lieutenant abermals unter die Nase gehalten.

„Wollen der Herr Lieutenant nicht unterschreiben?” Im Innern des Herrn Premier tobte ein Vulkan.

„So gieb den Wisch her, aber schnell — zum Donnerwetter, ist denn keine Bleifeder da — was, mit dem Stummel soll ich unterschreiben, es wird immer schöner, gerade als wenn man ein dummer Junge wäre, der sich Alles gefallen lassen muß. Das sag ich Ihnen aber, lieber Freund, wenn Sie mir morgen noch einmal mit diesem Bleifederrest in die Wohnung kommen, werfe ich Sie achtkantig die Treppen hinunter.”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.”

Endlich hatte der Herr Premier voller Ingrimm den Anfangsbuchstaben seines Namens unter den unglücklichen Befehl gesetzt, die Ordonnanz hatte das Buch zugeklappt und den Vorgesetzten fragend angesehen, ob dieser noch Befehle habe.

Der aber hatte nur die Hand erhoben, und damit zur Thür gewiesen, das hieß auf deutsch: „Nun aber raus und zwar schnell, sonst giebt's ein Unglück.”

Und so leise wie die vorschriftsmäßigen zweiundvierzig Sohlennägel, die der Krieger unter jedem Fuße trägt, es gestatten, war der von dannen geschlichen, hatte die Thür hinter sich zugemacht und dem Burschen draußen zugeflüstert: „Wenn ich Dir 'nen Rath geben kann, so geh nicht hinein, wenn Dein Lieutenant ruft — seine Laune ist nicht berühmt.”

Dann war die Ordonnanz davon geeilt, um bei Anderen Aehnliches zu erleben, und die Stunde, da er sich entschloß, Lieutenant zu werden, im Besonderen verwünschend, hatte der Herr Premier sich auf die Chaiselongue gelegt, hatte sich eine Zigarre anzünden wollen und die Entdeckung gemacht, daß er keine mehr(2) besaß, hatte in die Tasche gegriffen, um dem Burschen Geld zu geben und die Entdeckung gemacht, daß es alle war.

Und da war aus Muth, Verzweiflung, momentaner pekuniärer Verlegenheit, körperlicher Ermattung und nervöser Erregung das heulende Elend über ihn gekommen.

Der Herr Premier weinte.

Nichtsdestowenigertrotz — wie ein ebenso langes wie schreckliches Wort lautet — stand der Herr Premier am nächsten Morgen kurz nach sechs Uhr auf dem Kasernenhof. Es hatte in der Nacht gefroren, es war auch jetzt noch bitterkalt und der Herr Premier hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, die Hände tief in die Taschen vergraben.

Und jede Hand liebkoste mit einer Cognakflasche. Das gab ihm Muth, dem Kommenden „gestärkt” entgegen zu sehen.

Im leichten Galopp naht der Herr Hauptmann, der Herr Premier läßt still stehen und meldet.

„Danke sehr, danke sehr — ach, dürfte ich die Herren einen Augenblick sprechen? Bitte, meine Herren, stehen Sie doch bequem, meine Herren, ich stelle es Ihnen anheim, ob Sie nicht lieber Ihre Mäntel hier lassen wollen? Wir haben einen weiten Weg und ich glaube, bei dem Marschieren und hinterher bei dem Exerzieren wird es Ihnen zu warm werden. Bitte, wie denken Sie darüber?”

Die jungen Lieutenants sind natürlich ganz der Ansicht des Herrn Hauptmanns(3) — na, und wenn der Herr Premier nicht den Anschein erwecken will, ein Murmelgreis zu sein, so bleibt ihm schließlich auch nichts weiter übrig, als den manteau zu Hause zu lassen.

Und eine Minute später wirft er voller Ingrimm den Paletot in die Ecke und mit dem Paletot leider auch die beiden Cognakflaschen, die er herauszunehmen vergaß.

Das war nicht schlau, Octavio.(4)

„Das Gewehr über — ohne Tritt marsch.” Und dahin zieht die Kolonne dem Exerzierplatz entgegen, der Weg ist weit, der zu ihm führt und es sind ihrer Viele, die ihn wandern, fast dreihundert Mann.

Der Herr Premier ärgert sich über jeden Schritt, den er machen muß und kommt allmählich in die reine Selbstmörderstimmung.

Die Vorgesetzten haben bekanntlich die Ansicht, daß jeder Soldat und jeder Offizier bei jedem Dienst etwas lernen könne, wenn er will. Schlecht wie die meisten Menschen von Natur aus nun einmal sind, wollen die Soldaten garnicht jeden Tag etwas lernen und selbst wenn sie wollen, sie können es garnicht: es wird manchmal zu großer Unfug gemacht.

Der Herr Oberst hat auch an diesem schönen Herbstmorgen alle berittenen und alle dienstfreien unberittenen Offiziere mobil gemacht und zu Roß, per Rad und per pedes militares ziehen auch sie dem Exerzierplatz entgegen.

Ein Klingeln, dann „Guten Morgen” und vorbei saust ein ganz junger Sekond auf seinem Rad — der will, ehe das Exerzieren beginnt, noch erst etwas spazieren fahren.

„Daß Dir die Luft ausgehen möchte,” denkt ingrimmig der Herr Premier — er sieht den jungen Kameraden in weiter, weiter Ferne fahren, dahin muß auch er, zu Fuß!

„Na, nun wundere ich mich aber über garnichts mehr, selbst wenn meine Stute sich plötzlich in einen Wallach verwandelt, schönster aller Premiers, Sie sind auch hier? Doch natürlich freiwillig?”

Der Herr Premier sieht sich um.

„Guten Morgen, Herr Hauptmann. Ich werde den Deubel thun und freiwillig herumstrampeln. Der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, marschier ich hier wie, wie — ne, ich weiß keinen Reim auf Triebe, wissen der Herr Hauptmann nicht einen?”

Der Häuptling, der als Zuschauer hinausreitet, wendet sich an den Kompagnieführer: „Hören Sie 'mal, den dicken Premier müssen Sie heute 'mal(5) ordentlich vornehmen, der platzt bald in allen Nähten, den müssen Sie heute Morgen 'mal ordentlich laufen lassen, das geht ja gar nicht so weiter, der thut ja sonst überhaupt keinen Dienst.”

„Das ist eine Entstellung der Thatsachen,” fährt jetzt der Herr Premierlieutenant auf, „kein Mensch im Regiment hat so viel Dienst wie ich.”

Die beiden Häuptlinge freuen sich über den erregten Premier, der sich halb todt ärgert.

Endlich ist man auf dem Exerzierplatz angekommen und gleich darauf erscheint auch der Herr Oberst.

Der Adjutant sprengt nun(6) über das Schlachtfeld. „Die Herren Offiziere zum Herrn Oberst.”

„Nur die Berittenen?”

„Nein, alle.”

„Kann er nicht zu uns kommen?” denken die Lieutenantns, dann aber setzen sie sich in Bewegung. Wer da aber nun glaubt, daß jeder Lieutenant einfach zum Kommandeur gehen könnte, obgleich dieser gerufen hat, irrt sich. Erst sammeln die Hauptleute die Offiziere ihrer Kompagnie, dann sammelt der Herr Major die Herren Offiziere des Bataillons und dann gehen die Herren Bataillons­kommandeure mit den Herren ihres Bataillons zum Herrn Oberst und melden: „Die Herren des Bataillons zur Stelle.”

Und erst wenn sämmtliche Herren aller Bataillone zur Stelle sind, ist die Aufgabe zur Zufriedenheit des Vorgesetzten gelöst.

„Meine Herren,” spricht der Herr Oberst, „ich habe Sie hierher gebeten — „gebeten” ist gut, denkt gar Mancher; „gebeten, weil wir wieder einmal in einem kriegsstarken Verbande exerzieren wollen.” „Wollen” ist gut, sogar sehr gut, denkt Mancher.

„Ich bin überzeugt, daß diese Abwechslung uns Allen viel Vergnügen bereiten wird.” — „Besonders mir,” denkt der Herr Premier.

„Wer kommandiert die Kompagnie?”

„Ich, Herr Oberst.”

„Sehr schön, Herr Hauptmann. Und welche Herren treten als Zugführer ein?”

Die dazu bestimmten Offiziere treten vor.

„Schön, sehr schön. Darf ich mir noch einige Worte an die Herren Zugführer erlauben? Meine Herren, ich bitte Sie, seien Sie bei den Aufmärschen recht schnell auf Ihren Plätzen, auch wenn der Weg, den Sie bei dem kriegsstarken Verbande zu durchlaufen haben(7), weiter ist als sonst — bitte, denken Sie nicht an Ihre eigene Unbequemlichkeit, sondern daran, daß Sie die Stützen der Kompagnie sind.”

Wenn wir todt wären, wäre es uns in diesem Falle lieber, denken die Herren.

„Nun, dann danke ich sehr, meine Herren.”

Gleich darauf beginnt das Exerzieren: zuerst die Griffe, Wendungen, Richtung und dann die Aufmärsche.

Rechts um — links marschirt auf, marsch — marsch.

Eine kriegsstarke Kompagnie ist fünfzig Meter lang — der Herr Premier freut sich, daß er nicht mitzulaufen braucht, denn er steht am rechten Flügel.

Niemand soll sich, bevor er den Abschied hat, glücklich preisen.

Links um, rechts — marschirt auf, marsch — marsch!

Der Herr Premier rast wie wild durch Europa dahin.

„Schneller muß das gehen — viel schneller, nochmal zu–rück.”

Wieder durchläuft der Herr Premier fünfzig Meter im Galopp.

„Links — um, rechts marschirt auf, marsch — marsch.”

Der Herr Premier bildet sich ein, er wäre Kavallerist und kommandirt sich in Gedanken: „Eskadron — Galopp — marsch.”

Und abermals saust er dahin.

„So war es schon besser, aber es muß noch flinker gehen.”

„Links um — rechts marschirt auf — marsch — marsch.”

„Nun habe ich aber bald keine Luft(8) mehr,” denkt der Premier, „was hat denn das überhaupt für einen Zweck, daß ich wie ein verrückt gewordener Jaguar in mächtigen Sätzen auf diesem Platz herumspringe und kaum an einem Ort angekommen, wieder in Bewegung gesetzt werde? Da lieg' ich doch viel lieber im Bett —”

„Zurück, marsch, marsch,” tönt es an sein Ohr.

Er dreht sich um seine Längsachse, macht Kehrt und läuft denselben Weg zurück, den er gekommen ist, das heißt er will ihn wieder zurücklaufen, aber er weiß selbst nicht, wie es gekommen ist, plötzlich liegt er der Länge nach auf der Erde.

Schnell will er wieder in die Höhe springen, aber was ist das? Er kann den linken Fuß nicht aufsetzen, er verspürt einen stechenden Schmerz und sinkt wieder zusammen.

Man hat die Szene gesehen, die berittenen Offiziere reiten heran, um sich zu erkundigen, was geschehen — auch der Arzt naht, um zu helfen, wenn es nöthig. Man zieht ihm den linken Stiefel ab und der Arzt konstatirt einen Knöchelbruch.

„Schmerzt es sehr?” fragt theilnehmend ein Hauptmann.

„Nun, ich danke für die gütige Nachfrage, es geht so,” stöhnt der Arme.

„Na, nur Muth,” lautet die Antwort, „ich werde einen Wagen holen, der Sie nach Hause fährt. Und dann denken Sie nur: so schlecht ist das Geschäft noch gar nicht, vier Wochen müssen wenigstens im Bett liegen, Sie sind doch in der Unfallversicherung?”

„Das versteht sich.”

„Na, sehen Sie, da werden Sie ein reicher Mann. Dann fahren Sie wenigstens vier Wochen auf Urlaub —”

Das Gesicht des Kranken strahlt vor Vergnügen.

„Und was die Hauptsache ist — Sie haben dann ja doch für alle Zeiten Ihr Pensionsbein.”

„Donnerwetter, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht.”

„Sehen Sie wohl — jedes Unglück hat auch sein Gutes. Denken Sie nur, von wieviel Uebungen Sie sich à conto Ihres Pensionsbeines drücken können. Sie sind eigentlich fein heraus — wird Ihnen der Frontdienst zu anstrengend, so bewerben Sie sich um ein Kommando und was man Ihnen früher vielleicht verweigert hätte, muß man Ihnen jetzt geben. Und schließlich noch eins: wenn es zum Abschied nehmen kommt, können Sie immer ruhig sagen, daß Sie nicht gegangen worden sind, sondern daß Sie hätten gehen müssen. Solch Pensionsbein ist das Beste, was der Soldat haben kann — ich habe, im Vertrauen gesagt, auch eins — meinen linken Arm, den habe ich mir einmal bei einem Sturz gebrochen, na, und wenn ich keinen Spaß mehr habe, sage ich einfach, ich könnte nicht mehr reiten, dann bin ich fein heraus.”

Eine Stunde später liegt der Herr Premier zu Haus in seinem Bett, er will schlafen, aber er kann nicht, die Schmerzen peinigen ihn. Schon will er fluchen, da gedenkt er der Unterredung mit dem Hauptmann und anstatt zu klagen, fährt er mit der Hand unter die Decke und streichelt zärlich sein — Pensionsbein.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es: „einmal ordentlich schlafen” (zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es: „daß er gar keine mehr” (zurück)

(3) In der Buchfassung heißt es: „des Herrn Hauptmann” (zurück)

(4) In der Buchfassung fehlt dieser Absatz. (zurück)

(5) In der Buchfassung heißt es: „mal heute” (zurück)

(6) In der Buchfassung heißt es: „sprengt über das Schlachtfeld” (zurück)

(7) In der Buchfassung fehlt hier das Wort „haben” (zurück)

(8) In der Buchfassung heißt es: „keine Lust mehr” (zurück)


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