Parademarsch.

von Freiherrn von Schlicht

Vier Humoresken — vier Versionen eines militärischen Paradestücks.



„Neue Hamburger Ztg.” vom 6.2.1904,
„Niederschles. Ztg.”,
Tägliche Unterhaltungs-Beilage vom 3.März 1904

Parademarsch

Militärisch-humoristische Skizze

Der Gefechtsesel.

Ausgewählte Militärhumoresken
Seite 100 ff.

Parademarsch


Die Kommandeuse

und andere Militärhumoresken.
Seite 123 ff.

Parademarsch


Das Kasernengespenst

Eine Besichtigung von A – Z
Seite35 ff.

III.
Parademarsch


Der höfliche Meldereiter

und andere militärische Humoresken und Satiren
Seite 230 ff.

3.
Parademarsch


Der Parademarsch

Militärhumoresken
Seite 5 ff.

Der Parademarsch


Der Parademarsch

Vom Freiherrn von Schlicht
in: Simplicissimus, Jahrgg. 4, Nr. 44, S. 350,
in: Arbeiterwille vom 8.2.1900 und
in: Mährisches Tagblatt vom 3.2.1900
in: Indiana Tribüne vom 4.3.1900

„Lustige Blätter”

24.Jahrgg. (1909), Nr. 26, Seite 8-9

Parademarsch.


Die größten Dinge entwickeln sich oft aus den winzig kleinsten Anfängen. Selbst der selige Buddha nannte diesen Ausspruch, als er ihn zum ersten Male hörte, uralt – wie alt ist er jetzt? Aber wahr ist er trotzdem noch.

Es gibt niemanden, der da nicht wüßte, daß in keinem anderen Militärstaate so viel Wert auf den Parademarsch gelegt wird, wie bei uns, und jeder weiß auch, daß beim Militär, wenigstens für die Vorgesetzten, der Parademarsch der Inbegriff alles Schönen und Edlen ist – vorausgesetzt, daß der Parademarsch klappt.

Und klappen muß er, und damit er klappt, wird gebimmst und gebummsen, tagaus, tagein. Wie alles Vollkommene ist es nicht gleich da, sondern muß erst von kleinen Anfängen an sich zur vollsten Blüte entwickeln.

Der Herr Unteroffizier hat sich auf dem Kasernenhofe einen einzelnen Mann vorgebunden: „Langsamen Schritt nach zählen! Kommando eins!”

Der Soldat stöhnt im stillen bei diesen Worten auf, dann stellt er sich in Positur. Er stellt das linke Bein zurück, drückt die Fußspitze nach auswärts und nach unten und wartet auf ein Kommando, und dieses heißt: zwei!

Mit dem Manne geht plötzlich eine Veränderung vor. Eben stand er in einer Pose, wie die Markgrafen im Berliner Tiergarten, starr und unbeweglich, jetzt bekommt er mit einemmal Leben: er zieht den linken Fuß, den er eben nach hinten setzte, mit hochgehobenem Absatz an das rechte Bein heran und wirft ihn dann in die Luft, er drückt dabei die Fußspitze nach auswärts, und nach unten und steht nun in dieser Pose da und wartet weitere Befehle ab. Er soll auch jetzt starr und unbeweglich dastehen, wie ein von Begas ausgehauener Fürst, aber er steht nicht, er hat es in seiner Jugend nicht gelernt, längere Zeit auf einem Bein zu stehen. Gewiß, das ist ein Mangel in seiner Erziehung, aber gerade deshalb muß Hans jetzt noch lernen, was Hänschen nicht lernte.

„Stille stehen, Meier, still, ganz still, nicht wackeln, das rechte Bein scharf durchdrücken – feststehen, Meier, noch fester!”

Aber je fester Meier stehen soll, umsomehr wackelt er.

„Ich lasse Sie stehen, bis die Erde untergeht,” mahnt der Unteroffizier. „Ob Sie selbst diesen Tag erleben, weiß ich allerdings nicht, aber wenn Sie auch tot bleiben, Ihre Leiche bleibt hier, bis die es dann begriffen hat, also machen Sie, was Sie wollen!”

Die Aussicht, vielleicht noch Jahrtausende auf einem Bein stehen zu müssen, ist wenig verlockend, so gibt Meier sich denn einen energischen Ruck und er steht für einen Augenblick, wirklich still.

„Na ja, also, warum nicht gleich so,” lobt der Unteroffizier. „Kommando – drei!”

Auf dieses Kommando hin setzt Meier das Bein und den Fuß, die bisher in der Luft balanzierten, in einer Entfernung von 80 Zentimeter auf die Erde.

„So,” sagt der Unteroffizier, „Gott sei Dank, das war der erste Schritt zum Parademarsch.”

„Aber leider nicht der letzte,” stöhnt Meier.

Da hat er recht, denn sofort ertönt wieder das Kommando: Eins. Selbst der tüchtigste Soldat ist nicht imstande, nur auf einem Bein zu marschieren, und so tritt dieses Mal zur Abwechslung das rechte Bein in Tätigkeit. Auf eins zieht Meier kurz das rechte Bein an das linke heran, und zwar so, daß der Absatz des rechten Stiefels das linke Bein etwas über dem Knöchel berührt, die Fußspitze zeigt dabei nach außen und nach unten. Auf zwei wird das rechte Bein vorgeschleudert, auf drei wird der Fuß in einer Entfernung von 80 Zentimeter auf die Erde gestellt, und dann kommt wieder das linke Bein heran. Und nach dem linken kommt wieder das rechte, und nach dem rechten wieder das linke, und das geht mit dem langsamen Schritte so weiter, bis Meier nach sechs Wochen etwa so weit ist, daß er vom langsamen Schritt zum gewöhnlichen Marsch übergehen kann. Das ist dasselbe in grün, nur werden die einzelnen Tempos da miteinander verbunden, so daß der Schritt nicht mehr aus einzelnen Teilen besteht, sondern gleich ein Ganzes bildet.

Eines Morgens kündet der Unteroffizier dem Meier das Ende des langsamen Schrittes an: „Na, Meier, so einigermaßen geht es ja, aber bilden Sie sich deshalb nur nicht ein, daß Sie etwas können. Vorläufig können Sie noch gar nichts, aber immerhin, wenn man beide Augen zudrückt, und nicht hinsieht, und auch nicht danach hinhört, wie schlapp Sie Ihre krummen Knochen auf die Erde setzen, dann können Ihre Leistungen bei ganz bescheidenen Ansprüchen immerhin vielleicht teilweise genügen.”

„Gott sei Dank,” denkt Meier sich, „nun habe ich Ruhe,” aber er irrt sich. Erst kommt der Geschwindmarsch alleine, dann kommt er zu zweien nebeneinander. Da sollen die Leute so viel Zwischenraum voneinander halten, daß sie beim Marsche bequem den rechten Arm bewegen können. Das ist leicht gesagt. aber entweder läuft die Bande (das ist Meier und sein Nebenmann) wie eine Hammelherde auseinander, daß eine Batterie zwischen ihnen hindurchfahren kann, oder sie kleben aneinander wie die Pilze und rennen sich gegenseitig um. Lediglich um eine Abwechslung in die Sache zu bringen, heißt es plötzlich: „Die zwei Mann hintereinander, die Leute sollen mit einem Gliederabstand von 64 Zentimeter hintereinander marschieren.” Der Marsch beginnt und mit teuflischem Vergnügen sieht der Unteroffizier zu, wie die Rotte hin und her torkelt: „Sehr hübsch, wirklich ganz wunderhübsch, so was war noch nie da, sagt die Ida. So ist es recht, Meier, treten Sie dem Petersen nur ordentlich auf die Hacken, dann wird er schon lernen, die Knochen hochzunehmen. Treten Sie ihm hinein in die Kniekehlen, wozu hat er die Dinger sonst?”

Und Meier befolgt den guten Rat, und gleich darauf liegt Petersen auf der Nase. Der Unteroffizier wird beinahe ohnmächtig: „Zu glauben ist es überhaupt nicht. Da fällt der Petersen am hellichten Tage um, Mensch, stehen Sie gefälligst auf. Glauben Sie, daß Sie für Ihre 22 Pfennig Löhnung täglich und für das Kommißbrot, das Sie jeden vierten Tag erhalten, sich hier den ganzen Tag als gefallene Größe herumtreiben können? Wenn Sie jetzt schon umfallen, was wollen Sie dann erst im Kriege machen, wenn Sie einen Granatsplitter vor Ihren Schädel bekommen? Allerdings, Ihnen wird es nicht schaden, das Geschoß prallt ab, durch Panzerplatten geht es glatt durch, aber durch Ihren schönen Kopf? Unmöglich! Na nu, erheben Sie sich mal wieder, bitte haben Sie die Güte!”

Petersen steht auf, und dieses Mal marschiert Meier vorne und Petersen hinten.

„So, Petersen, nun nehmen Sie mal Rache für Sadowa, zeigen Sie mal, was Sie können, hoch die Beine, und wenn Meier seine Knochen nicht hebt, dann geben Sie ihm einen Tritt, daß ihm seine sterblichen Gebeine gegen den Himmel fliegen.”

Und Petersen befolgt den Rat, wütend genug ist er, daß er sich von seinem Hintermann vorhin so hat quälen lassen müssen, und plötzlich haut er dem Meier ingrimmig mit dem eisenbeschlagenen Stiefel derartig gegen das linke Bein, daß dieses sich beinahe vom Rumpfe trennt. Und mit einem hörbaren Knall setzt Meier sich plötzlich auf die von der Natur dazu geschaffene Körperstelle.

„Eine angenehme Bekanntschaft,” schilt der Unteroffizier, „so was sehe ich gerne, so'n paar elendiglich krumme Teufel wie Ihr seid, habe ich mir immer gewünscht. Ihr könnt so bleiben, laßt Euch zusammen photographieren, aber schenkt mir bitte kein Bild, dafür danke ich, nun aber weiter im Text.”

Meier ist aufgesprungen, der Marsch geht weiter los, und dem Marsche in der einzelnen Rotte folgt der Marsch von zwei Rotten nebeneinander, immer wird eine Rotte angehängt, bis die Sektion (vier Rotten) fertig ist; dann kommt der Marsch in Halbzügen und dann der im Zuge.

Von diesem Augenblicke an übernimmt der Herr Leutnant selbst das Kommando, und mit seiner schönsten Stimme kommandiert er: „Parademarsch, Bataillon marsch!”

Es ist ein trauriger Anblick: „Geradeaus sollt Ihr marschieren, geradeaus, Himmel­kreuz­ donner­wetter, rechts die Nasen, hoch die Beine, Fußspitzen runter, auswärts die Dinger, Knochen durchdrücken, den richtigen Zwischenraum halten, richtigen Glie­der­abstand, die rechte Hand richtig bewegen, den linken Ellbogen in die Seite, das Gewehr still halten, nicht mit der Mündung wackeln, mehr vorne reinlegen beim Marsch, länger den Schritt und ruhig treten. Richtung, Richtung! Meier, Sie krummer Hund, Sie sind ja wieder einen Schritt vor, zurück, marsch, marsch!”

Der ganze Zug läuft zurück, und Meier, als der Schuldige, bekommt von seinen Kameraden freundschaftliche Rippenstöße und liebevolle Fußtritte. Das will Meier sich für seine 22 Pfennige Löhnung und für das Kommißbrot, das er jeden vierten Tag erhält, nicht gefallen lassen, er fängt laut an zu fluchen.

„Ruhe im Glied!” donnert der Herr Leutnant, „Unteroffizier, schreiben Sie den Mann zum Nachexerzieren auf.”

Das geschieht, und Meier sieht zu spät ein, daß es weiser gewesen wäre, zu schweigen.

Acht Tage lang wird der Parademarsch in Zügen geübt, dann geht es in der Kompagnie los, und nach weiteren vierzehn Tagen heißte es: „Morgen früh Parademarsch üben im Bataillon!”

Alle bekommen einen Schrecken, den größten die Herren Hauptleute, denn sie wissen es im voraus, daß man sie für jeden Kerl, der nicht rechts sieht, der keinen Tritt hält, oder sonst irgenwie bummelt, verantwortlich macht.

Zur Feier des Tages erscheint die Regimentsmusik und auch die Trommler und Pfeifer des Bataillons unter Anführung des Tambourmajors. Dann geht's los. Zuerst kommt der Parademarsch in Zügen. Der erfreut sich namentlich bei den Herren Leutnants der größten Unbeliebtheit, denn da sind sie diejenigen, welche beständig etwas auf den Hut bekommen. Sie sollen zwei Schritte vor der Mitte ihres Zuges marschieren, aber wer hat in seinem Rücken Augen und wer kann ohne Augen sehen, wo er sich in der weiten Welt befindet? Wo ist der Kluge? Die Vorgesetzten hatten es in ihrer Jugend gekonnt, aber die Leutnants glauben es ihnen nicht, und da die Vorgesetzten selbst nicht glauben, was sie sagen, so glauben sie auch nicht, daß die Leutnants ihnen glauben. Aber daß sie ihre Sache besser machen, verlangen sie trotzdem.

Dem Parademarsche in Zügen folgt der in Kompagnie­front, und der ist nach Ansicht des Herrn Major weiter nichts, als eine mordsmäßige Schweinerei. Der Major wird den Hauptleuten grob, diese den Leutnants, die schnauzen die Unteroffiziere an, und alle zusammen schnauzen sie die Leute an, und dann ist ihnen allen wieder wohl, bis zum nächsten Mal, dann geht das Fluchen wieder los. Und dieses Mal bekommt auch der Adjutant etwas auf den Hut. Ein weiser Mann hat nach der Uhr gesehen und festgestellt, daß die Spielleute zu langsam schlagen. 114 Schritt in der Minute ist Vorschrift, die Kerls schlagen aber nur 112, der Adjutant ist dafür der verantwortliche Chef­redakteur, man wird ihm grob, er selbst wird dem Bataillons­tambour noch gröber, und der erhebt drohend den Taktstock und sagt zu seinen Kerls: „Na wartet, Euch krummen Mondsicheln werde ich die Flötentöne beibringen.”

Er bringt sie ihnen bei, und die Musik stimmt, als der Herr Oberst eines Tages befiehlt: „Morgen früh Parademarsch üben im Regiment!”

Zu dem Parademarsche in Zügen und Kompagnie­front tritt noch der in Regimentskolonne. Der ist noch nie geübt worden, aber klappen muß er trotzdem, und da er nicht klappt, wird der Herr Oberst den Bataillons­kommandeuren grob, und diese werden den Hauptleuten noch gröber, und diese werden den Herren Leutnants noch viel gröber, und diese werden den Unteroffizieren erst recht grob, und alle zusammen werden den Leuten saugrob, und dann ist ihnen allen wieder wohl, bis zum nächsten Vorbeimarsch.

Und dann kommt eines Tages Se. Exzellenz und nimmt die Parade ab. Die Kerls haben zur Feier des Tages ihre dritte Garnitur an, die Leutnants ihre erste, sogar die Gäule sind festlich aufgezäumt, die Musik hat den Schellenbaum mit hinausgeschleppt, der gar keinen sittlichen Wert hat, aber hübsch aussieht, und dabei doch nahezu hundert Pfund wiegt, und sogar die Fahnen sind zur Stelle. Und dann geht's los.

Se. Exzellenz hält an einer geeigneten Stelle und der Herr Oberst befiehlt: „Parademarsch in Kompagnie­front, Bataillon marsch!”

Die Musik setzt ein.

Der Herr Oberst reitet dem Regiment voran, neben ihm reitet der Adjutant, hinter ihm reitet der Etatsmäßige, hinter dem Etatsmäßigen reitet der Major, neben dem Major reitet der Hauptmann der königlichen Ersten und in einem Abstande von zweiundzwanzig Schritt marschieren die Kompagnien, angeführt von ihren Häuptlingen, vorüber.

Es ist ein glänzendes militärisches Schauspiel, wie die Kerls, die bis zur Bewußtlosigkeit gedrillt worden sind, so vorbei­marschieren, aber dieser Marsch ist weiter nichts, als eine Parade, mit der man im Ernstfalle nicht einen einzigen Gegner tötet. Unendliche Zeit ist darauf verwandt worden, bis man es endlich erreichte, daß der Marsch klappt, unendliche Zeit, unendliche Mühe. Und wozu das Ganze? Das weiß eigentlich niemand, man übt ihn, weil es befohlen ist und um bei den Besichtigungen vor Exzellenz gut abzuschneiden, denn wir leben militärisch in einer Zeit der Besichtigungen, und wer das nicht einsieht und nicht in diesem Sinne die Parade einübt, für den gibt es seitens der höheren Vorgesetzten nur ein einziges Kommando und das heißt; „Marsch!”


Der Parademarsch ist die militärische Offenbarung.

Allzuviel denken kann man sich bei diesem Wort nicht, aber das schadet auch nichts, es ist ja das Vorrecht der tiefsten Wahrheiten, meistens ganz unverständlich zu sein.

Manche sagen auch: Der Parademarsch ist ein Gedicht.

Für diejenigen aber, die trotzdem noch nicht wissen, was ein Parademarsch ist, sei er erklärt: Es ist die Kunst, die Füße in einer Entfernung von vierundsechzig Zentimetern auf den Erdboden zu setzen, während man das Bein mit lose und doch fest durchgedrückten Knien auf die Erde schlägt, und dabei die Fußspitze nach unten drückt und sie gleichzeitig nach auswärts dreht.

Das klingt sehr einfach, ist aber trotzdem absolut nicht so leicht, wie mancher es sich vielleicht vorstellt; denn vielen Leuten ist es bei dem besten Willen nicht möglich, die Knie durchzudrücken, und andere bringen es trotz aller Anstrengungen nicht fertig, die Fußspitzen nach unten zu nehmen. Es gibt Zehen, die in die Höhe ragen wie die Spitze des Straßburger Münsters oder des Mainzer Doms, auf dessen Plattform kürzlich die halbe Stadt saß und auf den Grafen Zeppelin mit seinem lenkbaren Luftschiff wartete. [4.-5.Aug. 1908]

Aber der Graf kam nicht.

Aber er wird schon noch kommen. Was der verspricht, das hält er auch.

Bei den „krummen Hunden” sind tausend Vorbereitungen nötig, um die Knie geschmeidig und die Fußspitzen gelenkig zu machen. Und wenn die Gliedmaßen zu rabiat sind und nicht so wollen, wie sie sollen, dann beginnt ein großes Fluchen in der Natur. Der ganze Vorgesetzte, vom Unteroffizier hinauf bis zum Herrn Oberst, redet auf den Mann ein: „Durchdrücken die Knie! – Runter die Fußspitzen! – Runter mit den Dingern! Himmel­kreuz­ donnerwetter, verflucht und zugenäht, wollen Sie nun endlich die Fußspitzen runternehmen oder nicht!”

Und ob er will! Ihm macht es doch weiß Gott auch kein Vergnügen, sich den ganzen Tag anschreien zu lassen. Selbst wenn er im Bett liegt, hat er keine Ruhe, dann muß er das Fußrollen üben, die Gelenke geschmeidig machen, die Zehen biegen, kneten, drehen und verdrehen, damit sie nachgeben. Wollen will er schon, aber erst können.

Aber er muß es ganz einfach können; die Vorgesetzten haben es beschlossen und damit ist, wenigstens für sie, der Fall erledigt.

Für alle, die nicht ganz gerade gewachsen sind, aber auch für die schlanken Edeltannen beginnt jetzt eine böse Zeit. Der Tag der Besichtigung ist festgesetzt, die hohen Vorgesetzten schweben als drohendes Schreckgespenst oben in der Luft und können jeden Augenblick herunterfallen. Es muß der Parademarsch geübt werden.

Alle stöhnen schwer auf, die Mannschaften, die Unteroffiziere, die Leutnants und die Hauptleute, die Stabsoffiziere und der Herr Oberst.

Die Regimentsmusik flucht sogar, und nicht zu knapp. Die kann nun wieder den ganzen Vormittag auf dem Kasernenhof stehen und einen Marsch nach dem andern blasen und immer denselben. Und wenn sie den letzten Ton geblasen und getrommelt haben, fangen sie mit dem ersten wieder an. Und mit der Uhr in der Hand steht der Adjutant vor ihnen und kontrolliert, ob das Tempo richtig ist. Die Truppe muß in der Minute 114 Schritt zurücklegen. 57 mal muß der Mann nach den Klängen der Musik in jeder Minute jedes Bein mit gleich gekrümmtem Knie vorwärts strecken und dabei die auswärts gedrehten Fußspitzen nach unten drücken. 114 mal müssen seine beiden Beine zusammen diese vorschriftsmäßige Bewegung machen, und wenn die Musik einmal im Tempo 113 spielt, oder das Tempo gar zu schnell nimmt, daß es 115 werden, dann wird die Musik angeschnauzt, daß ihr die Töne vergehen.

Der Kapellmeister ist natürlich an dem ganzen Unglück allein schuld, wozu hat der Mann denn seinen Taktstock, wenn er den nicht handhabt?

Ein solcher Dirigent ist ein geplagter Mann: Spielt er glänzend Parademärsche, aber steht seine Kapelle sonst nicht ganz auf der Höhe, dann ist er ein elender Stümper, der weiter nichts kann, als Parademärsche dudeln. Und wenn seine Kapelle auf künstlerischer Höhe steht, aber einen schlechten Parademarsch bläst, dann ist es natürlich erst recht nicht recht.

Angeschnauzt wird er immer.

Nur ein Mann der Regimentsmusik bekommt nie etwas auf den Hut, selbst dann nicht, wenn die Kapelle noch so toll angeblasen wird. Ihn läßt die Sache ganz kalt, obgleich er am meisten von allen schwitzt. Und dieser sonderbare Jüngling ist der Riese der ersten Kompagnie, der dazu ausersehen ist, den großen Schellenbaum zu tragen – ein Instrument, das gar keins ist, sondern der Musik nur als Schaustück vorangetragen wird, wie im Regiment die Fahne.

Aber das Ding zu tragen, ist keine Kleinigkeit. Für die Schellenbäume ist kein Gewicht vorgeschrieben, und es gibt bei einigen Regimentern solche Schaustücke, die von reichen Freunden und Gönnern gestiftet sind, die ihre zehntausend Mark und mehr kosten und von Silber strotzen. Und wenn das Silber auch heutzutage nichts mehr wert ist, sein spezifisches Gewicht hat es doch behalten, und hundert Pfund wiegen immer noch hundert Pfund. Und so schwitzt der Mann denn auch ganz gehörig, während er unbeweglich dasteht, er schwitzt und schwitzt, aber etwas soll er ja auch nur tun, und das Schwitzen ist ja auch sehr gesund, das treibt alles unnötige Fett ab, befördert die Verdauung und gibt die ewige Seligkeit allen denen, die daran glauben.

Und er ist auch nicht der einzige, der schwitzt. Mehr oder weniger schwitzen sie alle, die einen, weil sie ihre Beine strecken müssen, die andern, weil sie in der Furcht des Herrn leben, die Kerls könnten ihre Beine nicht genug strecken.

Der Herr Oberst ist mit seinem Adjutanten auf dem Exerzierplatz erschienen, und das Parade­marsch­ üben nimmt seinen Anfang. Es gibt einen Parademarsch in Zügen, einen in Kompagnie­front und einen in der Regimentskolonne.

Wenn man wüßte, welchen Parademarsch die Vorgesetzten bei der Besichtigung befehlen würden, könnte man sich damit begnügen, nur den einen bis zur Bewußtlosigkeit zu üben. Aber die hohen Herren hüllen sich bei solchen und ähnlichen Gelegenheiten in tiefes Schweigen, eine Truppe soll eben so ausgebildet sein, daß sie in allen Sätteln gerecht ist.

So bleibt denn nichts anderes übrig, als alle Parademärsche bis zur Bewußtlosigkeit zu üben.

Mit dem Parademarsch in Zügen fängt es an, und der erste Zug der ersten Kompagnie macht den Anfang.

Die Musik hat schon zehn Parademärsche zur Probe gespielt, um wieder in das Marschtempo hineinzukommen, denn noch gestern abend hatte die Kapelle ein Konzert gegeben und dort Wagner, Beethoven und ähnlichen Blödsinn gespielt. Da geht der Rhythmus für wahrhaft klassische Militärmusik natürlich verloren, besonders wenn man als Zugabe nach dem Vorspiel zum Parsival auf allgemeinen Wunsch des enthusiasmierten Publikums noch die lustige Witwe draufgeben muß. Aber die eben geblasenen zehn Parademärsche haben wieder Ordnung in das Gehirn der Musikanten gebracht, man kann ihren Tönen die Beine der Musketiere anvertrauen.

Der erste Zug der ersten Kompagnie tritt an, und zwei Schritte vor der Mitte seiner Abteilung marschiert der Leutnant. Seine Kerls strecken die Knochen, und er streckt sie erst recht – er ist sicher, daß er hohes Lob ernten würde, wenn heute die Besichtigung wäre.

Aber da es heute nur eine Vorbesichtigung ist, darf der Marsch natürlich noch nicht gut sein, sondern muß noch viel, viel besser werden.

Mit „Augen rechts!” marschieren die Leute und Offiziere dahin, und der Leutnant sagt sich: Wenn ich mit dem Zug an dem Oberst vorbeikomme, ohne zurückgeschickt zu werden, lade ich mich nachher bei dem Frühstück im Kasino auf eine doppelte Weiße ein.

Der Oberst sieht den Zug ankommen, mit seinen durchdringenden Augen mustert er die Richtung, die Beine und Fußspitzen, noch ist kein Wort des Tadels über seine Lippen gekommen und der Leutnant fängt an, sich auf seine Weiße zu freuen: Die soll ihm nachher schön schmecken, denn dafür, daß er den nötigen Durst hat, werden die hohen Vorgesetzten schon sorgen.

Je näher die Leute herankommen, desto höher schmeißen sie die Beine, und schon denken die Kerls: Wir haben unsere Sache gut gemacht, als der Oberst plötzlich spöttisch auflacht: „Das soll ein Parade­marsch sein? Zurück!”

Der Zug teilt sich in der Mitte und läuft rechts und links um die Flügel des hinter ihm heranrückenden Zuges zurück, um die Front frei zu machen, und der Leutnant läuft hinterher. Die Kerls sind wütend, aber er ist es erst recht, er hatte sich so auf seine Weiße gefreut, und nun ist es damit wieder nichts.

Inzwischen rückt der zweite Zug näher und näher, aber als der in gleicher Höhe mit dem Herrn Oberst ist, hält der es unter seiner Würde, für diesen Marsch auch nur ein Wort der Kritik zu haben. Der ist unter jeder Kritik. So hebt er denn nur den Zeigefinger der rechten Hand und gibt damit das Zeichen, spurlos von der Erdoberfläche zu verschwinden. Und die Kerls laufen zurück nach der Stätte, von der sie gekommen sind und von der sie heute noch oft kommen werden.

Der Leutnant des dritten Zuges, der nun heranrückt, sieht, daß auch der zweite zurück­geschickt wird, und klug und begabt, wie er ist, sagt er sich: Es ist doch eigentlich ein Unsinn, daß wir noch weiter marschieren, zurück müssen wir ja doch.

Dasselbe denken die Kerls und sie sind so felsenfest davon überzeugt, daß sie zurück­geschickt werden, daß sie alle mit einemmal ganz deutlich das Kommando: „Zurück, Marsch, Marsch!” zu hören glauben.

In Wirklichkeit hat niemand das Kommando abgegeben, aber wie ein Bienenschwarm geht der Zug plötzlich auseinander und verschwindet nach rechts und links ebenso wie seine Vorgänger.

Nur der Leutnant marschiert weiter geradeaus. Der Vorschrift gemäß soll er genau zwei Schritte vor der Mitte seiner Abteilung sein. Um das Kunststück fertig zu bringen, muß er sich durch Zurufe des genau hinter ihm marschierenden Mannes dirigieren lassen: „Mehr rechts, mehr links, weiter vor, kürzer treten!” Nur dann kann er da sein, wo er sein soll; und daß er es trotzdem meistenteils nicht ist, beweist, daß beim Militär seitens der Vorgesetzten von den Unter­gebenen Dinge verlangt werden, die sie in ihrer eigenen Jugend selbstverständlich auch nicht konnten, die sie aber gerade deshalb jetzt mit eiserner Strenge von ihren Unter­gebenen verlangen.

Der Leutnant marschiert immer noch geradeaus. Daß sein Hintermann ihm heute gar nicht zuruft, beweist ihm, daß er genau an dem vorgeschriebenen Platz marschiert. Er schließt daraus, daß er seine Sache heute sehr gut macht, er wird endlich einmal bei dem hohen Vorgesetzten vorüberkommen, ohne hinterher einen Rüffel zu erhalten, dessen Größe im umgekehrten Verhältnis zu seiner geringen Gage steht. Er ist am richtigen Platz: dieses stolze Bewußtsein schwellt seine Brust und läßt seine Beine höher und höher fliegen.

Die Musik spielt den Parademarsch, der Kapellmeister überzeugt sich durch einen Blick auf seine Uhr davon, daß das Tempo richtig ist, die große Trommel macht Bum Bum, der Mann mit dem Schellenbaum schwitzt, als wenn er dafür 22 Pfennig in der Minute und nicht 22 Pfennig für den ganzen Tag bezahlt erhielte, die Klarinetten zwitschern, die Trompeten schmettern, und nach den Klängen der Regimentsmusik marschiert der Leutnant einsam und allein durch das Weltall.

Mit „Augen rechts!” soll er an dem Vorgesetzten vorbeidefilieren. Er ist nach seiner Überzeugung immer noch am richtigen Platz, denn sonst müßte sein Hintermann, auf den er sich felsenfest verlassen kann, ihm doch etwas zurufen. Aber der Mann ruft nicht, folglich stimmt die Kiste.

Mit „Augen rechts!” marschiert der Leutnant weiter, aber es ist eine alte Geschichte, daß kein Mensch, der den Kopf nach rechts gedreht hat, mit den Beinen geradeaus gehen kann. Unwillkürlich folgen die Füße der Richtung der Augen, und anstatt geradeaus geht der kleine Leutnant immer weiter nach rechts, immer weiter, immer weiter, und der Himmel ist so heiter.

Und mit einemmal ist der Leutnant so weit nach rechts gekommen, daß er mit seinem Rockärmel das Pferd des Herrn Oberst streift.

Auf diesen Augenblick hat der Herr Oberst, der kraft der ihm angeborenen Weisheit das alles hat kommen sehen, nur gewartet, um seinem Leutnant grob zu werden.

Er wird ihm sogar noch gröber.

Dann fragt er ihn zum Schluß: „Bitte, Herr Leutnant, eins möchte ich noch gerne von Ihnen wissen, wo haben Sie denn eigentlich Ihren Zug?”

Der Leutnant sieht sich im Weltall um. Seine vierzig Mann, die nach seiner Meinung noch eben im stolzen Parademarsch zwei Schritt hinter ihm daher­kamen, sind plötzlich spurlos von der Erdoberfläche verschwunden, so spurlos, daß von ihnen auch nicht das geringste zu sehen ist.

Ganz verständnislos blickt er den Kommandeur an, und der freut sich über die Dummheit, die in diesem Augenblick aus den Augen des Untergebenen spricht. Die Torheit der Untertanen ist bekanntlich die Weisheit der Herrscher.

Der Leutnant will etwas sagen. Über das „Was” ist er sich absolut nicht einig, denn die Gabe, Zeichen und Wunder zu erklären, ist ihm nicht gegeben, aber sagen will er doch etwas, das ist er nach seiner Auffassung sich selbst und seiner dienstlichen Stellung schuldig.

Er öffnet den Mund, ohne zu wissen, was dabei herauskommen soll, aber in demselben Augenblick weitet auch der Herr Oberst das Gehege seiner Zähne. Er spricht nur ein einziges Wort, aber das ist schwer und inhaltreich und lautet: „Zurück!”

Und der Leutnant gehorcht, denn dafür, daß er gehorcht, wird er ja bezahlt. Er läßt den Satz, den er reden wollte, ungesprochen, er klappt die Zähne zusammen, macht linksum kehrt, nimmt den Säbel in die linke Hand, die beiden Beine in beide Hände und fliegt mit der Geschwindigkeit eines wahnsinnig gewordenen Autos zurück zu der Stätte, von der er gekommen ist und von der er heute noch oft kommen wird.

Unterdessen nähert sich unter Führung des nächsten Leutnants der nächste Zug.

Kein Mensch glaubt, daß der vorüberkommt, ohne unterwegs Schiffbruch zu erleiden; aber das Wunderbare wird hier Ereignis, der Zug passiert den Herrn Oberst, er marschiert an dem Vorgesetzten vorüber.

Als die Leute auf der anderen Seite angekommen sind, sehen sich alle ganz erstaunt an, sie sind bisher die einzigen, die hier glücklich landeten. Ist das wirklich mit rechten Dingen zugegangen?

Da kommt auf schnaubendem Roß der Adjutant angesprengt: „ Der Herr Oberst läßt fragen, warum der Zug nicht zurückgegangen ist?”

Erstaunt sieht der Leutnant den Kameraden an: „Aber der Oberst hat das doch gar nicht befohlen?”

Der Adjutant macht sein wohlwollendstes Gesicht: „Lieber Freund, ein Oberst hat mehr zu denken, als immer nur das, was er gerade denken soll. Und gerade als Sie vorbei marschierten, dachte er an ganz etwas anderes. Er hat von Ihrem Vorbeimarsch gar nichts gesehen, er ist außer sich, daß Sie das nicht selbst bemerkten und nicht aus eigener Initiative 'Zurück, Marsch, Marsch!' kommandierten. Tuen Sie mir den einzigsten Gefallen und verschwinden Sie von hier so schnell als möglich.”

Der Adjutant gibt seiner Stute die Sporen und saust davon. Der Leutnant aber sieht mit einem ganz verdutzten Gesicht seine Kerls an, dann meint er: „Na, Kinder, dann hilft es nichts, also zurück.”

Und auch dieser Zug läuft zurück zu der Stätte, von der er gekommen ist und von der heute noch oft kommen wird.

So geht das weiter und immer weiter, bis der Adjutant seinen Herrn daran erinnert, daß auch heute der Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, und daß es deshalb Zeit wird, zu dem Parademarsch in Kom­pagnie­fronten überzugehen.

Die Herren Hauptleute, die bis dahin sehr groß waren und jeden ihrer Leutnants, der mit seinem Zuge zurückgeschickt wurde, auch ihrerseits noch ganz gehörig anschnauzten, werden nun mit einemmal sehr klein, denn bei dem Parademarsch in Kompagnie­fronten sind sie nun diejenigen, die nach menschlichem und göttlichem Ermessen etwas auf den Helm bekommen werden.

Die Hauptleute sind einzig und allein dafür verantwortlich, daß jeder ihrer 120 Kerls einen tadellosen Parademarsch macht, außerdem aber fällt ihnen die schwierige Aufgabe zu, genau vor der Mitte ihrer Kompagnie vorbeizureiten.

Es sei an dieser Stelle lobend anerkannt, daß das Reglement nicht auch den Hauptman npferden vorschreibt, bei dem Parademarsch den Kopf rechts zu nehmen. Nein, das verlangt man nicht von den Tieren, wohl aber muß der Hauptmann selbst nach rechts sehen und trotzdem er also gar nicht sieht und es auch nicht sehen kann, wohin sein Pferd geht, ist er doch dafür verantwortlich, daß er genau vor der Mitte der Abteilung bleibt.

Die erste Kompganie des ersten Bataillons rückt heran, und vor der ersten Kompagnie reitet nicht nur der Herr Hauptmann, sondern es reiten da auch der Herr Major und der Bataillonsadjutant. Zuerst reiten alle drei friedlich zusammen, d.h. was man so friedlich nennt. Der Major schilt auf den Adjutanten, dessen Pferd sich vordrängt, und der Hauptmann flucht über das Roß des Majors, das einen so langsamen Schritt geht, daß er beinahe von hinten in das vorgesetzte Pferd hineinreiten muß, um mit dem Hinterteil des eigenen Gaules nicht in die hinter ihm marschierende Kompagnie hinein zu geraten.

Dann aber kommt mit einemmal die Teilung Polens. Der Adjutant galoppiert links heraus und hält neben der Musik, vorausgesetzt, daß sein Gaul nicht mit ihm in die Musik hineingeht, der Herr Major reitet rechts heraus auf die linke Seite des Herrn Oberst, vorausgesetzt, daß er den nicht umreitet und nur der Herr Hauptmann bleibt da, wo er ist, und reitet weiter geradeaus, vorausgesetzt, daß seinem Gaul das Alleinsein nicht zu langweilig wird und daß er nicht Anstalten macht, dem Pferd des Herrn Major oder dem des Adjutanten zu folgen.

Und welchem er folgen will, kommt auf die Freundschaft an, die die Gäule im Laufe der Dienstzeit miteinander geschlossen haben.

Das Pferd des Königlich Preußischen Hauptmanns der Königlich Preußischen ersten Kompagnie ist aber mit den beiden Gäulen, die da eben von ihm Abschied nahmen, in gleicher Weise befreundet. Daß die Minna sich zur Rechten wendet, ist ihm ebenso schmerzlich, wie Lottes Abschied zur Linken. Am liebsten möchte es sich teilen und mit seiner einen Hälfte nach rechts und mit der anderen nach links laufen, aber da das nicht geht, sucht er die zu erhaschen, die ihm vorläufig noch am nächsten ist. Das ist die Minna, denn ein Major reitet einen langsameren Galopp als ein Adjutant. Aber der Hauptmann merkt, wohin sein Gaul will, er gibt ihm den rechten Sporen und den rechten Schenkel und drückt ihn nach links. Das ist dem Schinder auch recht, denn nun nähert er sich seiner Freundin Lotte. Aber in der Sehnsucht seines Herzens hat er sich ihr zu weit genähert, er bekommt den linken Sporen und den linken Schenkel, und mit leiser, aber zornbebender Stimme ruft sein Hauptmann ihm zu: „Verfluchtes Luder – geradeaus sollst du gehen!”

Verfluchtes Luder!

Auch ein Hauptmannsgaul hat seinen Ehrgeiz und läßt sich nicht so beschimpfen, das Wort „Luder” kränkt ihn, er will und darf das Wort nicht auf sich sitzen lassen, das ist er sich selbst und der Stellung schuldig, die er als das Pferd der ersten Kompagnie einnimmt. Und plötzlich bleibt er stehen und schüttelt sich wie ein Jagdhund, der Prügel bekommen hat. Erst muß der ihm angetane Schimpf herunter, dann kann der Parademarsch weiter gehen.

Da hört der Gaul plötzlich neben sich etwas zur Erde fallen, und als er neugierig den Kopf zur Seite wendet, sieht er seinen Hauptmann da liegen. Gutmütig, wie er ist, tut ihm das aufrichtig leid, denn das war nicht seine Absicht. Aber schließlich kann er ja nichts dafür, daß sein Herr nicht fester im Sattel sitzt.

„Sehr hübsch, Herr Hauptmann, wirklich sehr hübsch,” ruft der Oberst voller Ironie, aber gleich darauf flucht er wie toll: „Himmel­kreuz­donnerwetter, Herr Hauptmann, machen Sie doch wenigstens die Front für die andere Kompagnie frei.”

Der Hauptmann liegt noch auf der Erde. Wenn er sich auch Gott sei Dank keine edlen Organe verletzte, so hat er sich doch ganz niedertröchtig auf seine vier Buchstaben gesetzt, und er sitzt nun da mit einem Gesicht, das an das bekannte Bild „Vom Himmel gefallen” erinnert. Wie man es da dem kleinen Kind deutlich anmerkt, daß es absolut nicht weiß, wie es auf die Berghöhe gekommen ist, so verraten die Züge des Hauptmanns deutlich, daß er absolut nicht weiß, warum er nun plötzlich auf der Erde sitzt.

Der älteste Leutnant kommandiert für die ganze Kompagnie „Zurück, Marsch, Marsch!” und die Leute eilen zurück nach der Stätte, von der sie gekommen sind und von der sie heute noch oft kommen werden.

Unschlüssig steht der Gaul noch einen Augenblick da und sieht sich nach seinem Herrn um. Der reibt sich immer noch die Stelle, auf der der Mensch sitzt, wenn er sich daraufgesetzt hat, er macht noch gar keine Anstalten, wieder aufzustehen.

„Front frei!” donnert da der Herr Oberst zum zweitenmal.

Der Gaul weiß, jetzt wird es Zeit, dem Befehl nachzukommen, denn bei dem drittenmal kann er Wunder erleben. So wendet er sich denn zur Linken und jagt in einem weiten Bogen und in wilden Galoppsprüngen zurück zu der Stätte, von der er gekommen ist und von der er heute noch oft kommen wird. Und langsam erhebt sich jetzt auch der Hauptmann und läuft, so gut es geht, hinter seinem Pferde her.

Unterdessen naht in einem Abstand von 21 Schritt die zweite Kompagnie. Der Hauptmann hat es mit angesehen, wie sein Vorgänger sich blamierte, das soll ihm nicht passieren. Sein Gaul kann stehen bleiben und sich schütteln, so viel er will, er bleibt oben, und dafür, daß sein Pferd nicht stehen bleibt, wird er schon sorgen. Er nimmt den Gaul ordentlich an die Zügel und treibt ihn mit Schenkel und Sporen vorwärts. Er kennt sein Pferd, das hat einen langen, ruhigen Schritt, aber jetzt geht es trotz aller Hilfen in einem Tempo, das immer langsamer wird.

Und das hat seinen guten Grund: Der Gaul muß mal Wasser lassen, er mußte es eigentlich schon vorhin, als sie antraten, aber mit seinem Pferdeverstand dachte er, er würde es schon noch aushalten können, bis er auf der anderen Seite angelangt wäre. Aber nun merkt er, daß es doch nicht geht, er fühlt, daß er sich naß machen wird, wenn er noch länger zögert, und das will er nicht, dazu ist er zu gut erzogen.

Allerdings, sein Reiter tut ihm ja leid, aber auf der anderen Seite hat er so oft geduldig auf den gewartet, wenn der mal ein menschliches Bedürfnis hatte, und wie oft hatte er ihn nicht zu diesem Zweck in eine stille, verschwiegene Ecke getragen. Warum soll sein Hauptmann nun nicht auch einmal auf ihn warten?

Es geht wirklich nicht länger, der Gaul fühlt, daß ihm beinahe die Blase springt, so bleibt er denn stehen und gleich darauf plätschert das Wasser zur Erde.

„Verfluchtes Schwein!” ruft der Reiter seinem Gaul zu, aber der regt sich darüber nicht auf und läßt sich auch weiter nicht stören. Er denkt an das alte Wort: Wenn man muß, dann muß man müssen. Er bleibt ruhig stehen, aber unwillkürlich bleibt die heranrückende Kompagnie auch stehen. Die Leute wagen es nicht, näher an den Gaul heranzugehen, und um ihn herum marschieren dürfen sie auch nicht.

Da ertönt auch schon die Stimme des Hernn Oberst: „Zurück, Marsch, Marsch!” und die Leute eilen zurück nach der Stätte, von der sie gekommen sind und von der sie heute noch oft kommen werden.

Nur der Hauptmann bleibt noch da, wo er ist. Mit einem dunkelroten Kopf sitzt er auf seinem Gaul und wartet, bis das Plätschern unter ihm endlich aufhört, dann reitet er zurück.

Unterdessen naht die dritte Kompagnie. Der Hauptmann hat gesehen, wie seine beiden Vorgänger sich blamierten, das soll ihm nicht passieren. Und wenn sein Gaul sich noch so schüttelt und wenn er die Bedürfnisse der ganzen Welt hat, stehen bleiben tut er trotzdem nicht, dafür wird er schon sorgen. So nimmt er denn den Rappen ordentlich an die Zügel, legt die Schenkel an und gibt ihm die Sporen, nicht einmal, sondern fortwährend, immer im Takt mit der großen Trommel.

Der Rappe ist sonst ein gutmütiges Tier, das sich für seinen guten Hafer viel gefallen läßt, aber diese verfluchten, gänzlich unverdienten Sporenstiche machen ihn wütend.

Wann wird denn diese Quälerei endlich aufhören? fragt er sich, und da die Pferde manchmal gar nicht so dumm sind, wie ihre Reiter aussehen, beantwortet er sich seine Frage selbst dahin, daß er sich sagt: Sobald du bei dem Oberst vorüber bist, hast du ausgelitten.

So beschließt er denn, seine Passionszeit zu verkürzen. Die Entfernung ist nicht mehr sehr groß, aber je schneller er sie zurücklegt, desto besser ist es für ihn.

Und ehe der Hauptmann weiß, wie ihm geschieht, legt der Rappe die Ohren an und stürmt im rasenden Galopp mit ihm davon, immer geradeaus, bis er zwanzig Schritte hinter dem Herrn Oberst seine Schritte wieder von selbst verlangsamt.

Die Kompagnie aber, die jetzt ohne ihren Herrn Hauptmann dahin marschiert, wird natürlich auch nach der Stätte zurückgeschickt, von der sie kam und von der sie heute noch oft kommen wird.

Der Herr Oberst ist der Verzweiflung und dem Selbstmord nahe. Wenn so etwas bei der Besichtigung passiert! Am liebsten würde er natürlich schon vorher die Hauptleute zur Verabschiedung eingeben – daß er es hinterher tun wird, ist in diesem Augenblick der Erregung seine gewissenhafte Überzeugung – aber das geht doch nicht, die Hauptleute müssen ihre Kompagnien stellen, schon damit jemand da ist, der den wohlverdienten Rüffel in Empfang nehmen kann, wenn etwas nicht klappt. Und daß nicht nur etwas, sondern sogar sehr viel nicht klappen wird, ist doch klar.

„Die Herren Hauptleute!” befiehlt der Oberst. Gleich darauf sind die zwölf Herren um den Vorgesetzten versammelt, und der hält ihnen eine lange Rede: „Meine Herren, so geht das nicht, so geht es absolut nicht!” Und er schüttet sein Herz aus.

Was du da sagst, ist ja alles sehr gut und sehr schön, denken die Häuptlinge, aber du solltest das lieber unseren Pferden erzählen, die sind doch einzig und allein an dem ganzen Unglück schuld. Na, hoffentlich gehen deine Worte an unseren Gäulen nicht spurlos vorüber.

Aber die kümmern sich den Teufel um das, was der Oberst da sagt. Die kauen in Gedanken nochmals den schönen Hafer, den sie am Morgen bekamen und zum Zeichen, daß es ihnen gut geht und daß ihre Verdauung die allerbeste ist, lassen sie von Zeit zu Zeit einen Apfel zur Erde niederfallen.

Und ohne daß sie es wollen, geben sie damit eine Kritik der Kritik.

Gleich darauf nimmt der Parademarsch seinen Fortgang, und in die Pferde scheint ein guter Geist gefahren zu sein, brav und tugendhaft trotten sie im Schritt dahin, dafür sind es jetzt die Kerls, die nichts wie Dummheiten machen: Der Meyer in der ersten Kompagnie hat keinen Tritt, der Müller in der zweiten sieht nicht nach rechts, und der Schulze in der dritten – zu glauben ist es überhaupt nicht, aber wahr ist es doch! – der Himmelhund hält den rechten Arm fest an den Körper gepreßt, anstatt ihn frei, natürlich und gänzlich ungezwungen in der Luft schlenkern zu lassen.

Selbstverständlich ist auch diese gänzlich ungezwungene und natürliche Bewegung des rechten Armes genau vorgeschrieben, die rechte Hand muß sich in der Richtung nach der rechten Patronentasche bewegen und der Arm selbst muß im Ellbogengelenk einen stumpfen Winkel bilden.

Vorgeschrieben ist beim Militär alles, auch das geringste. Trotzdem oder gerade deshalb liegt aber den Erziehern die schwere Pflicht ob, ihre Untertanen zu selbständig denkenden und selbständig handelnden Menschen zu machen.

Der Gebildete nennt das eine contradictio in adjecto – der Ungebildete aber sagt Quatsch. Und recht haben sie beide.

Die Hauptsache ist bei dem Parademarsch, abgesehen von allen anderen Hauptsachen, deren es ungefähr ein Dutzend gibt, die Richtung.

Ich sehe meinen alten Major noch vor mir, der uns in die Geheimnisse der Richtung einweihen wollte: „ Meine Herren, die Richtung! Es gibt auf der ganzen Welt nur eine Richtung, und das ist die Richtung. Wenn die Richtung nicht da ist, dann ist es mit der Richtung vorbei, und das darf nicht sein, denn die Richtung ist die Richtung, und danach bitte richten Sie sich.”

Wenn nun einer noch nicht weiß, was die Richtung ist, dann ist ihm nicht zu helfen.

In einer schnurgeraden Linie muß der Truppenteil vorbeikommen, kein Bauch, keine Nasenspitze, keine Schulter darf vorstehen, keine zurückbleiben, und das ist natürlich um so schwieriger, je länger die Front ist. Zwanzig Leute können leichter eine gerade Linie bilden, als hundert.

Das sieht jedes Kind ein, aber nur die Vorgesetzten sehen es nicht ein; nicht etwa, weil es ihnen an der nötigen Begabung fehlt, sondern ganz einfach, weil sie es nicht einsehen dürfen, um ihre Untergebenen nicht etwa auf Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die sie vielleicht selbst noch gar nicht einmal bemerkt haben.

Die Richtung muß tadellos sein. Se. Exzellenz wünscht es, der Herr Oberst befiehlt es, der Herr Hauptmann sperrt jeden Mann drei Tage ein, der dagegen verstößt.

Aber die Richtung stimmt trotzdem nicht – sie ist gut, aber sie könnte noch besser sein. Es ist immer noch ein ganz kleiner Bogen in der Linie, er ist so klein, daß man ihn kaum sieht, aber der Herr Oberst sieht ihn natürlich trotzdem, obgleich er ihn in Wirklichkeit natürlich nicht sieht. Aber er muß ihn trotzdem sehen, denn sonst wäre die Richtung ja tadellos, und das darf sie jetzt noch nicht sein, das kommt erst bei der Besichtigung, da soll sie es wenigstens sein, und gerade deshalb ist sie es meistens nicht.

Eine Kompagnie nach der anderen wird zurückgeschickt, und es geht so weiter, bis der Adjutant den Herrn Oberst daran erinnert, daß der Tag auch heute nur 24 Stunden hat, und daß es deshalb wohl Zeit wird, zu dem Parademarsch in der Regimentskolonne überzugehen.

Sonne, stehe still im Tale Gideon! Der Herr Oberst hat soeben seinen Säbel gezogen und übernimmt das Kommando in höchsteigener Person.

Der Parademarsch in der Regimentskolonne ist sehr beliebt, wenigstens bei den Kerlen, denn er wirbelt meistens solche Staubmassen auf, daß man gar nicht sehen kann, ob er gut oder schlecht war, und bei dem großen Heerhaufen ist es nicht festzustellen, wer in den einzelnen Kompagnien die Richtung verdarb.

Der Herr Oberst kommandiert: „Stillgestanden! Das Gewehr über! Regiment Marsch!”

Die Musik spielt den Pariser Einzugsmarsch, die Leute treten an, voran reitet der Herr Oberst.

Es ist noch niemand da, dem man sein Regiment vorführt, der soll erst in einigen Tagen kommen, vorläufig markiert ein Loch in der Luft die Stelle, an der Exzellenz später halten wird.

Aber das schadet nichts. Der Herr Oberst reitet an der Spitze seiner Truppe mit einem Gesicht, als wenn sämtliche Kaiser, Könige und Fürsten dieser Welt zugegen wären. Er richtet sich hoch im Sattel auf, er streckt die Brust heraus und läßt seine Augen in patriotischer Begeisterung und im jugendlichen Feuer leuchten. Das Schwert hat er auf den rechten Oberschenkel gestützt, genau senkrecht ragt die blanke Klinge zum Himmel empor.

Immer näher kommt er dem Luftloch, an dem später Se. Exzellenz halten wird.

Er richtet sich noch strammer empor, seine Augen leuchten noch jugendlicher, jetzt zittern seine langen Schnurrbartspitzen in patriotischer Begeisterung.

Und nun ist der große Augenblick da: Er salutiert mit dem Degen und grüßt das Luftloch, in dem später Se. Exzellenz halten wird.

Se. Exzellenz wird ihn später bei der Besichtigung heranrufen, das weiß er. So gibt er denn jetzt seinem Gaul den linken Sporen und den linken Schenkel und reitet in einer eleganten Volte um das Luftloch herum, in dem später Se. Exzellenz halten wird, bis er auf der linken Seite des vorläufig noch gar nicht anwesenden Vorgesetzten angekommen ist.

Dort beobachtet er den Vorbeimarsch seines Regiments. Stolz sitzt er im Sattel, seine Augen sprühen immer noch im jugendlichen Feuer, die Schnurr­bartspitzen zittern weiter, die Brust dehnt sich unter dem knappen Waffenrock, die Musik spielt, die Erde dröhnt unter den Schritten der heran­nahenden zwölf Kompagnien und er, er ist der Herrscher vons Ganze. Die tausend Mann da sind ihm untertänig und ebenso die Leutnants und Hauptleute. Ja, auch das militärische Leben der Stabsoffiziere ruht in seiner Hand. Wenn er nicht will, daß einer von ihnen nicht weiter avanciert, wenn er es den Höheren plausibel macht, daß der Herr Major oder der Herr Oberstleutnant keine Leuchte der Wissenschaft ist, dann: Adieu Sie, mein Herr! Suchen Sie sich ein anderes Reich, die Armee ist für Sie zu klein, wir haben keinen Platz mehr für Sie.

Es ist doch schön, Oberst und Regiments- kommandeur zu sein, und wenn die anderen nachher den langen Weg zur Kaserne Schritt für Schritt zurücklegen, dann jagt er im Caracho mit seinem Adjutanten ins Kasino und wenn den Kerls und den Herren Kerls, den Offizieren, der leere Magen bis zu den Kniekehlen herabhängt, dann läßt er sich das Frühstück schon gut schmecken und kokettiert mit der Importzigarre, die bereits vor ihm liegt und die ihm hinterher das Mahl würzen soll.

„Bravo, Bravo!” lobt jetzt die Stimme des Herrn Oberst. Der Parademarsch ist wirklich gut, aber er könnte natürlich noch besser sein. Das aber gibt der Herr Oberst nicht zu, denn er hat das Regiment angeführt, da muß es ihm doch Ehre machen, sonst ist er ja selbst blamiert. Und wenn er das ganze Regiment zurückschickt, dann muß er sich ja auch zurückschicken, und das gibt es nicht. Anderen kann und muß er das Zeugnis ausstellen, ihre Sache schlecht gemacht zu haben, sich aber darf er nur loben.

Und das tut er, indem er seine Untergebenen lobt.

Und weil er seine Untergebenen aus gewissenhafter Überzeugung, wie er das nennt, wirklich loben konnte, hört der Herr Oberst für heute mit dem Parade­marsch­üben auf. Aber nur für heute, nicht für immer. Morgen um dieselbe Stunde steht das Regiment wieder auf demselben Platz, die Musik spielt im Tempo von hundertvierzehn Schritt in der Minute einen Marsch nach dem anderen, der große Kerl der ersten Kompagnie stöhnt unter der Last des schweren Schellenbaumes, und dann beginnt der Parademarsch vorn neuem. Mit dem Vorbeimarsch in Zügen fängt es an, mit dem Parademarsch in der Regiments­kolonne hört es wieder auf, aber nicht für immer, sondern nur bis zum nächsten Tag, und so geht es weiter, bis Exzellenz fort ist.

Und dann geht es wieder von vorne los, denn die hohen Vorgesetzten, die zur Besichtigung kommen, lösen sich ab, wie die Posten vor dem Schilderhause.


Seine Excellenz der neue kommandierende Herr General, der erst vor kurzer Zeit den Befehl über das Armeekorps übernahm, hat sein Erscheinen für die nächste Woche angemeldet – Excellenz will das in der kleinen Stadt garnisonierende Infanterie-Regiment „beaugenscheinigen”.

„Excellenz kommt!”

Mit der Geschwindigkeit eines elektrischen Funkens, der durch die Welt saust, verbreitet sich die Kunde, und selbst die Nachricht „Die Pest ist da!” könnte keine größere Erregung, keinen größeren Schrecken hervorrufen, als das Wort „Excellenz kommt!”

Die Gemüter fangen an zu zittern und unruhig zu werden.

Man kennt seine Excellenz nur dem Renommee nach, und der Ruf, der ihm vorangeht, ist nicht der beste – ach nein, im Gegenteil! Excellenz hat den Vorzug, ein Schwabe, ein Württemberger zu sein, und man erzählt sich, daß er die diesem biederen Volksstamm eigene Offenherzigkeit und Geradheit des Ausdrucks im höchsten Maße besitzt.

Excellenz soll von einer Grobheit sein, die alles bisher ante und post Christum natum Dagewesene in den Schatten stellt, und so macht man sich denn auf Verschiedenes gefaßt. Der Herr Oberst ist weise genug, sich zu allem bereit zu machen, denn man kann doch nie wissen, wie eine Besichtigung endet. Er schickt seine Civilanzüge zum Schneider, läßt sie reinigen und aufbügeln und überzeugt sich durch einen Blick in die Hutschachtel davon, daß es seinem Cylinder, den er sich als junger Leutnant einmal kaufte, noch gut geht. Er bittet seine Frau, nachzusehen, ob an den Plätthemden, die er nur in Civil auf Urlaub zu tragen pflegt, auch keine Knöpfe fehlen und erläßt dann den Befehl zu einer Offiziersversammlung.

„Meine Herren,” spricht er mit erhobener Stimme, „wie Ihnen vielleicht schon allen bekannt sein wird, werden wir in der nächsten Woche die große Freude haben, Seine Excellenz, den kommandierenden Herrn General, bei uns zu sehen. – Meine Herren, das ist für uns eine große Auszeichnung, und ich bin fest davon überzeugt, daß Sie sich mit mir freuen, Excellenz hier begrüßen zu dürfen.”

Ein junger Leutnant hat während dieser Rede seinen vor ihm stehenden Kameraden in eine gewisse Körperstelle gekniffen und der dreht sich nun unwillig um: „Laß doch den Blödsinn!”

Er wollte die Worte leise, ganz leise sagen; aber das Wort „Blödsinn” spricht er so laut, daß selbst der Herr Oberst es hört und es natürgemäß als die Kritik eines Untergebenen auffassem muß.

„Recht hat der Leutnant ja,” denkt der Kommandeur, „Blödsinn war es ja, was ich redete, aber ich kann ja schließlich nichts dafür – ich muß doch schließlich so thun, als wenn ich mich freue. Eigentlich verdiente der Offizier, daß ich ihn drei Tage einsperrte – weiser aber ist es vielleicht zu thun, als hätte ich das Wort 'Blödsinn' gar nicht gehört.”

Er schweigt einen Augenblick, dann fährt er fort:

„Meine Herren, Sie wissen, oder vielleicht wissen Sie es auch nicht – und ob Sie es wissen oder ob Sie es auch nicht wissen, das ist ja schließlich ganz egal, die Hauptsache ist, daß ich es weiß, und ich weiß es.”

Der Oberst ist klug genug zu wissen, daß er in diesem Augenblick „Kohl” geredet hatte, und unwillkürlich horchte er, ob nicht wieder das Wort „Blödsinn” an sein Ohr schlägt – aber er hört nichts, es herrscht Ruhe im Lande und Schweigen bei seinen Unterthanen.

Das merkt der Oberst mit Freuden und er denkt: „Wer es nur versteht, der kann den Menschen, wenigstens seinen Untergebenen, alles, alles bieten,” dann fährt er laut fort:

„Meine Herren, um mich also kurz zu fassen und um nun endlich zu sagen, was ich sagen wollte – was war es doch noch gleich?”

Der Oberst senkt sinnend sein Haupt und der Oberstleutnant kommt ihm zu Hilfe: „Der Herr Oberst wollten die Güte haben, uns zu sagen, was der Herr Oberst wüßten, was wir aber nach der Ansicht des Herrn Oberst nicht wüßten.”

Der Kommandeur macht ein Gesicht, das da zu sagen scheint: „Mein lieber Freund, wenn ich Euch alles sagen wollte, was ich weiß, was Ihr aber nicht wißt, würde ich in acht Tagen nicht fertig werden, denn das Wissen eines Obersten ist nicht mit wenigen Worten abgethan,” dann aber sagt er:

„Aha, richtig, jetzt weiß ich! Meine Herren, es ist mir bekannt geworden, und Seine Excellenz hat die Güte gehabt, es mir auch zu schreiben, daß Excellenz den allergrößten Wert auf den Parademarsch legt. Excellenz ist der durchaus richtigen Ansicht – wenn ich mir überhaupt erlauben darf, über die Ansicht Seiner Excellenz eine Meinung zu haben –, daß man an dem Parademarsch einer Truppe am besten die in dem Regiment herrschende Strammheit erkennen kann, und darum, meine Herren, werden wir von jetzt an bis zum Eintreffen Seiner Excellenz täglich Parademarsch üben.”

Als die Beine der Herren Leutnants diese entsetzlichen Worte hören, knicken sie vor Entsetzen ein und am liebsten würden sie ihren Abschied nehmen und sich pensionieren lassen – aber das geht nicht, sie sind noch zu jung, sie müssen noch weiter dienen.

Am nächsten Morgen steht das Regiment auf dem großen Exerzierplatz, der eine Stunde außerhalb der Stadt liegt, zum Parademarsch üben. Es hat alles antreten müssen, was nur irgendwie zwei gesunde Beine hat – darauf, daß sie auch gerade sind, kommt es beim Militär nicht an. Teilweise stecken entsetzlich krumme Knochen in den Kommißhosen, in denen schon so mancher brave Krieger den Parademarsch übte und auch in Zukunft noch üben wird, denn Sparsamkeit erhält das Haus und noch fiskalischer als der Fiskus, der verwünschte, ist das Militär.

Alles ist zur Stelle, das Federvieh, die Spielleute und die Regimentsmusik. Sogar der große Schellenbaum, der fast anderthalb Zentner wiegt, ist herausgekommen – aber er hat es sich bequem gemacht, er hat sich heraustragen lassen und sich nicht weiter darüber aufgeregt, daß der Musketier der ersten Kompagnie, dem seiner Körperkräfte wegen die Auszeichnung zu teil wurde, ihn tragen zu dürfen, ihn bei jedem Schritt zum Teufel wünscht.

Zwei Stunden lang übt man Parademarsch – in Gliedern, in Zügen, in Kompagniefront und in der Regimentskolonne. Die Musik kann nicht mehr blasen, der Mann, der die große Trommel schlägt, kann den rechten Arm nicht mehr bewegen, die Leute haben dicke Kniee und die Herren Leutnants geschwollene Füße – aber das hilft alles nichts.

„Üb' immer den Parademarsch
Bis an dein kühles Grab
Und weiche keinen Finger breit
Aus deiner Richtung ab.”

Nach zwei Stunden wollte der Oberst eigentlich aufhören – aber er hört natürlich nicht auf, denn auch er übt den Parademarsch für seine eigene Person.

Eine in die Erde gesteckte Bohnenstange vertritt den kommandierenden General.

Der Herr Oberst reitet mit seinem Etatsmäßigen und seinem Adjutanten, den gezogenen Säbel vorschriftsmäßig auf die rechte Lende stützend, in dem befohlenen Abstand vor der ersten Kompagnie.

Sobald er sich mit seinem Stabe dem in die Erde gesteckten Stock – Seiner Excellenz – nähert, salutiert er den Säbel und nimmt scharf „Augen rechts”. Er weiß, Excellenz liebt es, scharf angesehen zu werden.

In sausendem Schritt reitet der Herr Oberst die Bohnenstange scharf ansehend vorüber – dann aber setzt er durch den Druck seiner Schenkel seinen Rappen in Galopp, reitet rechts heraus, hinter „Seiner Excellenz” herum, und pariert sein Roß dann neben dem stellvertretenden hohen Vorgesetzten.

Und dabei ist es ihm passiert, daß er „Seine Excellenz” schon zweimal umgeritten hat.

Wenn er die wirkliche Excellenz nur anreitet, ist er ein toter Mann, das weiß er – an das, was geschieht, wenn er sie umreitet, mag er gar nicht denken.

Daß der Gaul die Sporen bekommt und dafür bestraft wird, daß sein Reiter kein Reiter ist, bedarf, als selbstverständlich, nicht der besonderen Erwähnung.

Dieses Mal aber hat der Herr Oberst Glück gehabt, „Excellenz” ist stehen geblieben, und der Kommandeur hält nun neben dem hohen Vorgesetzten – er drängt sein Pferd ganz dicht an „Excellenz” heran, um kein Wort zu verlieren, das die Bohnenstange – ich meine Excellenz – zu ihm spricht. Er markiert eine lebhafte Unterhaltung – und als Excellenz ihn nun entläßt, will er mit einer eleganten Volte davonreiten. Er legt den linken Sporen hinter den Gurt, aber sein Roß ist kitzlich, es schlägt hinten aus und trifft den kommandierenden General so unglücklich, daß der hohe Herr nieder in den Sand fällt.

Mit Entsetzen sieht dies das Regiment, denn sie wissen alle: nun müssen wir noch einen Parademarsch machen.

Aber sie machen nicht nur noch einen, sie machen noch viele, und als das Regiment endlich totmüde nach Haus marschiert, weiß es ganz genau: morgen früh geht es wieder von neuem los.

Auf dem Kasernenhof befiehlt der Herr Oberst sämtliche Offiziere und Unteroffiziere zu sich und setzt ihnen in längerer Rede auseinander, daß das, was er heute morgen von dem Regiment gesehen habe, ihn in keiner Weise hätte befriedigen können.

„Was wir von dir sahen, befriedigte uns auch nicht,” denken die Untergebenen, aber im Gegensatz zu dem Vorgesetzten sind sie zu wohl erzogen, als daß sie ihre Ansicht frei und offen sagen. Oder sollte Furcht vor Strafe das Gehege ihrer Zähne, wie Homer sagt, verschließen?

„Der muß ganz, ganz anders werden,” schließt der Herr Oberst, „ich werde darüber nachdenken, wie ich Ihnen allen den Parademarsch beibringe!”

Und ein Oberst denkt nicht vergebens nach – schon nach einundzwanzig Stunden ist ihm – ohne daß ihm dabei ein anderer als sein Adjutant geholfen hätte – etwas eingefallen.

Was er sich aber ausgedacht hat, erfahren die Beine seiner Untergebenen schon am nächsten Tag.

Die Leutnants erhalten Privatunterricht im Parademarsch durch den jüngsten Hauptmann, die Unteroffiziere durch die Adjutanten, die Mannschaften durch die Unteroffiziere.

In dem Exerzierschuppen marschieren jeden Mittag von zwölf bis ein Uhr die Leutnants mit gezogenem Säbel und sieben Schritt Abstand voneinander bei dem Hauptmann vorbei, und den Herren Leutnants ist es sehr unangenehm, sich hier Dinge sagen lassen zu müssen, die in dem Knigge nicht verzeichnet sind, und gar manchem, der sich auf seinen schneidigen Wuchs etwas einbildete, wird jetzt klargemacht, daß er krumm und schief und nicht frei von körperlichen Gebrechen ist.

Nicht besser ergeht es den Unteroffizieren, und was die an Liebenswürdigkeiten zu hören bekommen, geben sie mit Zins und Zinseszinsen an ihre Leute weiter.

Und die Folge dieser Dressur ist, daß ein vollständiger Parademarsch-Wahnsinn die Beine der Mannschaften ergreift – wohin sie gehen, sie gehen nur noch im Parademarsch. Im Parademarsch marschieren sie abends zu Bett, und wenn sie am nächsten Morgen aufgestanden sind, marschieren sie im Parademarsch zu den Waschtischen, um sich dort zwar nicht mit Öl, wohl aber mit Hirschtalg zu salben, denn die Knochen gehen dabei entzwei.

Zwei Leute liegen sogar mit entzwei geschlagenen Köpfen im Lazarett: der eine hat versucht, im strammsten Paradeschritt, mit durchgedrückten Knieen und auswärts genommenen Fußspitzen die Treppe in der Kaserne hinunterzugehen, und der andere wollte im Parademarsch die Treppe hinaufgehen.

Beide schlugen der Länge nach hin – der eine vorneüber, der andere hintenüber, und zu spät sehen sie ein, daß man selbst von Soldatenbeinen nicht Unmögliches verlangen kann.

Tag für Tag rückt das Regiment nach dem großen Exerzierplatz, und mit Stolz und Befriedigung sieht der Herr Oberst, daß der Parademarsch immer besser und besser wird, er ist wirklich ausgezeichnet, und eine Steigerung erscheint ausgeschlossen.

Die Truppe kann sich sehen lassen und der Herr Oberst auch. Seitdem er sich stumpfe Sporen an seine Stiefel hat schlagen lassen, ist sein Pferd plötzlich nicht mehr kitzlich und „Excellenz” ist in den letzten Tagen nicht mehr umgeritten worden.

Die wirkliche Excellenz mag nur kommen.

Und sie kommt.

Am Abend vor der Besichtigung trifft der Herr General schon ein und steigt in dem ersten Hotel ab, vor dem ein Doppelposten auf- und abgeht, um aufzupassen, daß Excellenz über Nacht nicht gestohlen wird.

Es wäre ja auch schade um ihn – schade auch für den schönen Parademarsch, den man so fleißig übte und für den man nun morgen hohes Lob ernten will.

Gefolgt von sämtlichen Stabsoffizieren und Hauptleuten erscheint der Herr Oberst in dem Hotel, um den hohen Gast zu begrüßen und um ihm seine Gesellschaft und die der anderen Herrn für den Abend anzubieten.

Aber Excellenz lehnt ab: „Thun Sie mir den einzigen Gefallen und machen Sie, daß Sie nach Haus kommen – ich bin müde und will schlafen!”

Gefolgt von sämtlichen Stabsoffizieren und Hauptleuten marschiert der Herr Oberst wieder ab – allzu groß ist seine Freude nicht über den herzlichen Empfang, der ihm zu teil geworden ist, und auch die anderen Herren sind der Ansicht, daß Excellenz sich gar nicht klarer und präziser, wohl aber etwas höflicher hätte ausdrücken können.

Allen graut vor dem morgigen Tag, und sie hoffen und wünschen, daß die Welt untergehen oder der Exerzierplatz abbrennen möge.

Aber nichts von beiden geschieht, und der Not gehorchend, wahrlich nicht dem eigenen Triebe, rücken am nächsten Morgen die Offiziere mit ihren Leuten nach dem Exerzierplatz: aber eine Freude beseelt doch alle, sie wissen, heute ist es für lange Zeit das letzte Mal.

Der kommandierende Herr General hat dem Herrn Oberst ein schriftlich ausgearbeitetes „ Vergnügungsprogramm”, nach dem sich die Besichtigung abspielen soll, zugehen lassen, und so steht denn das Regiment, als Excellenz auf dem großen Platz ankommt, schon zum Parademarsch bereit.

Der Regimentsadjutant galoppiert dem Herrn General entgegen und geleitet ihn zu der Stelle, wo bisher der Vertreter Seiner Excellenz gestanden hatte – die Bohnenstange, die ihre Schuldigkeit gethan hat, liegt zerbrochen an der Erde.

Sobald der Kommandierende an der richtigen Stelle hält, nimmt der Parademarsch in Zügen seinen Anfang.

Die Spielleute schlagen das Locken, die Regimentsmusik setzt mit einem Armeemarsch ein, der Oberst sprengt an die linke Seite des Generals und mit zweiundzwanzig Schritt Abstand marschieren die Züge vorbei.

Dem Oberst lacht das Herz vor Freude im Leibe, als er sieht, wie seine Kerls und seine Herren Kerls, die Leutnants, die Beine werfen.

Der letzte Zug ist vorüber – erwartungsvoll sieht der Oberst die Excellenz an, die aber sagt kein Wort, und der Kommandeur reitet davon, um den Parademarsch in Kompagniefronten in Scene zu setzen.

Auch dieser nimmt einen tadellosen Verlauf, und das Auge des Herrn Oberst kann sich nicht satt sehen an der Strammheit, mit der die Leute vorbeimarschieren.

Die letzte Kompagnie ist vorüber – erwartungsvoll sieht der Herr Oberst die Excellenz an, die aber sagt kein Wort, und der Kommandeur reitet davon, um den Parademarsch in der Regimentskolonne in Scene zu setzen und sein Regiment in eigener Person vorzuführen.

Jetzt wird es Ernst!

Mit einer energischen Handbewegung dreht der Herr Oberst seinen Schnurrbart in die Höhe, reckt die Brust heraus und streicht den Rock glatt.

Die Fahnen mit den beiden jüngsten Offizieren treten vor die Mitte des Regiments – die Musik spielt den Preußenmarsch – dann das Kommando „frei – weg”, und die Beine himmelhoch werfend, marschiert das geschlossene Regiment vorüber.

Die Hauptleute, die der Anciennität nach in einer Linie hinter der letzten Kompagnie reiten, sind vorüber – erwartungsvoll sieht der Herr Oberst die Excellenz an, die aber sagt kein Wort, und der Kommandeur schickt sich an, den nächsten Teil des Programms in Scene zu setzen.

Aber als er sein Pferd wenden will, um davon zu reiten, hält ihn der Kommandierende mit der Frage zurück: „Aber Sie wollten mir doch zuerst den Parademarsch zeigen, Herr Oberst? Fangen Sie bald an?”

Der Kommandeur ist starr, sprachlos, und wenn ihm das wieder Aufsteigen nicht zu unbequem wäre, würde er am liebsten vom Pferde fallen. Er sieht den Vorgesetzten mit stieren Blicken an – hat der denn die ganze letzte halbe Stunde geschlafen, hat der denn nichts gesehen von dem, was sich vor seinen Augen abspielte, nichts gehört von der Musik, die einen Parademarschnach dem anderen spielte? Ist den der Kommandierende – mit Erlaubnis zu denken – über Nacht verrückt geworden?

Die Excellenz sieht den Herrn Oberst erwartungsvoll an – der aber schweigt, er weiß nicht, was er sagen soll.

„Excellenz,” stottert er endlich, „das, was ich Euer Excellenz soeben gezeigt habe, war doch der Parademarsch!”

Mit großen verwunderten Augen sieht der Vorgesetzte den Untergebenen an, dann sagt Excellenz im reinen württembergischen Dialekt: „So? des wer des Parademärschle? Ersch kam e Haufe Spielleit un de Musik vorbeigetrollt und bliese so ebbe ähnlich's wie e Marsch un dahinnen kam e Masse Volk – daß se Uniform trug, macht se noch nich zum Soldaten. Des wer also des Parademärschle? Wisse Se, was i glaubt hab? I meint, des sei e Volksfescht.”

Da neigt der Oberst sein Haupt und ergiebt sich in sein Schicksal – er ist gerichtet – der Parade­marsch ward für ihn zum Totenmarsch.


Bei einem Parademarsch in Zügen oder in Kompagniefronten stehen diese zunächst dicht aufgeschlossen hintereinander. Sobald die vordere Abteilung antritt, fängt der rechte Flügelmann der hinteren Abteilung laut an zu zählen: vier, fünf, sechs und so weiter. Wenn er achtzehn ruft, kommandiert der Führer „Frei” und bei einundzwanzig ruft er „weg”, und auf dieses „Freiweg” marschieren die Leute dann los, dem Tode, nein, das ist nicht wahr, aber der Kritik entgegen.

Und eine Kritik ist oft noch mörderischer als der Tod.

In der Theorie ist das mit den zweiundzwanzig Schritt Abstand sehr schön und sehr gut, und wenn es klappt, dann klappt es auch. Aber in der Praxis gestaltet es sich leider manchmal anders.

Der Herr Oberst ist heute in höchsteigener Person draußen auf dem Exerzierplatz erschienen. Und gleichzeitig mit dem Herrn Oberst, der gänzlich unerwartet kommt, erscheint auch die Regimentsmusik unter Anführung ihres Dirigenten.

Der Oberst liest in den Gesichtern der berittenen Offiziere den Schrecken, den die Ankunft der Kapelle hervorruft, und er beeilt sich, die Gemüter wieder zu beruhigen: „Fürchten Sie nichts, meine Herren, ich habe die Musik nur herausbestellt, um den Leuten auf dem Rückmarsch zur Kaserne eine Freude zu machen. Es marschiert sich bekanntlich nach den flotten Klängen der Musik tausendmal leichter, und auch die Leute in der Stadt freuen sich, wenn die Truppe mit klingendem Spiel durch die Straßen zieht.”

Die Untergebenen sahen sich verwundert an. Glaubt der Oberst wirklich selbst, was er da sagt? Möglich ist es ja immerhin, denn ein Vorgesetzter bringt die schwierigsten Sachen fertig. Sie selbst aber glauben von dem, was ihnen da vorgeredet wird, nicht einen Ton.

Und wie recht sie damit tun, wird ihnen klar, als der Kommandeur nach einer halben Stunde seine Offiziere wieder zu sich bittet: „Meine Herren, wie ich Ihnen vorhin schon sagte, war es ursprünglich keineswegs meine Absicht, und ich betone das Wort ,keineswegs’ ganz besonders; also ich meine: Nichts lag mir ferner, als heute Parademarsch üben zu lassen, aber da die Musik nun einmal da ist, und da ist sie ja, da meine ich, wozu ist sie eigentlich jetzt schon da, wenn wir uns das nicht zunutze machen wollen? Nicht wahr, meine Herren?”

Auf sogenannte rhetorische Fragen erwartet man selbst beim Zivil keine Antwort, beim Militär erwartet man sie aber selbst auf direkte nur in den allerseltensten Fällen, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie meistens ganz anders lauten würden, als sie lauten sollen.

Der Oberst liest in den Gesichtern seiner Offiziere ganz deutlich, daß diese meilenweit davon entfernt sind, ebenso zu denken, wie er, so sagt er denn jetzt: „Meine Herren, ich sehe es Ihnen an und merke es auch daraus, daß mir niemand widerspricht, daß sie völlig meiner Ansicht beistimmen. Dann wollen wir uns aber auch jetzt nicht länger unnötig aufhalten, sondern die kurze Zeit, die wir noch für den Parademarsch haben, gehörig ausnutzen. Für den Vorbeimarsch selbst möchte ich auch nur auf eins aufmerksam machen: Ich lege den allergrößten Wert darauf, daß der Abstand von zweiundzwanzig Schritt auf das allergenaueste innegehalten wird. Kein Schritt zu viel und noch weniger ein Schritt zu wenig, das bitte ich haarscharf zu beobachten.”

Gleich darauf baut sich das ganze Regiment zum Parademarsch auf.

Der Kapellmeister hebt den Taktstock, die Musik beginnt und die erste Kompagnie tritt an, der folgt die zweite, dieser die dritte und so geht das weiter.

Und wenn sie dran ist, wird auch die Königliche Zehnte antreten.

Vorläufig hat sie noch viel Zeit, aber trotzdem ist der Hauptmann schon jetzt sehr nervös und unruhig. Der ist ein wirklich tüchtiger Offizier, aber er hat den großen Fehler, sobald die Vorgesetzten in der Nähe sind, vollständig den Kopf zu verlieren.

Wenn er nachher nur den richtigen Abstand hält!

Die Angst wird er schon jetzt nicht los, und obgleich die vorderen Kompagnien noch gar nicht daran denken, anzutreten, und noch aus langer Weile die Daumen drehen, ruft der Hauptmann dem Offizier am rechten Flügel zu: „Daß Sie mir nachher ja ganz genau zählen, Herr Leutnant, und zwar so laut, daß ich es hier deutlich hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!” lautet die Antwort.

Für einen Augenblick ist der beruhigt, aber dann bekommt er es doch wieder mit der Angst. So ruft er denn dem rechten Flügelmann, der neben dem Leutnant steht, zu: „Hansen, zählen Sie nachher mit dem Herrn Leutnant zusammen, aber so laut, daß ich es hier hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Wieder ist der Vorgesetzte für einen Augenblick beruhigt, aber dann bekommt er es von neuem mit der Angst. Der Offizier am rechten Flügel ist noch sehr jung, wer weiß, ob er sich in einer so wichtigen Sache vollständig auf ihn verlassen kann? Und der rechte Flügelmann ist zwar ein bildhübscher Kerl, aber dumm wie Bohnenstroh. Der kann ganz sicher nicht bis zweiundzwanzig zählen.

So ruft er denn dem Offizier des mittleren Zuges zu: „Ach bitte, Herr Leutnant, zählen Sie doch nachher auch mit, und zwar so laut, daß ich es hier hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Aber auch diesmal hält die Ruhe des Vorgesetzten nicht lange an. Er hat dem Leutnant des mittleren Zuges gestern in gegebener Veranlassung seine Meinung sagen müssen. Wer kann wissen, ob der nicht noch beleidigt ist und um sich zu rächen, nachher nicht absichtlich aus Versehen falsch zählt.

So wendet er sich dann an den Flügelmann des Leutnants des mittleren Zuges: „Petersen, zählen Sie nachher auch, mit dem Herrn Leutnant zusammen, und zwar so laut, daß ich es deutlich hören kann.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Aber der Vorgesetzte ist immer noch nicht beruhigt, im Gegenteil, er wird um so aufgeregter, je näher der Augenblick heranrückt, in dem er selbst mit seiner Kompagnie antreten muß. Und so bestimmt er denn fortwährend einen Mann nach dem anderen, der mitzählen soll, bis er schließlich zwanzig und mehr zusammen hat.

Und der große Augenblick kommt immer näher und näher. Jetzt tritt die neuten Kompganie an, und in demselben Augenblick beginnt der Offizier am rechten Flügel zu zählen: „Vier, fünf, sechs, sieben.”

Der rechte Flügelmann der Kompagnie hatte gedöst und es gar nicht bemerkt, daß die neunte Kompagnie antritt. Als er es jetzt merkt, ist sie schon ein paar Schritte fort. Wieviel weiß er nicht, er schätzt es auf drei, und im Gegensatz zu seinem Leutnant zählt er ganz laut: „Sieben, acht, neun.”

„Es sind erst acht!” schnauzt der Offizier seinen Flügelmann an, aber während dieses Anschauzers hat die vordere Kompagnie wieder ein paar Schritte gemacht. Wieviel sind es? Der Leutnant ahnt es nicht, und auf gut Glück ruft er denn jetzt laut: „Elf, zwölf, dreizehn”

Der Leutnant des mittleren Zuges ist aber schon bei vierzehn, fünfzehn angekommen und sein Flügelmann wäre sicher ebenso weit, wenn er nicht plötzlich das Niesen bekommen hätte. Er hat es versucht, trotz des Niesens weiter zu zählen, aber die Zahlen sind ihm beim Niesen von hinten durch den Mund in die Nase gekommen. Nun weiß er nicht, wieviel Schritt inzwischen die neunte Kompagnie gemacht hat. Er hat dreimal geniest und dreimal geprustet, er rechnet für jedes einen Schritt, und ruft plötzlich ganz laut: „Achtzehn!”

Und das macht die anderen Leute irre, sie glauben plötzlich alle, sie hätten sich verzählt, und rufen mit einmal auch achtzehn, ohne daran zu denken, daß die vordere Kompagnie inzwischen weiter marschiert ist.

Der Hauptmann hört all die verschiedenen Zahlen, die ihm zugerufen werden, und ihm zittern vor Angst die Gebeine.

„Zum Donnerwetter, wieviel sind es denn nun?” ruft er zurück.

„Zwanzig — vierzehn — neunzehn — zweiundzwanzig!”

Und plötzlich ruft eine Stimme ganz laut „Vierundzwanzig!”

Und zweiundzwanzig Schritt Abstand soll er nur haben, es wird also die höchste Zeit, anzutreten.

„Frei weg” kommandiert er und gibt dann seinem Gaul die Sporen, um seinen Leuten voranzureiten.

Aber da dieses „Frei weg” nur ein Befehl und kein scharfes Kommando ist, treten die Kerls nicht gleichzeitg an — es ist kein Tritt in der Kolonne.

Der Leutnant des mittleren Zuges springt vor die Front und wirft seine Beine so hoch wie nur möglich in die Luft: „Tritt aufnehmen, Kerls, Tritt,” ruft er ihnen zu, „Links — links — links”.

Endlich haben die Kerls ihre Beine in Ordnung gebracht, aber um mit dem Leutnant des mittleren Zuges wieder auf gleiche Höhe zu kommen, haben sie alle ein paar Schritte vorlaufen müssen. Und kein Mensch ahnt, wie groß nun noch der Abstand von der vorderen Kompagnie ist.

Nur soviel sehen plötzlich alle, daß sie viel zu dicht heran sind.

Nur der Herr Hauptmann merkt es nicht, einmal, weil er viel zu aufgeregt ist, um überhaupt etwas zu merken, dann aber auch, weil er seinen Leuten voranreitet und naturgemäß im Rücken keine Augen hat.

„Herr Hauptmann, wir müssen kürzer treten!” ruft der Leutnant des mittleren Zuges, der direkt hinter dem Hauptmannspferd marschiert, dem Vorgesetzten zu.

Der Hauptmann dreht sich mit seinem Gaul erschrocken um: „Warum denn? Warum denn?”

Dann kommandiert er, als der Offizier ihn auf den zu nahen Abstand aufmerksam gemacht hat: „Kürzer treten!”

Jeder tritt kürzer, aber nicht zwei treten gleich kurz. Die Kerls am linken Flügel machen mit ihren kurzen Beinen, um selbst bei dem Kurztreten mit den langen Beinen am rechten Flügel im Einklang zu bleiben, zu lange Schritte und die Kerls am rechten Flügel treten mit Rücksicht auf die kurzen Beine der Leute am linken Flügel, um mit diesen auf gleicher Höhe zu bleiben, zu kurz, und plötzlich sieht die Sache so aus:

Der Hauptmann sieht es mit Entsetzen, der kalte Schweiß läuft ihm von der Stirn herunter und die Zunge klebt ihm am Gaumen.

Endlich aber bekommt er sie doch wieder frei. „Zum Donnerwetter! Der rechte Flügel freier weg, der linke Flügel muß viel kürzer treten.”

Und die Kerls tun, wie ihnen befohlen ist, und plötzlich sieht die Sache gerade umgekehrt aus, und zwar so:

Der rechte Flügel ist viel zu weit vor und der linke viel zu weit zurück.

Unterdessen ist die neunte Kompagnie ruhig weiter marschiert und kein Mensch der zehnten ahnt etwas davon, wie groß der Abstand inzwischen geworden ist.

Aber das ist ja auch ganz einerlei, erst muß die Richtung wieder hergestellt werden. Da kommt dem Hauptmann ein rettender Gedanke: So wird es am besten gehen.

„Der linke Flügel ganz schnell, die Mitte ganz kurz und der rechte Flügel noch viel kürzer treten!”

Die Kerls tun wie ihnen befohlen ist und plötzlich sind die beiden Flügel auch wirklich in gleicher Höhe, aber dafür ist die Mitte viel zu weit zurück und jetzt sieht die Sache so aus:

Jetzt gibt es nur noch eins, der rechte und der linke Flügel müssen stehen bleiben, und die Mitte muß sich darnach ausrichten.

Auch dieser Befehl wird ausgeführt.

Unterdessen marschiert die neunte Kompagnie nach den Klängen der Musik unentwegt weiter, aber der Abstand von der zehnten vergrößert sich mehr und mehr, und als diese nun endlich nicht mehr kurz tritt, sondern wieder „Frei weg” marschiert, kommt sie anstatt mit einundzwanzig Schritt mit siebenunddreißig Schritt Abstand vorüber.

„Sehr hübsch, Herr Hauptmann!” lobt der Oberst voller Ironie, „wirklich sehr hübsch, ich würde Ihnen raten, das bei der Besichtigung ebenso zu machen, da sind Ihre etwaigen Zweifel, ob Sie noch einmal Major werden oder nicht, sehr bald gelöst. Aber wissen möchte ich doch, warum Sie denn eigentlich haben kürzer treten lassen? Denken kann ich es mir allerdings auch so, Sie sind natürlich zu früh angetreten. Aber wenn Sie sich in dieser Hinsicht nicht auf Ihre Leute verlassen können, warum zählen Sie da nicht selbst?

Der Hauptmann schweigt und sieht den Obersten nicht nur völlig fassungslos, sondern wie ein höheres Wesen an: „Auf den Gedanken, daß er selbst bis einundzwanzig zählen könnte, ist er noch nie gekommen!”




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© Karlheinz Everts