Onkel Benjamin's Papagei.

Eine Weihnachtshumoreske von Graf Günther Rosenhagen.
in: „Deutsches Heim” Jahrgg. 1894/95 Seite 186-187,
(Sonntagsbeilage zur „Berliner Zeitung”), vom 23.12.1894,
in: „International Magazine, Tales from Foreign Tongues", Dec. 1896 — englische Übersetzung,
in: „Humoresken”,
in: „Humoresken und Erinnerungen”


Es war drei Tage vor Weihnachten, als in später Stunde an unserer Glocke gezogen wurde und Onkel Benjamin beschneit und vom Winde zerzaust bei uns eintrat.

„Kinnings, Kinnings, was ist das für ein Wetter!” sagte er pustend und stöhnend, waährend er sich seine schmutzigen Stiefeln auf unserem Läufer abtrat und den Schnee, unbekümmert um die auf dem Korridor hängenden Kleider, von sich abschüttelte: „Kinnings, Kinnings, Ihr müßt mir einen Grog brauen, ich störe Euch doch nicht?”

Nein, er störte nicht, soweit von einem Nichtstören so kurz vor dem Feste überhaupt die Rede sein konnte, und bald saß Onkel Benjamin an der Seite des wärmenden Ofens.

„Onkel Benjamin, mach einmal Deine Augen zu!” rief plötzlich meine Frau erschrocken, „Herr Gott, hier liegt Dein Weihnachtsgeschenk offen auf dem Tische, wie konnte ich das aber auch nur vergessen — bitte, bitte, sieh nicht her!”

Und er sah wirklich nicht hin, er kniff seine kleinen, fröhlichen Augen fest zu und wartete geduldig, bis er durch den Zuruf „Nun!” wieder sehend gemacht wurde.

„Kinnings, Kinnings, was Ihr nett seid,” sagte Onkel Benjamin — er sprach, wenn er sich recht behaglich fühlte, hoch- und plattdeutsch durcheinander, und der Stil war ihm dann ganz einerlei — „Kinnings, schenken wollt Ihr mir auch was, das ist brav von Euch Aber eine Liebe ist der anderen werth, dann muß ich Euch ja auch was schenken. Aber was? Ja, Kinnings, dat seggt mi man mal.”

Er stützte sinnend den dicken, runden Kopf auf die Hand und sah nachdenklich vor sich hin. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch: „Dunnerwetter, wenn ich man nur noch den Papagei hätte, dann wäre mir geholfen.”

„Den Papagei,” fragte ich erstaunt, „welchen Papagei?”

Onkel Benjamin sah mich lustig lachend an. „Kennt Ihr die Geschichte wirklich noch nicht, dann will ich sie Euch erzählen. Vorher aber bereitet mir noch einen Grog! Du bist ja ein belesener Mann, nun denk' mal an das, was Fritz Reuter sagte, als er gefragt wurde, was alles zu einem guten Grog gehöre. Weißt Du, was er sagte: „Immer noch een lütt Schuß Rum.”

Als das Getränk fertig war und Onkel Benjamin nach mehrmaligem(1) gewissenhaften Proben durch tiefes Grunzen seine volle Zufriedenheit geäußert hatte, begann er:

„Es sind nun schon mehrere Jahre her. Nach langem Hoffen und Harren und vielen Geheimnissen und Versteckenspielen vor einander war endlich der Weihnachtstag gekommen. Von auswärts, von den Verwandten und Freunden waren schon in den letzten Tagen Gaben in reicher Zahl eingelaufen, ja, selbst Leute, an die ich kaum gedacht, hatten mir schon am frühen Morgen eine Kleinigkeit gesandt, so daß ich wirklich ganz stolz und glücklich war und zu mir sagte: „Benjamin, Benjamin, Du mußt doch ein bannig netter Kerl sein, daß sie Dich alle so gerne leiden mögen.” Schon hatte ich mit Muttern — denn die lebte damals noch — alles genau besprochen, wie wir am Abend unter dem Tannenbaum jedes einzelne Stück aufbauen wollten — am Weihnachtsabend werden bekanntlich die vernünftigsten(2) Leute wieder zu Kindern — als ganz unerwartet noch ein Geschenk eintraf, und zwar von einem Menschen, von dem ich seit Jahr und Tag nichts gehört hatte, von meinem Freunde Karl aus Amerika. Wie der gute Kerl auf den Einfall kam, mir etwas zu schicken, ist mir unklar, ebensowenig kann ich begreifen, was den sonst im Allgemeinen ganz vernünftigen Menschen auf die verrückte Idee brachte, mir einen Papagei zu schenken, noch dazu ein Thier, das an Häßlichkeit alles bisher Dagewesene weit übertraf, mich sofort in den Finger biß und, kaum in Freiheit gesetzt, meinen Teppich beschmutzte. Ihr wißt, ich liebe keine Vögel, höchstens die gebratenen, vorausgesetzt, daß die Sauce gut ist und der dazu gehörige Rothwein desgleichen — wie sollte ich nun plötzlich Liebe zu diesem abscheulichen Thiere herbekommen, das die unartikulirtesten Töne ausstieß und sich ganz ungebührlich benahm. Meine Frau fand den Papagei natürlich „süß” und hätte ihn am liebsten mit in's Bett genommen, wie die Kinder am Weihnachtsabend ihre neuen Puppen. Mit aller Bestimmtheit aber bestand ich darauf, daß der Vogel entweder auf den Boden gebracht oder vor der Hundehütte angekettet würde, dort konnte er, wie einst die Gänse auf dem Kapitol, bei drohender Gefahr seinen Herrn und Gebieter erretten. Dem widersetzte sich indeß meine Frau: er würde dort erfrieren und man könne solch armes, unschuldiges Thier doch nicht so elendiglich umkommen lassen. Das sah ich denn auch schließlich ein, aber in der Stube wollte ich den Papagei auf keinen Fall behalten, ich hatte meine Nerven und meine Möbel zu lieb.

„Ja, was machen wir denn blos?” fragte meine Frau verzweifelt.

„Kann man ihn nicht braten?” erkundigte ich mich.

Aber meine Frau drohte, mich dem Thierschutzverein anzuzeigen, und so blieb denn nichts weiter übrig, als auf einen anderen Ausweg zu sinnen. Und Mittags, als ich mich während des Schlafes mit meinem Vorgesetzten herumzankte, kam mir der rettende Gedanke.

„Mutter,” rief ich, „ich hab's, wir schicken den Papagei fein säuberlich in Papier gewickelt an den Direktor Striegel. Ich schreibe einen schönen Brief, es gereichte mir zur ganz besonderen Ehre, ihm diesen selten schönen Vogel überreichen zu können, und ich bäte ihn, dieses kleine Geschenk in Gnaden annehmen zu wollen. Er wird sich gewiß über meine Aufmerksamkeit freuen, und wir werden auf diese Art und Weise das Thier mit Anstand los, denn Geben ist seliger als Nehmen.”

Gesagt, gethan. Thränenden Auges nahm meine Frau von dem „süßen Papagei”, der bei dem Einfangen noch eine Vase entzwei warf, Abschied, und ich vermochte sie nur damit zu trösten, daß sie bei ihren Besuchen und Kaffee­gesellschaften bei der Frau Direktor ihn ja wieder sehen würde. Dann trat Bertha, das Mädchen für Alles, ihren Weg an und kehrte nach einer halben Stunde mit einem sehr huldvollen Schreiben zurück. „Mein lieber Herr,” so etwa lauteten seine Worte, „Sie haben mir durch Ihr Geschenk eine große, aufrichtige Freude bereitet. Seit langer Zeit schon war es mein sehnlichster Wunsch, einen Papagei zu besietzen. Wenn ich mir bisher keinen kaufte, so lag dies nur daran, daß ich keinen fand, der sich in Bezug auf äußere Schönheit auch nur annähernd mit dem Ihrigen messen konnte. Nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten, aufrichtigsten Dank.”

„Siehst Du wohl, Mutter,” sagte ich, „wat dem Een sin Uhl, is dem Annern sin Nachtigall. Es ist immer die alte Geschichte.”

Der Weihnachtsabend brach an. Es ist doch immer solch eigen Ding um den Weihnachtsabend. Je älter man wird, desto weniger weiß man, ob man sich freuen, oder ob man traurig sein soll. Mutter und ich hatten uns gegenseitig unsere Geschenke überreicht und saßen Hand in Hand vor dem im hellen Kerzenschmuck prangenden Tannenbaum. Keiner von uns sprach, jeder hing seinen Gedanken nach, man weiß doch nie, ob es nicht das letzte Mal ist, daß man so zusammensitzt, ob nicht vielleicht im nächsten Jahre schon der Eine unter dem kühlen Rasen liegt und den Anderen in Trauer und Schmerz zurückgelassen hat.

Aus unseren Grübeleien weckte uns der schrille Ton der Glocke, und gleich darauf betrat das Mädchen mit einer gar sonderbar aussehenden großen Kiste und einem Briefe die Stube.

„Eine schöne Empfehlung von Herrn Ibsen, und hier wäre ein kleines Weihnachtsgeschenk.”

„I, da bin ich aber doch wirklich neugierig,” sagte ich zu meiner Frau, während diese schon damit beschäftigt war, die umhüllende Leinwand zu entfernen. Dann las ich:

„Lieber Benjamin, ich bitte Dich freundlichst, die beifolgende kleine Gabe von mir annehmen zu wollen. Nach langem Suchen ist es mir endlich geglückt, einen Papagei aufzutreiben, der nach Aussage des Händlers an Schönheit vereinzelt dasteht. Ich kenne Deine Vorliebe für die Vögel und hoffe, Dir hiermit eine kleine Freude zu bereiten.”

„Weiß der Teufel,” rief ich wüthend, „wie auf einmal die halbe(3) Welt dazu kommt, mich mit Papageien zu beschenken, was sollen wir blos mit diesem elenden Thier? Weißt Du was, war lassen ihn ruhig in seinem Bauer und schicken auch diesen an den Direktor. Der wird sich freuen, ein schönes Paar zu besitzen. Laß mich nur machen.”

Wieder schrieb ich einige Zeilen: Der Händler, bei dem ich heute Morgen den Papagei erstanden, sei durch Zufall heute in den Besitz eines gleichen Exemplars gelangt und habe mir denselben soeben angeboten. Es wäre mir ein ganz besonderes Vergnügen, ihm auch diesen Vogel übersenden zu dürfen.

Wieder ging Bertha davon und kam mit der Meldung zurück, der Herr Direktor lasse sagen, er könne vor Freude und Dankbarkeit gar keine Worte finden, morgen werde er sich aber persönlich bedanken.

Dann setzten wir uns zu Tisch und aßen die üblichen Karpfen. Ich war so lustig und so glücklich! Das reinste Glück besteht ja auch darin, Anderen eine Freude zu machen, und ich war so selig, daß mir dies in so hohem Maße gelungen war. Und während Bertha das Essen auftrug, ließ ich mir immer und immer wieder erzählen, wie unsagbar sich der Direktor gefreut habe.

Wohl eine Stunde war vergangen, und es mochte gegen neun Uhr sein. Da öffnete sich plötzlich die Stubenthür, und herein tritt, mit einer Kiste in der Hand, mein Freund Ibsen.

„Mein Gott, Ibsen, wo kommst Du noch so spät her?” fragte ich erstaunt.

„Ja, das sag' nun mal,” entgegnete er, nachdem er meiner Frau und mir die Hand gegeben hatte. „Verzeih', wenn ich störe. Aber soeben schickt mir der Händler, bei dem ich heute Morgen Deine Papagei gekauft, dies selten schöne Exemplar(4), und in meiner Herzensfreude, Dir ein Vergnügen bereiten zu können, bin ich selbst gekommen.”

Gerührt gab ich ihm die Hand. „Du bist wirklich ein guter Mensch, wodurch habe ich so viel Freundlichkeit verdient?”

„Ach red' doch keinen Unsinn,” wehrte er ab, „nun aber laß uns die beiden Papageien in ein Bauer thun, ich bin neugierig, wie sie sich vertragen werden.”

„Ich auch,” erwiderte ich, aber dann setzte ich erröthend und verlegen hinzu:

„Weißt Du, einmal mußt Du es ja doch erfahren, mit dem ersten Papagei, den Du mir schicktest, ist das so eine eigen Sache.”   „Wieso denn das?” fragte Ibsen verwundert.

„Ja, weißt Du, die Sache ist nämlich die: ich mußte unserem Direktor doch eine Kleinigkeit schenken, und da dachte ich, Du würdest es mir nicht wieter übel nehmen — und da habe ich ihm Deinen Papagei geschenkt.”

Mit allen Anzeichen des höchsten Ersatunens blickte mich Ibsen an: „Nein, aber solche Unverschämtheit.”

„Wieso?” fragte ich, „Unverschämtheit?”

„Ja, denk' Dir mal,” entgegnete er zögernd, „der Direktor — von dem habe ich nämlich den ersten Papagei bekommen und ihn Dir geschickt, weil ich dachte, er würde Dir mehr Freude machen.”   „Und den zweiten?” fragte ich gespannt.

„Ja, weißt Du, den habe ich auch vom Direktor, aber was ist Dir nur?”

Vernichtet sank ich zusammen. Der arme Papagei — zweimal erhielt ich ihn zum Geschenk, zweimal gab ich ihn weiter, und das Ende vom Liede war, daß er nun zum dritten Male in seiner ganzen Schönheit vor mir stand. Aber ein Gutes hatte es doch: bei dem vielen Hin- und Herreisen mußte er sich stark erkältet haben, denn am Sylvesterabend starb er schon. Schade, daß er nicht mehr lebt, aber ich will mal nachsehen, ich glaube, ich habe noch einen Flügel, den will ich Euch schenken, damit könnt Ihr den Winterhut garniren.”

Und so geschah es.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es: „nach mehrmaligen gewissenhaften Proben” (zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es: „die vernünftigen Leute” (zurück)

(3) In der Buchfassung heißt es nur: „die Welt” (zurück)

(4) In der Buchfassung heißt es: „dies selten schöne zweite Exemplar” (zurück)


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