Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Schöne Frauen. Bibliothek pikanter Erzählungen und Gedichte” Band 3
Verlag von H.L. Schroeter, Budapest, o.J.
Der Marquis von Levocq schlenderte in einer etwas verdriesslichen Stimmung über die Boulevards. Er hatte eine Verabredung gehabt, aber im letzten Augenblick, als er schon Hut und Handschuhe ergriffen hatte, war ihm ein Billet überbracht worden, dass die Zusammenkunft auf den nächsten Tag verschob. Für einen Augenblick hatte der Marquia daran gedacht, nun überhaupt nicht auszugehen, sondern zu Haus zu bleiben – aber angezogen war er nun einmal doch, und das schöne Wetter, sowie die Nachmittagsstunde, in der halb Paris auf den Boulevards promeniert, lockten. So hatte er sich denn auf den Weg gemacht und schritt nun langsam, gemessenen Schrittes dahin, die jungen Damen, die ihm begegneten, scharf musternd.
Wer ihn so sah, kam unwillkürlich auf den Gedanken: »Der will sich ein Hühnchen einfangen«, und so falsch war dieser Gedanke nicht.
Das köstliche Wetter, die vielen Menschen, das rege Leben und Treiben um ihn herum verscheuchten allmälig seine schlechte Laune; der finstere, verdriessliche Ausdruck verschwand in seinem Gesicht; die hohe, schlanke, elastische Gestalt, die zuerst etwas vornübergebeugt gegangen war, richtete sich stolz auf, und der zuerst müde und langsame Schritt wurde lebendig und elastisch.
»Vielleicht führt ein günstiges Geschick mir eine meiner vielen alten Freundinnen in den Weg, die gleich mir Lust hat ins Bois zu fahren und hinterher irgendwo gut zu soupieren,« dachte er, aber das Schicksal meinte es entschieden nicht gut mit ihm; vergebens sah er sich nach einem bekannten Gesicht um.
Da begann er die ihm neuen, unbekannten Gesichter genauer zu betrachten – es war ja nicht gerade unbedingt notwendig, dass er den Nachmittag in Gesellschaft einer alten Freundin verlebte – auch die neuen Bekanntschaften haben ja ihren grossen Reiz.
Aber er wusste nicht, woran es lag: keine der vielen graziösen Gestalten fand ganz Gnade vor seinen Augen – bei der Einen missfiel ihm das Gesicht, bei der Zweiten die Figur, bei der Dritten der Fuss, bei der Vierten dies – bei der Fünften jenes.
Missmutig schritt er weiter, und schon dachte er daran, alle thörichten Hoffnungen aufzugeben und sich bei Pousset niederzulassen, um dort seinen Absynth zu trinken, als ihm plötzlich ein junges Mädchen aus dem Volk entgegenkam, das in seiner Schönheit seine ganze Aufmerksamkeit erregte. Man sah es auf den ersten Blick, dass sie nicht aus Paris, sondern aus einer der südlichen Provinzen war, auch in ihrer Kleidung hatte sie so gar nichts, was an Paris erinnerte. Sie war, wenn auch nicht ärmlich, so doch sehr einfach gekleidet, als Kopfschmuck trug sie über dem selten dichten schwarzen Haar ein buntes Seidentuch.
»Eine Bäuerin,« dachte der Marquis – und doch hatte sie in ihrem Gang, in ihrer Haltung gar nichts bäuerliches, im Gegenteil, sie ging mit einer grossen natürlichen Anmut, und jede ihrer Bewegungen verriet natürliche Grazie.
Als der Marquis an ihr vorüberging, hatten ihre Blicke sich begegnet, und leicht errötend hatte sie die grossen dunkeln Augen gesenkt, während zugleich doch ein leises, schelmisches Lächeln, bei dem blendendweisse Zähne sichtbar wurden, den fein geschnittenen Mund umspielte.
»Ein allerliebstes kleines Ding,« dachte der Marquis, »aus der wäre, wenn sie in die richtigen Hände käme, noch etwas zu machen.«
Er trat an ein Ladenfenster, um ihr nachzusehen – da bemerkte er, dass sie wenige Schritte von ihm entfernt, an einem anderen Fenster stehen geblieben war und sich nach ihm umsah.
»Sieh einmal einer die kleine Unschuld vom Lande,« dachte der Marquis, »der Schlingel scheint sich seines Reizes voll bewusst zu sein.«
War es Absicht, war es Zufall? War er wirklich zu ihr hingegangen? Er wusste es selbst nicht. Genug, plötzlich stand er neben ihr am Fenster und beobachtete aufmerksam die ausgelegten Sachen.
»Sie scheinen mir fremd zu sein in Paris, mein schönes Kind,« redete er sie nach einer kleinen Pause an, »und ich fühle gerade heute den Wunsch in mir, einer Fremden wenigstens einen Teil unserer herrlich schönen Stadt zu zeigen. Wollen Sie mich begleiten? Hätten Sie Lust, mit mir nach dem Bois zu fahren und hinterher mit mir zusammen zu soupieren?«
Sie warf einen ganz erstaunten Blick auf den eleganten Herrn, der, nach der neuesten Mode gekleidet, mit dem tadellosen Cylinder auf dem Kopf, mit der Nelke im Knopfloch, ihr, dem einfachen Mädchen aus dem Volke seine Begleitung anbot. Sie glaubte nicht richtig verstanden zu haben, und so sagte sie denn: »Ob ich Lust hätte? Das fragen Sie mich wohl nicht im Ernst, denn wer sollte wohl keine Lust haben! Aber Sie machen ja doch – nur Scherz. Wissen Sie denn überhaupt, wie ich aussehe? Ich habe ja nicht einmal einen Hut – so kann ich doch nicht mit Ihnen fahren.«
Er hatte sie scharf beobachtet, während sie sprach; in ihrem zarten, feinen Gesicht spiegelte sich deutlich die Freude, die das Anerbieten des eleganten Herrn hervorrief, wieder, und doch zeigte sie deutlich eine leichte Enttäuschung, dass aus dem Plan nichts werden konnte.
»Wenn es weiter nichts ist,« sagte er lustig, »dann kann uns beiden geholfen werden,« und wenig später trat er mit ihr in ein grosses Hut-Magazin.
Die Verkäuferin musterte mit einem etwas ironischen Lächeln das vor ihr stehende junge Mädchen: »Wir führen nur sehr elegante Hüte,« sagte sie sehr spitz, »und ich weiss nicht – «
»Bitte, überlassen Sie die Entscheidung darüber mir,« sagte der Marquis sehr scharf, während seine Begleiterin in grösster Verlegenheit neben ihm stand, und die Verkäuferin beeilte sich, ihr Unrecht wieder gut zu machen.
Eigentlich hatte der Marquis an einen einfachen, aber hübschen Strohhut gedacht und, das Meisterwerk, das er schliesslich dem jungen Mädchen in das dichte Haar drückte, das ihr aber ganz allerliebst stand, war eigentlich absolut nicht das, was er hatte haben wollen, aber die Hauptsache war ja schliesslich, dass die Kleine sich freute und vor Glückseligkeit fast ausser sich war.
»Hundert Franks, wenn ich bitten darf, mein Herr.«
»Geld genug,« dachte er, dann zahlte er an der Kasse und trat wieder auf die Strasse hinaus.
»Wie heisst Du süsses kleines Menschenkind denn eigentlich?« fragte er seine Begleiterin, die sich in jedem Fenster bewunderte und ihm vor Dankbarkeit am liebsten auf offener Strasse die Hand geküsst hätte.
»Claire,« gab sie zur Antwort, ihren Nachnamen verschwieg sie, wohl ganz unabsichtlich, aber der interessierte ihn ja auch nicht.
»Wollen wir uns jetzt einen Wagen nehmen, Claire?« fragte er.
»Ach ja, bitte,« jubelte sie, »Sie wissen nicht, wie oft ich es mir gewünscht habe, einmal so wie die reichen Leute im Bois spazieren zu fahren, und dass mein Wunsch nun in Erfüllung gehen soll, das kann ich auch jetzt noch nicht glauben!«
Er lächelte über ihre kindliche Freude und betrachtete sie fast mit zärtlichen Blicken, dann winkte er einen Wagen heran und nahm in demselben mit seiner Begleiterin Platz.
»Nach dem Bois,« rief er dem Kutscher zu. Claire klatschte vor Vergnügen in die Hände: »es ist zu schön – zu schön,« rief sie ein über das andere Mal, »dafür kann ich Ihnen ja gar nicht genug danken.«
»Hoffentlich doch,« dachte er, »soweit sind wir ja aber noch nicht, freuen wir uns vorläufig der Gegenwart.«
Er hatte sich in seine Ecke zurückgelehnt und musterte die Insassen der eleganten Gefährte, die an ihnen vorüberrollten, und ihm entgingen die erstaunten und verwunderten Blicke nicht, mit denen man ihn und seine Begleiterin betrachtete.
»Hör mal, Claire,« sagte er endlich, »die anderen Leute, die da über uns beide spöttisch lächeln, haben ganz Recht – so geht das nicht. Nimm es mir nicht übel, aber Dein Anzug ist eben doch etwas zu einfach, und zum Überfluss steht Dein eleganter Hut in einem fast schreienden Gegensatz zu Deinem übrigen Kostüm. So kann ich mich im Bois nicht mit Dir sehen lassen.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen: »Wollen Sie den Wagen halten lassen? Soll ich aussteigen?« fragte sie.
»Wer spricht denn davon,« erwiderte er, »ich mache nur von neuem die alte Erfahrung, dass, wer A sagt, auch B sagen muss. Mit dem Hütelein ist es nicht gethan – fing ich nun schon einmal an, Dich anzuziehen, so muss ich das ja auch zu Ende führen,« und seinen Entschluss, nach dem Bois zu fahren, ändernd, rief er dem Kutscher zu: »Grand magasin du Louvre.«
Als sie eine Viertelstunde später an dem grossen Geschäftshaus hielten, sah er mit einer gewissen Befriedigung die Riesenplakate, die auf die »Occasion«, auf den Ausverkauf aufmerksam machten.
»Das trifft sich günstig,« dachte er, »allzuviel Sinn hat es ja überhaupt nicht, dass ich mir die Kleine da ganz anziehe, ausziehen muss sie sich ja doch wieder – na, durch den Zufall der Occasion wird der Scherz wenigstens nicht allzu teuer werden.«
Einer der Ressort-Chefs eilte ihm entgegen und fragte nach seinen Wünschen.
Der Marquis trat mit ihm einen Schritt zur Seite, und mit verständnisinnigem Lächeln hörte ihm der Beamte zu:
»Ich verstehe Sie vollständig, mein Herr,« sagte er schliesslich, »das kommt viel öfter bei uns vor, als Sie zu glauben scheinen, wir sind darauf vollständig eingerichtet, wir führen bekanntlich alles, was zur Toilette gehört, vom eleganten Stiefel bis zum teuersten Hut – doch den hat die Dame ja bereits, wie ich sehe. Darf ich Sie nun noch fragen, welchen ungefähren Preis Sie anzulegen gedenken – bei den billigen Preisen, die wir heute Abend führen, würden schon drei- bis vierhundert Franken genügen.«
»Ein sündhaftes Geld,« dachte der Marquis, »ich sage es ja immer: das Essen und das Trinken ist das billigste Vergnügen, das man hat, aber was man ausserdem noch braucht, macht das Leben so rasend teuer.«
»Natürlich haben wir auch sehr viel elegantere Sachen,« meinte der Beamte, »wenn Sie tausend Franks ausgeben wollen – «
Aber der Marquis unterbrach ihn: »Nein, nein – mehr als höchstens fünfhundert Franks möchte ich auf keinen Fall anlegen, das Ganze ist ja doch schliesslich nur ein Scherz.«
»Ich verstehe vollständig,« versicherte der Beamte, »also fünfhundert Franks – ich kann Sie schon jetzt versichern, dass Sie erstaunt sein werden.«
Und der Beamte behielt Recht – der Marquis war auf das Höchste überrascht, als er Claire nach einer kleinen Stunde wiedersah: war das junge Mädchen, das da glücklich lächelnd vor ihm stand und sich in der eleganten Toilette bewegte, als ob sie nie andere Kleider trüge, wirklich die kleine Claire, die er vor zwei Stunden auf dem Boulevard angesprochen hatte? Er traute seinen Augen kaum und konnte sich nicht an ihr satt sehen, als sie nun wieder an seiner Seite im Wagen sass – sie war die vollendete Dame.
Der Spazierfahrt folgte ein sehr lustiges Diner, und dabei machte der Marquis die Entdeckung, dass seine Claire über Verstand und Witz verfügte und ganz reizend zu plaudern wusste.
Und wie konnte sie küssen: so unschuldig, so schüchtern und doch voll Glut und Feuer, so dass seine Leidenschaft auf das höchste entflammt wurde und er früher, als es seine Absicht gewesen war, mit ihr aufbrach und sie nach dem kleinen verschwiegenen Hotel begleitete, in dem er ein häufiger und gern gesehener Gast war.
Er war glückselig über sein Abenteuer, er war ordentlich stolz darauf – allerdings, billig war es nicht; wenn er alles zusammenrechnete, was er ausgegeben hatte, kamen doch ungefähr 1000 Franks heraus. Aber er hatte sich für sein Geld wenigstens amüsiert. – Das Erlebnis war doch einmal neu und eigenartig, es war einmal etwas ganz anderes, etwas ganz Apartes, sich seine Geliebte gleichsam aus dem Volk herauszusuchen und sie sich gewissermassen zu erziehen. Und das wollte er, für ihn war es eine beschlossene Thatsache, dass er sie heute nicht zum letzten Mal gesehen hatte, und schon für den nächsten Tag verabredete er mit ihr ein neues Zusammentreffen zu derselben Stunde, an demselben Ort, an dem sie sich heute begegnet waren.
Aber am Nachmittag wartete der Marquis vergebens – Claire kam und kam nicht, und nachdem er eine Stunde lang auf und ab gegangen war, suchte er in der denkbar schlechtesten Laune den Club auf, um sich zu zerstreuen.
»Aber, Marquis, was haben Sie denn nur?« fragte ihn sein Freund, der Baron von Lafire, »wenn ich nicht wüsste, dass Ihnen so etwas nie passiert, würde ich sagen: ,Sie sind versetzt worden,' Sie haben ein Rendez-vous gehabt und vergebens auf Ihre coeur-dame gewartet.«
»Der Teufel hole die Weiber,« schalt der Marquis ingrimmig.
»Aber er bringe sie uns auch bald wieder,« setzte der Baron hinzu, » denn auf die Dauer würden wir es ohne das schöne Geschlecht auch nicht aushalten. Ihr Ausruf aber beweist mir, dass ich mit meiner Vermutung Recht habe, erleichtern Sie Ihr Herz – erzählen Sie, was bedrückt sie.«
Und der Marquis erzählte alles, alles.
Aufmerksam hörte der Baron zu, dann sagte er: »In der That, Herr Marquis, was Sie mir da erzählen, ist sehr seltsam. Aber vielleicht tröstet es Sie, dass Sie nicht allein auf das schöne Mädchen ohne Hut hineingefallen sind – ich selbst habe in der vorigen Woche das Vergnügen gehabt, sie ankleiden zu dürfen, nachdem, wie ich zufällig erfuhr, der Vicomte von Latour drei Tage vor mir dieselbe Freude hatte. Die kleine Claire scheint eine der gerissensten Damen zu sein, die Paris hat, und sie scheint die Männer sehr genau zu kennen. Soviel ich in Erfahrung gebracht habe, erhält sie von den Geschäften, denen sie Kunden zuführt, sehr hohe Prozente – man müsste eigentlich die Polizei auf das schöne Mädchen aufmerksam machen. Wie denken Sie darüber?«
Aber der Marquis dachte gar nichts – er machte ein unglaublich dummes Gesicht, und sein Stolz auf sein gestriges Abenteuer schwand rapide dahin.