Der alte Oberst.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.

in: „Lübecker Eisenbahn-Zeitung” Nr. 192 vom 18.08.1894,
in „Haarlem's Dagblad” vom 15.9.1917 und
in: „Militaria”.


Der Oberst und Regimentskommandeur von Manchow hieß bei seinen Offizieren nie anders als der alte Oberst, nicht etwa weil er so hoch an Jahren war — er hatte, kaum fünfundvierzig, die wichtige Charge eines Regiments­kommandeurs inne — sondern weil seine Anschauungen in manchen Punkten etwas antik waren. Dazu gehörte vor allen Dingen, daß nach seiner festen Überzeugung der Offizierstand lediglich für den Adel geschaffen sei, bürgerliche Offiziere waren für ihn eo ipso ein Unding. Von diesem Glauben ließ er sich durch nichts abbringen. Wenn man ihm Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführte, wo bürgerliche Lieutenants Wunder der Tapferkeit verrichtet hatten, schüttelte er nur den Kopf: „Das ist gar nichts, meine Herren, gar nichts, wie hätten sich nicht adelige Offiziere an der Stelle benommen?”

Seit drei Tagen war nun der Lieutenant Würger in das Regiment des alten Oberst versetzt worden. Noch in der letzten Stunde hatte Herr von Manchow versucht, einen anderen Offizier zu erhalten, er hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, aber vergebens. Was befohlen war, war befohlen, dagegen ließ sich nichts mehr machen, das wußte er als Soldat nur zu genau und hatte deshalb von Anfang an auch keine große Zuversicht gehabt, daß seine Bitten erhört würden. So blieb ihm denn nichts anderes übrig, als den Lieutenant Würger, als dieser sich bei ihm meldete, mit sauer-süßlichem Lächeln im Regiment willkommen zu heißen.

„Sie sind der einzige Bürgerliche in meinem Offiziercorps, ich hoffe, Sie werden demselben Ehre machen?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

Der junge Lieutenant, soeben aus dem Kadettencorps „entsprungen”, mochte sich seine Aufnahme doch wohl etwas anders gedacht haben, denn als er wenige Minuten später das Regimentsbureau verließ, machte er, wie es beim Militär heißt, „ein ziemlich belämmertes Gesicht.”

Der alte Oberst war sich, nachdem sich die Thür hinter dem Fortgehenden geschlossen, darüber einig, daß der Lieutenant Würger für sein Regiment keine gute Acquisition war. Was er an ihm auszusetzen hatte, vermochte er selbst nicht anzugeben, Lieutenant Würger war von großer, stattlicher Figur, hatte Manieren, war tadellos angezogen, aber er paßte nicht hierher und der alte Oberst war glücklich, als er endlich diesen Grund gefunden hatte. Es würde ihm schon mit der Zeit gelingen, den Lieutenant Würger wieder los zu werden, wie er auch früher schon alle bürgerlichen Elemente fortgeekelt hatte.

Der neue Lieutenant Würger wurde seines Lebens bei dem Regiment nicht froh. Der alte Oberst hatte immer etwas auszusetzen, bald kommandierte er zu leise, bald zu laut, bald war sein Anzug zu modisch, bald zu „kommissig”, bald war dies, bald jenes. Das Leben gestaltete sich für ihn zur Hölle und er wünschte seinen Kommandeur täglich wenigstens dreimal zum Teufel, während dieser ihn in Gedanken nach jenem Land versetzte, wo der Pfeffer wächst.

So kam der Sommer heran und eines Mittags wurde Würger durch den Parolebefehl überrascht, daß morgen zwischen ihm und Lieutenant von Mathusius eine Felddienstübung stattfinden sollte. Er wußte, was das für ihn bedeutete, er sollte offiziell „abgeschlachtet” werden, im voraus wußte er, daß der alte Oberst alle Anordnungen seines Gegners am nächsten Tage loben, die seinigen aber alle verdammen würde und daß dies für ihn der Anfang vom Ende wäre. Im Geiste hörte er schon die Kritik, daß seine Leistungen für ein gewöhnliches Linienregiment zwar genügten, für eine Truppe, der er anzugehören vorläufig noch die Ehre habe, absolut unzulänglich wären!

Nach einer schlummerlosen Nacht hatte ein gewisser Galgenhumor sich seiner bemächtigt, mochte es kommen, wie es wolle, er war auf alles, selbst auf das Schlimmste, vorbereitet.

Mit gezogenem Degen führte Würger die heute seinem Befehl unterstellte Compagnie durch die Stadt. Es war noch früh am Morgen, kaum fünf Uhr, ihm, als dem Jüngeren, war aber der weiteste Rendezvous-Platz zugewiesen und er mußte „frei weg” marschieren lassen, wenn er rechtzeitig an Ort und Stelle eintreffen wollte. In den Straßen, die er passierte, herrschte noch feierliche Stille, selbst die Bäckerjungen, die mit dem Brotkorb über dem Arm einherschlenderten, scheuten sich, die Stille durch ihr Pfeifen zu unterbrechen und die ringsherum waltende Ruhe ergriff auch Würgers Herz: „Laß den alten Oberst mir nachher sagen, was er will, mir soll alles recht sein! Ich mache, was ich für richtig halte, oder nein — ja, das ist ein Gedanke” — und glücklich vor sich hinlächelnd, zündete er sich eine Cigarre an und kommandierte: „Ohne Tritt, Marschordnung.”

Nach etwa zwei Stunden erreichte die Compagnie die ihr angewiesene Stelle und Würger ließ die Gewehre zusammensetzen und die Leute wegtreten. Wenige Minuten später meldete ein Mann das Nahen des Regiments­kommandeurs und Würger eilte ihm entgegen.

„Nun?” fragte der alte Oberst, „Herr Lieutenant, darf ich Sie bitten, mir mitzuteilen, welche Anordnungen Sie dem Feinde gegenüber getroffen haben?”

„Zu Befehl, Herr Oberst, ich habe meinen Leuten befohlen, vorläufig zu frühstücken.”

Aber der alte Oberst blickte verwundert auf: „Hm, hm, darf ich Sie fragen, was Sie zu diesem etwas seltsamen Befehl veranlaßt hat?”

„Zu Befehl, Herr Oberst; die Beispiele aus der Kriegsgeschichte, die da lehren, daß gesättigte Truppen jedem Feinde Widerstand zu leisten vermögen, während hungrige Mannschaften bei der geringsten Ursache zurückweichen.”

„Gewiß — ja — hm, hm,” bemerkte der alte Oberst, während sich auf dem Gesicht des ihn begleitenden Adjutanten ein leises Lächeln zeigte, „gewiß — ja — nun, wir werden sehen, wie weit Sie mit Ihren Anordnungen kommen.”

Er wandte sein Pferd, um zu der anderen Partei zu reiten und Würger sah ihn frohlockend von dannen traben. Der erste Angriff ward also glücklich abgeschlagen, nun hieß es aber auf der Hut zu sein, denn sicher würde der alte Oberst alles thun, um ihn „reinzulegen”. Kaum war der Kommandeur daher um die Ecke verschwunden, als Würger an die Gewehre gehen ließ und die Posten ausstellte. Er überzeugte sich davon, daß alles den Vorschriften gemäß gemacht wurde und wartete dann, wie es in seinem Auftrag hieß, weitere Befehle ab. So verrannen eine Stunde nach der andern, kein Vorgesetzter ließ sich bei ihm sehen, als plötzlich der Adjutant auf ihn zukam. „Befehl des Herrn Oberst. Sie sollen sofort den Vormarsch antreten und den Feind, wo immer Sie ihn treffen, angreifen.”

Würger teilte seiner Compagnie den Auftrag mit und schickte sich eben an, anzutreten, als atemlos ein Mann der rechten Seitenpatrouille ankam: „Meldung von der rechten Seitenpatrouille: Der Feind hat sich etwa zwei Kilometer von hier rechts der Straße in einen Hinterhalt gelegt. Ich habe alles mit angehört, der Herr Oberst sagte, der Feind solle versuchen, uns abzuschneiden.”

„Kucks du mich aus das fénêtre,” summte Würger vor sich hin, „na, den Spaß wollen wir ihm verderben! Du hast deine Sache gut gemacht, mein Sohn, wäre ich General, würde ich dich zu meinem Adjutanten machen, so aber belohne ich dich königlich mit dieser Cigarre.”

Eine Minute später marschierte Würger gegen den Feind und gleich darauf erschien der alte Oberst wieder, „um,” wie er sich ausdrückte, „sich das Vorgehen etwas mit anzusehen.”

„Nun, Herr Lieutenant,” fragte er etwas ironisch, „sind Ihre Leute nun satt genug, um den Gegner angreifen zu können?”

„Zu Befehl, ja, Herr Oberst.”

„Haben Sie Nachrichten vom Feind?”

„Zu Befehl, nein, Herr Oberst,” sagte Würger.

„Hm, hm — gar keine?”

„Es ist mir gemeldet, daß der Feind abgezogen ist, wohin konnten die Patrouillen nicht sehen.”

„Hm, hm.”

Wohl eine Viertelstunde war Würger auf der Chaussee marschiert, als er plötzlich etwas abbog und einen Seitenweg, der rechts der Hauptstraße führte, einschlug.

Der alte Oberst machte ein Gesicht, als wüßte er nicht, ob er lachen oder weinen solle.

„Hm, hm — Herr Lieutenant Würger, darf ich Sie fragen, weshalb Sie diesen Weg wählen?”

„Zu Befehl, Herr Oberst, dieser scheint mir bedeutend näher zu sein.”

Kaum war Würger auf der neuen Straße wenige Minuten marschiert, als er die feindliche Abteilung bemerkte, die, vorläufig sich in vollster Sicherheit wähnend, im Grase lag und die Ankunft der anderen Partei erwartete.

Der alte Oberst war fortgeritten, wahrscheinlich um den Gegner zu warnen, die kurze Zeit, die Würger zur Verfügung stand, mußte ausgenutzt werden. Durch eine Erdeinsenkung gedeckt, sammelte er seine Compagnie und stürmte dann mit wildem Hurra auf den Gegner, der derartig überrascht war, daß er nicht einmal daran dachte, sich zu verteidigen.

Der alte Oberst raste, tobte und fluchte wie ein Wilder, so etwas von einem unordentlichen Angriff war ihm in seinem ganzen militärischen Leben denn doch noch nicht vorgekommen. Würger biß sich heimlich vor Wut auf die Lippen, dann aber bezwang er sich und kommandierte mit lauter Stimme „kehrt marsch”.

„Herr Lieutenant Würger, wo wollen Sie hin?” schrie der alte Oberst.

„Zurück,” lautete die Antwort, „ich bin geschlagen und die Kriegsgeschichte lehrt, daß ein Führer, der im Gefecht unterlegen ist, in erster Linie dafür sorgen muß, daß er fern vom Feinde seine Truppen neu sammelt und dann den Angriff erneuert.”.

Wieder blickte der alte Oberst verwundert seinen Lieutenant an, der ihm keine Antwort schuldig blieb, gleichsam, als hätte er sich vorgenommen, sich nichts gefallen zu lassen und der dabei doch stets „dienstlich” blieb. Aber hereinlegen wollte er ihn schon, das sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er, der adelige Oberst von Manchow, nicht einmal einen bürgerlichen Sekonde­lieutenant „unter kriegte”.

Der alte Oberst ließ die Compagnie dann fünfhundert Meter zurückgehen, als er plötzlich auf schnaubendem Roß angaloppiert kam.

„Herr Lieutenant Würger — während Sie zurückgehen, werden Sie angegriffen, vorne von einer Compagnie Infanterie, von der linken und rechten Seite werden Sie von Kavallerie attackiert, in Ihrem Rücken fährt eine Batterie auf. Was machen Sie? Bitte schnell, Herr Lieutenant Würger, Sie haben angesichts der drohenden Gefahr nicht viel Zeit zu überlegen, hier gilt es zu handeln.” Der alte Oberst war so aufgeregt, daß er kaum zu sprechen vermochte. „Bitte, bitte, Herr Lieutenant Würger, zögern Sie nicht mehr, was machen Sie?”.

„Mein Testament, Herr Oberst.”.

Mit einem jähen Ruck hielt der alte Oberst seinen Gaul an und starrte auf seinen Lieutenant, der in streng dienstlicher Haltung, die Hand am Helm, vor ihm stand. Einen Augenblick schien es, als ob der Vorgesetzte seinen Untergeben zermalmen würde — dann aber wandte er, ohne ein Wort zu sagen, sein Pferd und ritt davon.

Und von diesem Augenblick an gab der alte Oberst es auf, den Lieutenant Würger hereinlegen zu wollen und beide lebten fortan, wie der Soldat sagt, „in der denkbar glücklichsten Ehe.”


Das Thema der Bevorzugung adeliger Offiziere wird 1904 in dem Buch „Erstklassige Menschen” wesentlich weiter ausgearbeitet.


„Haarlem's Dagblad” vom 15.9.1917:


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