Von Freiherr v. Schlicht - Garmisch.
in: „Berliner Tageblatt” vom 11.8.1912
Nach Aussage des Kursbuches fährt der beschleunigte Personenzug von München nach Garmisch-Partenkirchen 2 Stunden 38 Minuten, Wie lange der Zug aber in Wirklichkeit gebraucht, hängt von dem Durst seiner Passagiere ab. Auf jeder Station stürzen die Touristen und die Hochtouristen aus dem Coupé, um sich in dem Bahnhofsrestaurant durch mehrere Glas Münchener Bier für ihre bevorstehenden Heldentaten zu stärken. Und wenn der Zugführer, während sie noch mit dieser Stärkung beschäftigt sind, das Zeichen zum Weiterfahren gibt, dann rufen sie ihm ein so energisches Halt zu und winken ihm so flehentlich mit den erhobenen Maßkrügen eine stumme und doch beredte Bitte entgegen, daß der Zugführer seinem ersten Pfiff zur Abfahrt einen zweiten zum Halten folgen läßt und geduldig darauf wartet, bis alle ihr Maß leer getrunken haben. Und warum auch nicht? Garmisch läuft nicht fort, und einmal wird man schon ankommen. So kam auch ich hier an, auf dem Bahnhof von den Rufen der mehr als zwanzig Hotelhausdiener empfangen. Ein jeder rief den Namen seines Hauses, aber keiner tat das so laut, wie der Haudiener von dem Hotel Zugspitze: „Hotel Zugspitze, Touristenhotel — Hotel Zuugspitze — Hotel Zuuugspiitze — Hotel Zuuuuugspiiiiiitze!” Der „Zug” wurde immer länger, die „Spitze” immer spiiiiitzer, in allen nur möglichen Variationen wurde das Wort gerufen, und wenn es trotzdem nicht half, dann ertönte zwischendurch ein gottslästerlicher Fluch auf die verdammten Touristen, die in der Mehrzahl noch dazu aus dem verhaßten Preußen kamen. Und selbst als ich endlich mein Gepäck erhalten und dem Hotel zum Husaren entgegenfuhr, wo ich mir längst meine Zimmer bestellt hatte, erklang durch die Stille der Nacht immer noch der Ruf: „Hotel Zuuuuugspiiiiitze!”
Nun bin ich schon drei Wochen hier, und habe inzwischen mit dem Ausrufer des Hotels Zugspitze, einem echten bayerischen Original. gute Freundschaft geschlossen, obgleich ich nicht bei ihm wohne. Drei Wochen bin ich schon hier, drei bleibe ich sicher noch, und wenn es nach mir ginge, und wenn die Arbeit nicht wäre, die man so oft verflucht, und ohne die man doch nicht leben möchte — — — von dem großen Balkon meines Wohnzimmers schweift mein Blick täglich zahllose Male hinüber zu einer schönen Wiese. Im Hintergrund der Kramer, gerade gegenüber die Zugspitze, der Waxenstein und das Wettersteingebirge. Man hat einen Blick, wie man ihn sich schöner nicht wünschen kann. Und Richard Strauß wußte schon, warum er sich gerade hier seine Villa bauen ließ. Aber so groß sein Besitz auch ist, diese Wiese, dicht neben seinem Garten, ist noch zu haben, und dort baue ich mir täglich in Gedanken ein Luftschloß in Form eines einfachen englischen Landhauses, oder wünsche mir wenigstens, daß gütige Feenhände das schöne Haus, das ich in Weimar bewohne, hierher verpflanzten, schon, damit ich nie wieder nach Weimar zurück müßte, denn Weimar ist die Stadt der Toten. Ich finde, selbst die Fremden, die nach dort kommen, machen einen so toten und leblosen Eindruck. Angesichts der Erinnerung an Schiller und Goethe, schleichen sie stumm und andächtig durch die Straßen der Stadt, durch den Park und die sonstigen historischen Stätten. Wie der sonst von mir so hochgeschätzte Heinrich Lee in seinen Reisebildern des „Berliner Tageblattes” behaupten konnte, er würde, wenn er frei wählen könnte, nirgends anders wohnen, als in Weimar, wird mir selbst dann, wenn meine Asche erst dort beigesetzt ist, noch ein Rätsel bleiben.
Weimar ist die Stadt der Toten, Garmisch ist die Stätte des pulsierenden Lebens. Für mich ist es hier das schönste Vergnügen, mich des morgens um ½10Uhr auf den Marktplatz, der alten und eigentümlich gebauten Apotheke gegenüber, auf eine Bank zu setzen und die Schar der Touristen, die eben mit dem Zug angekommen sind, an mir vorbeifluten zu lassen. Zuerst rattern die großen, schweren Automobile heran, die ihre Gäste nach dem Eibsee und dem Badersee führen. Große, mächtige Wagen, vollbesetzt, die angeblich nur 15 Kilometer fahren, die aber trotzdem mit einer Geschwindigkeit dahinsausen, daß man vollständig rammdösig wird, und daß man nach dem Aussteigen torkelt, als hätte man zu viel von dem schönen Enzian getrunken, der hier als Heilmittel für alle wirklichen und eingebildeten Krankheiten verordnet, und auch ohne Verordnung getrunken wird. Sind die Automobile vorüber, dann kommen die Stellwagen, die nach der Höllentalklamm, nach Linderhof und nach Oberammergau fahren. Und dann zu Fuß die Touristen. Jung und alt, arm und reich, alle mit frohen, leuchtenden Augen. Mag der Rucksack auch noch so schwer, der Geldbeutel auch noch so leicht sein, das verdirbt die Laune nicht. Lachend und scherzend ziehen sie alle ihres Weges. Männlein und Weiblein, von Wertheim in Berlin oder sonst von einem Warenhaus ganz echt ausstaffiert, in der Rechten den großen Bergstock, oft aber auch den Bergstock in der Linken und in der Rechten den Eispickel tragend. Der wird dann drohend und übermütig gegen die Zugspitze und die anderen Berge geschwungen, als wolle ein jeder sagen: „Wartet nur, euch wollen wir schon klein kriegen.” Und wenn all die Eispickel, die hier getragen werden, wirklich in Tätigkeit träten, wenn die wirklich in die Berge hineingeschlagen würden, dann würden die Berge mit der Zeit vielleicht wirklich abbröckeln und kleiner werden. Aber es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Der Eispickel gehört nun einmal zum Sportkostüm, und ich habe Touristen gesehen, die sich selbst dann nicht von ihm trennen, wenn sie nur zum Rießerbauer hinauf gehen. In 20 Minuten ist man bequem dort oben und nimmt in dem Rießersee ein Erquickungsbad, während auf dem See Ruderboote hin und her gleiten, deren Insassen auf berlinisch oder sächsisch zu jodeln versuchen! Bei dem Rießerseebauer war Arthur Vollmer, der Liebling des königlichen Schauspielhauses in Berlin, früher jährlich zu Gast, wie Garmisch überhaupt auf die Künstler eine besondere Anziehungskraft ausübt. Allerdings, die „ganz großen” fehlen dieses Jahr, aber auf Schritt und Tritt begegnet man glattrasierten Gesichtern, denen man auf den ersten Blick den Hamlet, den Don Carlos, den Mephisto, den Marquis Posa ansieht, und auf all diesen Gesichtern liest man das Wort: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.” Von bekannten Bühnenkünstlerinnen ist nur Tilly Waldegg zu nennen, die, wie alljährlich, ihre Villa bezogen hat, die auf dem halben Weg zum Rießerbauer liegt. Dort wird auch Fräulein Hansi Arnstädt vom königlichen Schauspielhaus demnächst zu Gast erwartet.
Aber wenn auch aus unbekannten Gründen manche fehlen, die sonst hier waren, Garmisch ist trotzdem überfüllt, es ist kein Platz mehr zu haben, obgleich seit dem letzten Jahr ein neues, sehr schönes elegantes Hotel mit Berliner Preisen, „Der Sonnenbichl”, erbaut worden. Wie voll es hier ist, merkte man kürzlich, als wir hier, zwar nicht wie in Mürren, zehnstündigen Scheefall, wohl aber Neuschnee hatten, der alle Berge mit einer weißen Decke zudeckte, und als es so kalt wurde, daß man sich einen Enzian nach dem anderen verordnete, um wenigstens innerlich wieder auzutauen. Da kamen vom Eibsee und vom Badersee die Automobile herangejagt und brachten halberfrorene Menschenkinder, die hier in dem geschützten Tale Obdach suchten. Das Hotel „Zum Husaren” mußte allein an einem Tage fünfzig Fremde abweisen. Alles besetzt, selbst die Badestuben sind in Zimmer verwandelt, und wer baden will, muß in das ebenfalls neuerbaute, sehr hübsche Kurhaus hinübergehen, allwo jeden Nachmittag zum Fife o'clok-Tee [sic! D.Hrsgb.] ein Promenadenkonzert stattfindet. Auch sonst fehlt es nicht an Vergnügungen. Fast in jedem Hotel wird abends gejodelt, gejuchhut und geschuhplattelt, das Bauerntheater spielt Edelweiß und Almenrausch und ähnliche Stücke. Und selbstverständlich hat Garmisch auch seinen Kientopp. Ein Trachtenfest, das hier kürzlich geplant war, fiel allerdings ins Wasser, oder besser gesagt, es ersoff elendiglich darin, denn 24 Stunden lang ging ein wahrer Wolkenbruch zur Erde nieder. Aber der Regen hält hier ebenso wie die Gewitter nicht lange an. Ueber dem Kramer ziehen sich zwar oft schwarze Wolken zusammen, aber die hohe Bergkuppe läßt die Gewitter nur selten herüberkommen. Auch sonst ist man hier vom Wetter sehr begünstigt. Selbst an heißen Tagen weht ein frischer Luftzug, so daß man ruhig über die herrlich grünen Wiesen, die der prallsten Sonne ausgesetzt sind, gehen kann, ohne sonderlich unter der Wärme zu leiden. Aber auch an schattigen Wegen ist kein Mangel, wie es hier überhaupt einen Ueberfluß an Spaziergängen gibt. Und wie hübsch ist es, an dem schnellfließenden Wasser der Loisach den Promenadenweg entlangzugehen, oder durch die Frühlingsstraße zu schlendern, wie sich hier eine der Dorfstraßen nennt. Ich kann mir nichts Reizenderes denken, als diese Bauernhäuser, alle etwas krumm und schief, als wenn sie zu viel Enzian getrunken hätten, aber alle mit Balkons versehen, die überreich mit Blumenkästen geschmückt sind.
Einen muß jeder besuchen, der nach Garmisch kommt: den ja zahllosen Fremden schon bekannten Helly Nazi, der früher eine eigene Sängergesellschaft hatte und durch den Vortrag seines „Berliner Gemsenjägers” fast in der ganzen Welt bekannt geworden ist. Leider ist er heuer nicht ganz auf dem Damm. Er hat ein schweres Magenleiden und trinkt, wie er mir erzählte, seit vielen Monaten nur noch Milch. Aber als er kürzlich im Hotel zum Husaren zu Gast war, als die Schlierseer dort konzertierten, da habe ich mir die Milch, die er gläserweise trinkt, um wieder gesund zu werden, etwas genauer angesehen: die war dunkelbraun, schäumte und wurde aus einem Faß verschenkt.
Und seitdem ich weiß, wie für einen kranken bayerischen Magen die Milch aussieht, wundert es mich nicht mehr, daß der Bierkonsum hierzulande von Jahr zu Jahr wächst.