Warum Frau Nina treu blieb.

Lustiges und Überlustiges von Freiherr von Schlicht
in: „Die Tugendhaften”


Soweit es auch schon zurücklag, denn es waren seitdem bereits zehn Jahre vergangen, die heute erst vierundzwanzigjährige, große, schlanke und bildschöne Frau Nina Burgsdorf, die sich überall der größten Beliebtheit erfreute, erinnerte sich noch sehr genau des Abends, an dem zum erstenmal die Sinnlichkeit in ihr wach geworden war und noch dazu in einer Art, die sie mit Freuden und Schrecken zugleich feststellen ließ, welch heißes, wenn nicht unerhört heißes Blut in ihren Adern floß. Und dabei war der Kuß, der ihre Sinne erweckte und den ein junger Verehrer, der sie nach der Tanzstunde nach Hause begleitete, ihr bei der Verabschiedung gab, so keusch, so rein, so zart gewesen, wie er noch keuscher und reiner gar nicht gedacht werden konnte. Aber es war das allererstemal, daß sie küßte und geküßt wurde. Trotzdem oder vielleicht deshalb ging der Kuß als solcher zuerst ziemlich spurlos an ihr vorüber, den genoß sie erst, als sie eine halbe Stunde später in ihrem Bett lag und nachmals an den und an ihren jungen Verehrer zurückdachte. Da fühlte sie erst ganz deutlich seinen Mund auf ihren Lippen und nicht nur das, da ging ihr ein so süßes, berauschendes Gefühl durch alle Glieder, daß sie nicht stillzuliegen vermochte, daß sie sich hin und her warf und zugleich auf all das lauschte, was die erwachte Natur in ihr und zu ihr sprach.

Mit einemmal war sie, trotzdem sie erst vierzehn Jahre zählte, wissend geworden, und in den folgenden Stunden, in denen sie nicht schlafen konnte, aber auch nicht schlafen wollte, weil sie ganz deutlich wie in einem Lichtspieltheater die Bilder vor sich sah, die ihre erhitzte und glühende Phantasie heraufbeschwor, fragte sie sich zahllose Male: Wenn dieser Kuß dich schon so erregte, wie wird es da erst sein, wenn später ein erwachsener Mann dich küßt, ein Mann, der dich wirklich liebt und den du deinerseits auch wiederliebst? Wie werden dessen Küsse dich erst erregen, wenn er dich nicht rein und keusch küßt, wie vorhin dein junger Verehrer, sondern wenn seine Lippen heiß und wild auf den deinen brennen, und wenn er dir zwischen den einzelnen Küssen stürmische Liebesworte in das Ohr flüstert?

Ihre Natur war erwacht, ihre Sinne und ihre Leidenschaften waren erweckt, und die schliefen von der Stunde an auch nicht wieder ein. Wie sehr sie darunter litt, wußte sie allein, und sie litt im Laufe der Zeit schon deshalb, weil sie sich niemandem anzuvertrauen wagte. Mit wem hätte sie auch wohl darüber sprechen sollen? Mit ihren Freundinnen? Die hätten sie entweder beneidet, ausgelacht, oder schlecht und verdorben, wie die meisten es waren, ihr sogenannte gute Ratschläge erteilt, die sie nie und nimmer befolgt hätte. Und mit der Mutter zu sprechen, wagte sie erst recht nicht, die hätte sie gescholten und ihr erklärt, sie solle sich schämen, denn von derartigen Dingen dürfe ein junges Mädchen ihres Alters noch gar nichts wissen, oder wenn sie traurigerweise doch schon etwas davon wisse oder vermute, dürfe sie wenigstens, nie, aber auch nie darüber sprechen, das gehöre und schicke sich nicht für ein braves, tugenhaftes Mädchen. Und ganz deutlich glaubte sie die Stimme der Mutter zu hören: Nicht wahr, meine Nina, mein Sonnenschein, du bist doch ein tugendhaftes junges Mädchen und willst es doch auch bleiben? Und wenn ihre Mutter überhaupt imstande und bereit gewesen wäre, ihr einen guten Rat zu erteilen, so hätte der sicher gelautet: Gegen so etwas muß man angehen, und derartige Regungen muß man gewaltsamunterdrücken.

Und sie unterdrückte sie gewaltsam, so gut es ging. Sie lief sich auf weiten Spaziergängen und bei dem Tennisspiel müde, sie machte große Touren auf ihrem Rad, sie nahm kalte Bäder, um das Feuer in ihrem Innern zu löschen, aber es half alles nicht viel. Und es half ihr auch nichts, daß sie fortan jedem Flirt und erst recht jedem Kuß ganz weit aus dem Wege ging, so daß sie bald den spöttischen Beinamen „Die Tugendhafte” erhielt. Die Freundinnen wollten sich zuweilen krank über sie lachen, wenn sie allen Ernstes erklärte: „Der erste Mann, der mich küßt, soll mein wirklicher Mann sein,” und wenn sie allen Versuchungen der Freundinnen, von denen eine jede ihren Kußflirt hatte, und die ihr einen ganz besonders netten, hübschen Herrn als Flirtpartner versprachen, tapfer widerstand. Das aber nicht, wie die andern vermuteten, weil sie so tugendhaft war, daß sie einen Kuß für eine Sünde hielt, sondern einzig und allein, weil sie sich sagte: Der Nächste, der dich küßt, kann dich, wenn er es irgendwie darauf ablegt, und vielleicht auch ohnedem dahin bringen, daß du ihm noch viel mehr als nur einen Kuß schenkst, und das darfst und das willst du unter keinen Umständen.

Mehr und mehr zogen sich die Freundinnen von ihr, die so gar nichts mitmachte, zurück, so daß sie ziemlich allein aufwuchs, bis sie in das heiratsfähige Alter kam. Dann aber drohte ihr eine große Gefahr, denn der Vater wünschte, daß sie den Sohn eines seiner alten Freunde erhörte, und es dauerte lange, bis sie es bei den Eltern mit vielen Küssen und Schmeicheleien durchgesetzt hatte, daß man ihr erlaubte, nur den Mann zu heiraten, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühle.

Aber so leidenschaftlich gerade sie sich auch nach der Ehe sehnte, es dauerte lange, bis endlich der richtige, ihr jetziger Mann kam, obgleich es ihr nicht an Freiern fehlte. Nicht nur auf Grund ihrer reichen Mitgift, sondern besonders wegen ihre ganz eigenartigen, sinn­berückenden Schönheit war sie auf allen Bällen, zumal sie auch noch eine glänzende Tänzerin war, das begehrteste junge Mädchen, und es half den Freundinnen auch nichts, daß die ihr dadurch ihre Verehrer abspenstig zu machen versuchten, daß die offen darüber sprachen, sie begriffen nicht, wie jemand an ihr Gefallen finden könne. Gewiß, hübsch, sehr hübsch sei sie ja, aber so lächerlich prüde und tugendhaft, daß jeder Mann schon in den allerersten Tagen seiner Ehe eine ganz große Enttäuschung an ihr erleben würde. Doch das alles vermochte die Herren nicht davon abzuhalten, weiter um sie zu werben, und da die irgendwie in Erfahrung gebracht haben mußten, daß sie für die verschiedensten Gebiete der Kunst ein mehr als gewöhnliches Interesse und Verständnis besaß, versuchte ein jeder sie auf seine Art zu gewinnen. Der eine schwärmte ihr von seiner Liebe für die Musik vor, der zweite sprach ihr davon, daß es für ihn auf Reisen nichts Schöneres gäbe, als die Museen zu besuchen. Der dritte unterhielt sich mit ihr über Literatur und betonte, daß es auf diesem Gebiet keine irgendwie nennenswerte Neuerscheinung gäbe, die er nicht nur sofort läse, sondern auch seiner Bibliothek einverleibe, bis dann einer kam, der gar nicht viel Worte machte, sondern ihr nur in die Augen sah, in ihre Augen, die dem, der in ihnen zu lesen verstand, so unendlich viel sagten.

Und der große, breitschultrige, kräftige, aber trotzdem sehr elegante Ingenieur Otto Burgsdorf konnte mit seinen großen dunklen Augen, in denen eine verhaltene starke Sinnlichkeit loderte, lesen. Das sah sie bei dem ersten Blick, den er ihr zuwarf und bei dem sie sofort bemerkte, daß er sie erkannte, wie sie ihrerseits auch gleich ihn erkannte.

Und in derselben Minute, da sie einander in die Augen sahen, wußte sie: Das ist der Mann, den du brauchst, um glücklich zu werden und zu bleiben, das ist der, auf den du so lange gewartet hast, von dem du wußtest, daß er kommen würde, um dich in das Hochzeitsgemach und in das Hochzeitsbett zu holen. Denn das stand schon lange bei ihr fest, wenn sie heiratete, sollte das Glück ihrer Ehe in der Hauptsache auf der geschlechtlichen Liebe begründet sein und auf der begründet bleiben. Nicht umsonst wollte sie ihre wilden, heißen Leidenschaften jahraus, jahrein einzig und allein für ihren Mann aufgespart haben, sie wollte ihm jederzeit alles geben, was sie ihm in der Hinsicht nur schenken konnte. Zu jeder Stunde, sei es bei Tag oder bei Nacht, sollte er sich nehmen dürfen, was er wünschte, zumal sie einmal irgendwo gelesen hatte: Die Frau muß immer für ihren Mann bereit sein und ihn nicht, wenn er sie in Liebe begehrt, auf eine spätere Stunde oder gar auf einen späteren Tag vertrösten. Die Frau, die das tut, schickt damit ihren Mann zu andern Frauen, ebenso wie sie ihn in das Wirtshaus treibt, wenn er am eigenen Tisch keine genügende oder keine ihm zusagende leibliche Nahrung findet. Den Hunger des Magens aber konnte man zur Not unterdrücken, den Hunger der Sinne aber nicht.

Ihr Mann aber sollte bei ihr nie, niemals nach Liebe hungern, ohne daß sie ihrerseits deswegen so in der Liebe aufgehen wollte, daß sie darüber alles andere oder gar ihre Hausfrauenpflichten vergaß. Allein, wie sie es während ihrer jungen Mädchenjahre so oft gewesen, hatte sie Zeit genug gehabt, viel über die Liebe und über das Liebesleben zu lesen, und ihre Eltern wären sicher oft entsetzt gewesen, wenn die etwas von den Büchern geahnt hätten, die sie sich heimlich in ihr Zimmer schmuggelte und dort bei verschlossenen Türen oder des Abends in ihrem Bett verschlang. Aber wenn die Lektüre ihre Sinne auch oft so entflammte, daß sie zuweilen im stillen mit derselben Inbrunst nach einem Mann schrie, wie der berühmte Hirsch nach dem nicht minder berühmten frischen Wasser, sie las die Bücher im Gegensatz zu so vielen andern jungen Mädchen nicht, um sich an denen zu erregen, um ihre Phantasie zu beschmutzen, sondern um aus ihnen zu lernen, wie sie ihrem späteren Mann eine so vollendete Geliebte werden könne, daß er nie, aber auch nie den Wunsch bekäme, eine andere Frau als sie auch nur anzusehen. Und schon in jenen Nächten gelobte sie sich immer und immer wieder das eine: Sollte ihr Mann, trotzdem sie später alles tun würde, was sie nur konnte, um ihn an sich zu fesseln, sie jemals betrügen und sollte sie das so oder so erfahren, dann würde sie ihn sofort wieder betrügen. Zugleich aber hoffte sie natürlich, daß es schon um ihrer selbst willen nie dahin kommen würde, denn tugendhaft, wie sie es als junges Mädchen gewesen, wollte sie es natürlich erst recht als verheiratete Frau bleiben.

Und ihr Otto würde ihr auch treu sein und treu bleiben, obgleich sie sich eingestand, daß es wohl keine junge Braut gäbe, die nicht fest davon überzeugt sei, daß gerade ihr späterer Mann in dem Punkt eine Ausnahme bilden würde. Jawohl, eine Ausnahme, denn sie hatte einmal von einer Mutter gehört, die ihrer Tochter erklärte: „Mein liebes Kind, ich will deinem Glück nicht im Wege stehen, heirate den Mann, den du dir ausgesucht hast, wenn du glaubst, nicht ohne ihn leben zu können. Aber bedenke eins, es gibt auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Mann, der treu ist, und deshalb wird es dir auch deiner nicht sein. Das sage ich dir vorher, damit du dich beizeiten damit abfindest und damit du nicht später weinend zu mir kommst, um mir wegen der Untreue deines Mannes die Ohren voll zu klagen. Und wenn du mir trotzdem damit kommen solltest, bin ich nicht für dich zu sprechen, denn ich habe dich vorher gewarnt. Nun mach', was du willst.”

Und als die Tochter die Mutter fragte: „Mutter, was du da sagts, ist so entsetzlich, daß ich es nicht glauben kann. Hat der Vater denn auch dich betrogen?” Da hatte die Mutter ausweichend geantwortet: „Mein liebes Kind, ich habe es dir schon einmal gesagt, es gibt auf der ganzen Welt keinen einzigen Mann, der seiner Frau treu ist, einmal kommt für jeden die Stunde, in der er seine Frau betrügt.”

Aber trotz alledem, ihr Otto würde sie nicht betrügen, und wenn doch, dann hatte sie, wenn auch zwar kein gesetzliches, so aber dennoch ein Recht, ihn auch ihrerseits zu betrügen, und daß sie das auch tun würde, war das einzige, was sie in ihrem Schmerz, falls ihr Otto auch ihr vielleicht nicht treu sein sollte, etwas würde trösten können.

Der Gedanke verließ sie fortan nicht mehr, und wie sie sich auf der einen Seite mit den heiligsten Eiden schwur, ihrem Mann treu zu bleiben, solange er ihr die Treue hielt, so gelobte sie sich andererseits mit einem nicht weniger heiligen Eide, ihrem Mann Gleiches mit Gleichem zu vergelten, wenn er jemals zu einer anderen Frau oder zu einem jungen Mädchen gehen sollte. Und das schwur sie nicht nur sich selbst, das schwur sie, als sie bald darauf ihren Otto heiratete, auch vor Gott, denn als sie vor dem Altar stand und die Frage des Geistlichen mit einem lauten, deutlichen Ja beantwortete, da war dieses ihr Ja nicht nur das Gelöbnis ihrer späteren Treue, sondern auch das ihrer späteren Untreue, falls ihr Mann ihr in der Hinsicht mit einem schlechten Beispiel vorangehen sollte.

Aber als sie verheiratet waren, konnte sie zu ihrer Freude bald einsehen, daß ihr Mann wirklich nicht im entferntesten daran dachte, ihr jemals untreu zu werden, denn es existierte für ihn tatsächlich keine andere Frau auf der Welt, und doch waren ihnen auf ihrer Hochzeitsreise, die sie durch viele große Städte und in diesen nur in die vornehmsten Hotels führte, viele schöne, elegante und verführerische Frauen begegnet, und doch hatte er kaum eine von allen auch nur angesehen.

Nein, sie brauchte es wirklich nicht zu befürchten, daß er ihr untreu werden würde, denn wie es auf der Hochzeitsreise war, so blieb es auch später in ihrer Ehe, und doch war er womöglich noch leidenschaftlicher als sie, war es wenigstens im gleichem Maße, und seine gesunde, starke, noch durch keine Ausschweifungen verbrauchte Natur ermöglichte es ihm, ihnen beiden immer aufs neue Stunden des höchsten Glücks und des seligsten Vergessens zu schenken, zumal der leidenschaftliche Wunsch, den sie beide hegten, kein Kind zu bekommen, in Erfüllung ging. Gewiß, sie war sehr kinderlieb, und später, wenn sie älter waren, wollten sie wenigstens zwei Kinder haben, aber vorläufig konnten sie beide noch keins gebrauchen, denn sie wollte und mußte hübsch bleiben. Ihr schlanker Körper durfte sich nicht entstellen, und jede Geburt, selbst die leichteste, hinterließ ja oft Spuren, die nicht wieder vergingen. Und gerade sie hatte ja nicht geheiratet, um Mutter, sondern um die Geliebte, die einzige Geliebte ihres Mannes zu werden und zu bleiben. Aber auch seinetwegen durfte sie kein Kind bekommen, denn wie sollte er es wohl ertragen, wenn er sie schonen oder auf ärztlichen Befehl gar wochenlang meiden mußte. Sicher, treu bleiben würde er ihr auch dann, das hatte er ihr, als sie einmal darüber sprachen, mit Wort und Handschlag gelobt, aber sie war trotzdem schon seinetwegen dem Himmel aufrichtig dankbar dafür, daß der Klapperstorch stets an ihrem Hause vorbeiflog.

Und ihr Mann war und blieb ihr nicht nur unwandelbar treu und zugleich der feurigste und zärtlichste Liebhaber, den sie sich nur hätte wünschen können, sie hatte auch sonst alle Ursache, mit ihm sehr glücklich und sehr zufrieden zu sein. Infolge seiner Tüchtigkeit war er zum ersten Direktor seiner Fabrik ernannt worden und bezog als solcher außer seinem hohen Gehalt einen sehr bedeutenden Gewinnanteil, der es ihm ermöglichte, ihr, soweit ihre eigenen Mittel dazu nicht ausreichten, jeden, wenigstens beinahe jeden ihrer vielen Wünsche zu erfüllen, und deren hatte sie wirklich sehr viele, das aber nicht, weil sie etwa leichtsinnig oder verschwenderisch gewesen wäre. O nein, deshalb nicht, sondern lediglich, weil sie nun einmal den Ruf hatte, nicht nur die schönste, sondern auch die eleganteste und die am geschmackvollsten angezogene junge Frau zu sein. Wer aber einen solchen guten Ruf besaß, mußte den natürlich auch hüten und bewahren, damit er nicht den leisesten Flecken erhielte.

Auf diesen ihren Ruf war sie ebenso stolz wie auf ihren Mann und wie auf das prachtvolle Auto, das ihr Mann ihr letzthin zum Geschenk gemacht hatte, ihr lieber, lieber Mann, um den alle ihre Freundinnenn sie beneideten und mit dem sie nach wie vor, wenigstens nach der Meinung der Welt, in der denkbar glücklichsten Ehe lebte. Aber ganz glücklich war sie zuweilen, was sie aber natürlich keinem Dritten anvertraute, zuweilen [sic! D.Hrsgb.] doch nicht mehr, und das hing damit zusammen, daß ihre starke Sinnlichkeit in der Ehe auf die Dauer bei ihrem Mann doch nicht die volle Befriedigung fand, die sie erwartet hatte. Sicherlich, an seiner Liebe zu ihr lag das nicht, denn sie wußte ja am besten, wie lieb er sie hatte, und er tat ja auch alles, was er nur konnte, um sie ganz, ganz glücklich zu machen, aber oft blieben ihre Wünsche doch unerfüllt, und das um so mehr, je müder und abgespannter er des Abends oft aus seiner Fabrik nach Hause kam. Da war er zuweilen so fertig, daß er nur den einen Wunsch hatte, zu schlafen, und daß er manchmal schon eingeschlafen war, noch bevor sie sich hatte ausziehen und ihm in ihrer verführerischen Nachttoilette den Gutenachtkuß geben können. Und doch beeilte sie sich mit dem Auskleiden stets so sehr, wie sie nur konnte, denn sie wußte, kam sie mit ihrem Kuß auf den Lippen noch rechtzeitig an sein Bett, dann blieb es nicht nur bei dem Kuß, denn sie hatte, wie er ihr einmal gestand, eine Art zu küssen, die selbst eine einbalsamierte Mumie zu einer Liebesstunde entflammen konnte. Trotzdem aber war es ihr, wenn er erst schlief, noch nie gelungen, ihn wieder wach zu küssen. Wenn er schlief, dann schlief er, da war für sie nichts zu wollen.

Das wußte sie, aber sie wußte auch noch eins, daß das für sie ganz außerordentlich traurig war, denn gerade sie hatte doch nicht geheiratet, damit ihr Mann ihr etwas vorschlief. Und wenn sie dann ihrerseits noch stundenlang wach lag, dachte sie darüber nach, ob er ihr nicht vielleicht doch untreu wäre, weil er einschlief, und weil er hatte einschlafen können, ohne ihr seine Liebe zu schenken. Sie hatte als junges Mädchen einmal einen französischen Roman gelesen: „L'amour quotidienne”, in dem die gleich ihr sehr sinnlich veranlagte junge Frau den lieben Gott jeden Abend bat, ihr nicht nur das tägliche Brot, sondern auch die tägliche Liebe zu schenken, die sie zu ihrem Wohlbefinden zum mindesten ebenso notwendig, wenn nicht noch viel notwendiger brauchte als das Brot. Hatte man einmal kein Brot, dann konnte man es entbehren oder man aß statt dessen Kuchen und Zwieback. Was aber gab es als Ersatz für die Liebe, die man vor dem Einschlafen entbehren mußte? Und wie war es nur möglich, daß ein Mann, der seine junge, hübsche, verführerische Frau an seiner Seite liegen hatte, auch nur ein einziges Mal einschlafen konnte, ohne sie voll stürmischer Leidenschaft an sich gezogen zu haben.

Das verstand sie nicht, das ging, obgleich sie sonst alles andere als dumm und beschränkt war, über ihren Horizont, und deshalb gestand sie sich immer wieder: Er ist dir nicht treu, er betrügt dich, wie sollte es auch wohl anders sein, da es auf der ganzen Welt in allen Zonen, in denen Menschen wohnen, keinen einzigen Mann geben soll, der seiner Frau jahraus, jahrein treu bleibt. Und sie waren nun doch schon bald fünf Jahre miteinander verheiratet.

Und nicht nur, daß sie dann, obgleich sie selbst nicht einen Augenblick ernsthaft daran glaubte, dennoch felsenfest davon überzeugt war, daß er ihr nicht treu sei, sie wünschte sich dann oft, daß sie die Beweise für diese seine Untreue erhielte, damit auch sie ihm untreu werden könne. Und dabei war sie doch eine durch und durch tugendhafte Frau! Eine so tugenhafte, daß in der Hinsicht ihr Ruf in ihren Kreisen ebenso über jeden Zweifel erhaben war wie der, die eleganteste und am geschmackvollsten angezogene junge Frau zu sein. Aber dennoch, wenn ihr Mann sie betrog, mußte sie ihn wieder betrügen. Jawohl, das mußte sie, das hatte sie sich nicht nur als junges Mädchen zahllose Male geschworen, sondern das hatte sie auch in der Kirche vor allen Leuten und namentlich vor Gott mit einem lauten vernehmlichen Ja bestätigt. Und wenn ihr Mann seinen Schwur, ihr treu zu bleiben, nicht gehalten hatte, dann mußte sie wenigstens den ihren, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, erfüllen. Das war sie sich selbst schuldig, denn im Gegensatz zu einem Mann schwort eine Frau nicht leichtsinnig darauflos, sondern sie überlegt sich das, was sie schwört, vorher sehr, aber auch sehr genau und bleibt dann ihrem Eide treu. Treu bis zum Tode.

Wenn ihr Mann ihr die Treue nicht hielt, durfte sie ihm die auch nicht halten, und sie durfte das auch seinetwegen nicht. Sie selbst wußte ja am besten, wie sehr sie die tägliche Liebe gebrauchte, um jung, frisch, hübsch und gesund zu bleiben. Würde ihr Mann, ihr Otto, der sie so über alles liebte und der so stolz auf ihre Schönheit und auf die Triumphe war, die sie überall feierte, nicht am meisten darunter leiden, wenn sie vor der Zeit alterte und verblühte, wenn sie eingefallene Backen, tiefe Ringe unter den Augen, entsetzliche, sie entstellende Falten und Runzeln bekam, wenn ihr wundervolles dunkelbraunes Haar vor der Zeit ergraute, wenn nicht gar weiß wurde, wenn die ungestillten Leidenschaften sie außerdem noch krank und hysterisch machten, daß sie womöglich in eine Nervenheilanstalt gebracht werden mußte? Durfte sie ihren Mann dem aussetzen, daß sie vielleicht schon bald eines Tages derartig zusammenbrach? War ihm dann noch mit einer Frau gedient, und würde er ihr dann, soweit er es nicht schon heute war, nicht erst recht untreu werden, ohne daß sie ihm später seine Untreue noch vergelten konnte, weil kein Mann sie mehr begehren würde? Und gab es für einen Mann etwas Traurigeres, als eine Frau zu besitzen, die keinem andern Mann mehr gefiel?

Nein, das gab es nicht. Und je länger sie in vielen schlaflosen Nächten, in denen ihr müder Mann ihr etwas vorschlief, darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu der Erkenntnis, daß er sie betrog oder daß er sie wenigstens bald betrügen müsse, damit sie für ihn so jung, so hübsch und so verführerisch blieb, wie sie es war.

Sicherlich, auch das sagte sie sich immer wieder, ganz leicht würde es ihr im entscheidenden Augenblick natürlich nicht werden, ihren Schwur einzulösen, und sie hätte den vielleicht, nein sicher, niemals geschworen, wenn sie es vorausgeahnt hätte, daß für sie je die Stunde kommen würde, in der sie ihn halten müsse. Nein, leicht würde es ihr nicht werden, denn sie war doch eine tugendhafte Frau. Aber würde sie das nicht auch in Zukunft bleiben, wenn sie ihrem Mann nicht mehr allein gehörte? War sie weniger tugendhaft, wenn sie sich für ihn, einzig und allein für ihn opferte, um nur, aber auch nur für ihn weiterhin die anmutige und bezaubernde Erscheinung zu bleiben, die sie war? Nein, kein Mensch konnte und würde sie deshalb verurteilen, einmal, weil man in ihren Kreisen über derartige Dinge glücklicherweise sehr vernünftig dachte, dann aber auch, weil sie als tugendhafte Frau sich selbstverständlich nur einem Mann hingeben würde, auf dessen absolute Verschwiegenheit und auf dessen Ehrenhaftigkeit sie sich felsenfest verlassen konnte. Und auch sie selbst würde schon so schlau und so vorsichtig sein, daß kein Dritter jemals etwas davon erfuhr.

Aber trotz alledem, ehe sie ihrem Mann untreu wurde, mußte er ihr untreu werden, denn sie hatte sich nicht nur geschworen, ihm untreu zu werden, wenn er ihr da mit schlechtem, aber in diesem besonderen Falle mit einem vielleicht guten Beispiel voranging, sondern sie hatte ihm auch die Treue geschworen, solange er die hielt, und die durfte sie als tugenhafte Frau, die sie war und die sie bis zu ihrem Tode auch bleiben wollte, unter gar keinen Umständen zuerst brechen, denn im Gegensatz zu den Männern, die blindlings darauflos schwören und alles schwören, was man von ihnen verlangt, hatte sie sich ihren Eid sehr reiflich überlegt. Nein, sie selbst durfte niemals mit der Untreue beginnen, und selbst nicht auf die Gefahr hin, daß sie darüber mit ihren vierundzwanzig Jahren plötzlich eine an den Krankenstuhl gefesselte, schwachsinnige, frühzeitige Greisin würde. Nein, nicht sie, sondern ihr Mann mußte mit dem Ehebruch den Anfang machen, wenn er sie weiterhin so vernachlässigte.

Doch wie sollte sie ihn um seiner selbst willen, dann aber auch zum ganz kleinen Teil ihretwegen, da sie trotz ihrer beinahe übergroßen Liebe zu ihm wenig Neigung verspürte, schon jetzt alt und krank zu werden, wie sollte sie ihn dahin bringen, daß er ihr untreu wurde? Sie selbst konnte das überhaupt nicht, sie konnte ihm, so gut sie es auch mit ihm meinte, nicht zureden, sich eine Freundin zu nehmen oder sie eines Abends in lustiger weiblicher Gesellschaft zu vergessen. Nein, das konnte sie nicht, denn was hätte er da wohl von ihr denken sollen? Und wenn sie versucht hätte, ihm ihren Gedankengang klar zu machen, hätte er sie natürlich schon deshalb nicht verstanden, weil sie ihm ja verschweigen mußte, daß sie ihn sofort wieder betrügen würde. Ja, das mußte sie ihm verschweigen, denn beschränkt, wie selbst kluge Männer so oft, nein, meistens sind, hätte er dafür kein Verständnis gehabt und es nicht begriffen, daß sie den Treubruch doch nur, aber auch nur seinetwegen begehen würde.

Nein, sie selbst konnte ihn nicht dahin bringen, wo sie ihn haben wollte, das wäre, von allem andern ganz abgesehen, auch nicht tugendhaft gewesen. Aber was für sie eine Unmöglichkeit war, gelang vielleicht einem andern, wenn sie, nein, wenn der es geschickt anfing.

Und sie wußte auch sofort, an wen sie in erster Linie als an diesen andern dachte, an den Bankdirektor Dr. Vollmer, der, in den allerbesten Jahren stehend, als schwerreicher Junggeselle ein großer Don Juan vor dem Herrn war und der in dem Ruf stand, bei den Frauen auch ein fabelhaftes Glück zu haben, ohne daß man allerdings wußte, welche Dame oder welche Damen ihm jemals ihre Gunst geschenkt hatten, denn die Damen sprachen natürlich nicht darüber, und er selbst war in allem, was seine eigene Person und seine Erlebnisse, ganz einerlei welcher Art, betraf, von einer geradezu beispiellosen Verschwiegenheit.

Unwillkürlich mußte Frau Nina leise vor sich hin lachen, als sie nun an den Doktor dachte, der seit langem einer ihrer eifrigsten Courmacher war, zugleich aber auch der frechste und unverschämteste und dabei doch der lustigste und netteste, denn wann und wo sie sich auch immer trafen, jedesmal begann er die Unterhaltung damit, daß er ihr mit ganz vorwurfsvoller Stimme erklärte: „Gnädige Frau, ich habe Sie gestern nachmittag schon wieder vergebens zum Tee bei mir erwartet,” und während er das sagte, sah er sie mit seinen hübschen dunklen Augen so verliebt und schmachtend an, daß sie immer wieder hellauf lachen mußte, zumal sie ihm natürlich noch nie versprochen hatte, jemals zum Tee zu ihm zu kommen. Aber er hörte nicht auf, sie zu bitten, sie möchte sich doch endlich einmal sein schönes, elegantes Junggesellenheim ansehen oder, wenn das aus irgendeinem Grunde nicht ginge, möchte sie ihm wenigstens erlauben, sich ihre Wohnung, obgleich er die ja allerdings schon sehr genau kenne, noch einml in aller Ruhe ansehen zu dürfen, am liebsten an einem Tage, an dem ihr Mann auf Reisen sei und an dem ihre Dienstboten beurlaubt wären.

Bisher hatte sie über seine lustigen Frechheiten nur gelacht, und er selbst hatte seine Worte sicher auch nicht allzu ernsthaft gemeint, denn er wußte doch, daß gerade sie eine durch und durch tugendhafte Frau war und auch stets eine solche bleiben würde. Jetzt aber lockte und reizte es sie, sein freudestrahlendes Gesicht zu sehen, das er machen würde, wenn sie ihm erklärte, es sei nicht ausgeschlossen, daß sie sich seine Wohnung einmal ansähe. Und wenn er, damit sie auch mit gutem Gewissen kommen konnte, vorher ihren Mann verführte, und wenn der sich von ihm verführen ließ, so war das eine Sache, die sie persönlich eigentlich gar nichts anging. Das hatte ein jeder der beiden mit sich allein abzumachen, und ein jeder von ihnen hatte die Folgen zu tragen, die allerdings für den einen erfreulicher sein würden als für den andern, trotzdem ihr Mann natürlich nie etwas davon erfahren würde, daß sie um seine Untreue wußte, denn sie mußte um ihrer selbst willen viel zu stolz sein, um jemals mit ihm darüber zu sprechen.

Wohl aber würde sie bei der nächsten Gelegenheit mit dem Doktor über das sprechen, was sie beschäftigte. Aber nein, gestand sie sich gleich darauf, das durfte sie nicht, denn sie war doch eine tugendhafte Frau und wollte und mußte das auch bleiben. Nein, direkt sagen konnte sie es ihm unmöglich, daß sie ihn erhören würde, sobald sie die Beweise dafür hatte, daß ihr Mann ihr untreu sei. Wohl aber konnte sie ihm zu verstehen geben, daß sie selbstverständlich nicht einen Augenblick daran dächte, ihrem Mann untreu zu werden, solange der ihr über jeden Zeifel erhaben treu sei, denn er, der Doktor, müsse doch selbst einsehen, daß es mehr als schlecht von ihr wäre, ihrem Mann seine Treue mit ihrer Untreue zu lohnen.

Einsehen würde er das aber natürlich absolut nicht. Im Gegenteil, er würde versuchen, sie zunächst davon zu überzeugen, daß in einer Ehe einer der beiden Gatten doch unbedingt mit der Treulosigkeit anfangen müsse, und er würde ihr weiter auseinandersetzen, er sähe es bei dem besten Willen nicht ein, warum gerade ihr Mann derjenige sein solle, welcher, zumal der im Gegensatz zu ihr doch auch sonst noch viel und vielerlei zu tun habe. Und solange würden sie sich über diesen Punkt streiten, bis er ihr zum Schluß sicherlich erklärte: „Schön, gnädige Frau, bleiben Sie Ihrem Mann so lange treu, wie er Ihnen. Aber nicht wahr, das versprechen Sie mir, wenn ich Ihnen eines Tages den Beweis dafür erbringe, daß Sie Ihrerseits keine Veranlassung mehr haben, Ihrem Gatten die Treue zu halten, dann darf ich Sie ganz bestimmt an einem der nächsten Nachmittage zum Tee bei mir erwarten?”

Ja, das durfte er, denn sie war schon längst neugierig darauf, seine schönen Räume kennenzulernen. Er mußte nach dem, was ihr Mann, der schon öfter bei ihm gewesen war, ihr darüber erzählte, wirklich sehr schöne Kunstschätze haben, ganz besonders aber hatte er einen sehr sinnlichen Mund, von dem sie sich längst gern einmal hätte küssen lassen, denn der verstand es sicher, so aufregend zu küssen, daß sie leise mit den Zähnen knirschte, wenn sie in schlaflosen Nächten nur daran dachte.

Aber daß sie später gern, sehr gern zu ihm kommen würde, durfte sie ihm natürlich nicht gestehen. Das einzige, was sie ihm, und auch das nur lachend und übermütig, zur Antwort geben konnte, war ein „Vielleicht”, das viel versprach, aber zu nichts verpflichtete, und das so klingen mußte, daß es seine eigene Schuld war, wenn er es als eine feste Zusage nahm. Eine solche durfte sie ihm auch schon deshalb nicht geben, weil die ihrem späteren Besuch ja im voraus jeden Reiz geraubt hätte. Er durfte nicht wissen, daß sie kam, er mußte lediglich hoffen, daß sie käme. Und wenn sie dann wirklich erschien, würde die Leidenschaft, mit der er sie an sich zog, nur um so größer und stürmischer sein.

Nein, irgendwelche Gewißheit durfte ihr „Vielleicht” ihm unter keinen Umständen gebe. Trotzdem aber würde er es natürlich als eine feste Zusage auffassen und nichts unversucht lassen, um ihren Mann dahin zu bringen, daß er ihr untreu würde.

Und das schwur er ihr auch, als sie sich bald darauf auf einer Gesellschaft trafen, als er sie, wie schon so oft, zu Tisch führte, und als die Unterhaltung die von ihr gewünschte Wendung genommen hatte. Und nicht nur, daß er ihr das schwur, er wußte auch sofort, wie er seinen Schwur einlösen könne. In dem großen Varieté trat augenblicklich eine geradezu bildschöne russische Tänzerin auf, deren leidenschaftliches Temperament in ihren Darbietungen deutlich zum Ausdruck kam. Er selbst hatte sie vor einigen Tagen persönlich kennengelernt, und nur ein Zufall hatte es verhindert, daß er bisher zu ihr noch in keine intime Beziehung getreten war. Was er bisher versäumt, hatte er baldigst nachholen wollen. Nun aber wollte er seinerseits verzichten und ihren Mann mit der Tänzerin zusammenbringen. Er würde die beiden, und zwar nur die beiden, eines Abends zu einem kleinen Souper zu sich einladen, und er verbürgte sich dafür, daß ihr Mann von der Tänzerin derartig entzückt sein würde, daß er sie um Erlaubnis bäte, sie in ihr Hotel zu begleiten, und daß er sich dort nicht vor der Tür, sondern erst nach einigen Stunden in ihrem Zimmer von ihr verabschiede.

In allen Einzelheiten setzte er ihr diesen Plan, der blitzschnell in seinem Gehirn entstanden war, auseinander, und mit klopfendem Herzen, mit schlagenden Pulsen und mit vor Erregung leise zitternden Nasenflügeln hörte sie ihm zu. Ihre Sinnlichkeit war erwacht, und die erwachte um so mehr, je leidenschaftlicher der Doktor auf sie einsprach, je deutlicher seine Augen ihr verrieten, daß und wie sehr er sie begehrte, je länger sie ihn selbst ansah, und je hübscher sie ihn fand, so daß sie sich schließlich im stillen wohl noch mehr nach ihm sehnte, als er sich nach ihr, zumal die letzten Nächte an der Seite ihres schlafenden Mannes für sie so traurig gewesen waren, wie die einsamen Nächte einer jungen Witwe. Alles an ihr zitterte und bebte vor gewaltsam verhaltener Leidenschaft, aber als er endlich schwieg und sie erwartungsvoll ansah, lachte sie dennoch anscheinend nur hell und übermütig auf, bevor sie ihm neckend zurief: „Das haben Sie sich ja alles sehr schön ausgedacht, lieber Freund, aber glauben Sie wirklich, daß Ihnen Ihr Plan gelingen wird? Da kenne ich meinen Mann doch besser, er liebt mich.”

„Das ist doch selbstverständlich, gnädige Frau, denn wer liebt sie nicht?” erwiderte er galant, „aber trotzdem wird Ihr Mann der Versuchung unterliegen, denn von Ihnen abgesehen ist die noch nie in so sündhaft schöner Form an ihn herangetreten. Er wird unterliegen, es müßte denn sein, daß Sie, gnädige Frau, ihn warnen und ihm meinen Plan frühzeitig verraten. Aber nicht wahr, gnädige Frau,” bat er, „das werden Sie nicht tun, und Sie werden ihm auch nicht zureden, meine Einladung auszuschlagen? Nicht wahr, das versprechen Sie mir?”

Ja, das versprach sie ihm gern, und das konnte sie ihm auch versprechen, denn es wäre doch unrecht von ihr gewesen, ihrem Mann, der so fleißig war, das Vergnügen zu mißgönnen, einmal einen Abend in netter Gesellschaft zu verbringen, und es wäre auch unrecht von ihr gewesen, dem Doktor die Freude zu verderben, ihren Mann einmal wieder bei sich zu sehen, zumal sie aus eigener Erfahrung wußte, wie ärgerlich es war, wenn einer der Gäste absagte, ganz besonders, wenn man nur ganz wenige intime Freunde eingeladen hatte. Wie schwer war es da nicht, im letzten Augenblick noch einen andern Gast zu finden, der in den kleinen Kreis hineinpaßte? Und sie wußte ja auch, wie gern ihr Mann wirklich gute Tänzer und Tänzerinnen sah, und sicher würde die hübsche Russin nach dem Souper den Herren doch den einen oder den andern ihrer Tänze vorführen. Ganz falsch aber wäre es von ihr gewesen, wenn sie ihrem Mann von dem Plan des Doktors frühzeitig oder überhaupt etwas erzählen würde, denn das könnte ja so aussehen, als rechne sie auch nur mit der Möglichkeit, daß ihr Mann ihr untreu werden könne, und schon diese Möglichkeit auch nur auszusprechen kam gerade für ihren Mann einer Beleidigung gleich, die er nie und nimmer um sie verdient hatte. Und wenn er ihr an dem Abend oder an einem der nächsten Tage wirklich untreu werden sollte, wenn er nicht einmal der kleinen Versuchung, die bei dem Souper an ihn heran trat, würde widerstehen können, dann hatte er es auch nicht anders verdient, als daß sie auch ihm untreu wurde, denn dann hatte er ihr klar und deutlich bewiesen, daß es mit seiner Liebe zu ihr, wie es ja schon die Nächte zeigten, in denen er nur schlief, nicht allzu weit her war.

So sah sie dem Verlauf des Abends, zu dem der Doktor außer der Tänzerin nur noch ihren Mann einladen wollte, voller Interesse und Spannung entgegen, denn welche Frau brennt nicht vor Neugierde, zu erfahren, ob ihr Mann auf der ganzen weiten Welt wirklich nur sie mit seinem Herzen und mit seinen Sinnen oder wenigstens nur mit den letzteren liebt? Und als der Abend dann in der nächsten Woche gewesen war, da wußte sie, daß — sie nun ganz bestimmt den Doktor nicht zum Nachmittagstee besuchen könne, und das tat ihr seinetwegen aufrichtig leid, denn sie hatte ihm doch mehr als deutlich angemerkt, wie er sich auf ihren Besuch freute, und sie selbst hatte sich schon in allen Einzelheiten überlegt, was sie zu dem Tee anziehen würde. Sogar das dünne Hemdchen und das Spitzenhöschen, das sie tragen wollte, wenn sie zu ihm ging, hatte sie an dem Abend, als ihr Mann bei dem Doktor war und als sie selbst gerade nichts anderes zu tun hatte, unter ihren vielen verführerischen Wäschestücken als ganz besonders verführerisch hervorgesucht und für alle Fälle obenauf bereitgelegt. Und nun war es nichts mit diesen Fällen, gar nichts. Das hatte sie, als ihr Mann viel früher, als sie es für möglich gehalten, schon um zwei Uhr morgens nach Hause kam, gleich vermutet und des Doktors wegen auch befürchtet, denn sicher hatte er das kleine Souper so hübsch wie nur irgend möglich gestaltet, und sie wußte ja aus eigener Erfahrung, wie traurig es für den Gastgeber war, wenn ein kleines Fest nicht ganz nach seinen Wünschen verläuft. Und diese ihre erste Vermutung wurde ihr zur Gewißheit, als ihr Mann ihr auf ihre Bitten hin noch sofort ausführlich erzählte, wie es denn gewesen sei, obgleich er anfangs gar nichts erzählen wollte, sondern lediglich immer wieder betonte, sie solle jetzt schlafen, und er verstände es gar nicht, daß sie ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht schon längst eingeschlafen sei. Und ängstlich hatte er gefragt, ob ihr etwas fehle und ob er morgen nicht lieber den Arzt kommen lassen solle. Doch dem widersprach sie auf das bestimmteste, denn was ihr fehlte, konnte ihr ja kein Arzt aus keiner Apotheke verschreiben.

Aber vielleicht gab er ihr heute, was ihre Natur so sehnsüchtig verlangte. So schmiegte sie sich, als er sich niedergelegt hatte, zärtlich an ihn und lauschte dem, was er ihr zu berichten hatte. Und da gab er zunächst immer wieder seiner Verwunderung Ausdruck, daß der Doktor auf die doch zum mindesten seltsame Idee verfallen sei, gerade ihn als Dritten zu dem Souper einzuladen, das er der Tänzerin gab, denn ein Junggeselle wäre da doch viel besser am Platze gewesen. Immerhin hatte es ihm Spaß gemacht, die Russin einmal kennenzulernen und zur Auffrischung seiner Kenntnisse den ganzen Abend mit ihr französisch sprechen zu können, denn deutsch habe sie keine fünf Worte verstanden. Auch sei die Tänzerin lustig und amüsant gewesen, ganz abgesehen davon, daß sie auf ihrem Gebiet eine wirkliche Künstlerin sei, wenigstens habe er den Eindruck gewonnen, als sie nach Tisch einige Tänze zeigte, die sie in der Öffentlichkeit nicht vorführe, um nicht vielleicht hier und da Anstoß zu erregten. Aber so amüsant der Abend für einen Unverheirateten sicher auch gewesen sein würde, er selbst habe beständig die Empfindung gehabt, dort nicht am Platze zu sein, und wie gesagt, er begriffe nicht, was den Doktor veranlaßt habe, gerade ihn einzuladen. Jedenfalls sei er für seine Person froh gewesen, als seine Müdigkeit, die die beiden andern ihm anmerkten, ihm den Vorwand und die Möglichkeit gegeben hätten [sic! D.Hrsgb.], sich, ehe es noch später geworden sei, zu verabschieden und nach Hause zu fahren.

Und wie müde er war, bewies er ihr dadurch, daß er gleich darauf einschlief, ohne die Zärtlichkeit, mit der sie sich an ihn schmiegte, auch nur im geringsten zu erwidern und daß er sie auf morgen oder übermorgen vertröstete, als sie ihn fragte, ob er sie denn auch heute wieder wirklich so einschlafen lassen wolle.

Aber im Gegensatz zu ihm schlief sie noch lange nicht ein, schon weil sie so viel an den Doktor denken mußte, der sicher nun seinerseits an Stelle ihres Mannes die Tänzerin nach Hause begleitete und sich von der nicht vor der Tür, sondern erst nach längerer Zeit in ihrem Zimmer verabschieden würde, vorausgesetzt, daß sie die Nacht nicht bei ihm verbrachte. Und der Gedanke an die Küsse und Zärtlichkeiten, die die beiden miteinander austauschen würden, brachten ihr ohnehin so heißes Blut in immer größere Wallung, so daß sie mehr als einmal drauf und dran war, ihren Mann mit Gewalt zu wecken und ihn zu fragen: Warum hast du mich eignetlich geheiratet, wenn ich schon in so jungen Jahren beinahe Nacht für Nacht auf die Freuden der Ehe verzichten soll? Ich habe gerade dich erhört, weil ich felsenfest davon überzeugt war, daß unsere Naturen sich verstehen und ergänzen würden. Nun aber bereitest du mir eine Enttäuschung nach der andern, schämst du dich nicht?

Doch sie sah es voraus, daß ihr Mann sich nicht schämen, sondern vielmehr von ihr verlangen würde, sie solle sich schämen, daß sie nach wie vor das Glück der Ehe in erster Linie in dem Sinnesleben erblicke, und ferner würde er verlangen, sie solle sich schämen, weil sie ihm nicht einmal seine Nachtruhe gönne, die er doch dringend notwendig gebrauche, um am nächsten Tag frisch für seine Arbeit zu sein.

Sicherlich, so würde er zu ihr sprechen, denn die Männer verstanden es ja nun einmal alle nicht, sich in die Psyche und in das innerste Empfinden einer Frau, die ihren Mann über alles liebt und deshalb immer aufs neue auch von ihm Beweise seiner Liebe verlangt, hineinzudenken.

Gewiß, einen Beweis seiner Liebe hatte ihr der heutige Abend dadurch erbracht, daß er ihr treu blieb. Aber das war doch schließlich in der Hauptsache ein sogenannter negativer Beweis, an dem ihr sehr viel weniger gelegen war als an einem positiven. Und da ein negativer Beweis zuweilen doch gar nichts bewies, und da er ihr den positiven auch heute wieder schuldig geblieben war, begann sie zum erstenmal sehr ernstlich an seiner Liebe zu zweifeln , und sie fragte sich, ob ihr Eid, ihm die Treue zu halten, solange er ihr die hielte, nicht vielleicht doch sehr unüberlegt und übereilt gewesen sei, denn was hatte sie von einer Treue, die sich darin betätigte, daß er neben ihr, anstatt, wenn sie den häßlichen Ausdruck gebrauchen durfte, bei ihr schlief? Da konnte er ihr ebensogut untreu sein, das aber nicht, damit auch sie ihm dann untreu würde, sondern weil seine Treue ihr ja doch nichts nützte.

Und dann fragte sie sich, ob sie ihren Schwur wohl wirklich schon morgen gehalten hätte, wenn ihr Mann heute nacht mit der Tänzerin zusammengeblieben wäre. Zum Tee hätte sie den Doktor natürlich sofort besucht, schon um endlich seine Kunstschätze kennenzulernen, aber ob dann gleich der erste Besuch so verlaufen wäre, wie der Doktor es sich sicher gewünscht hätte? Möglich wäre es ja immerhin gewesen, aber nicht sehr wahrscheinlich, oder doch? Darauf fand sie keine Antwort, denn sie vermochte es sich nicht recht vorzustellen, daß sie sich schon am ersten Nachmittag bei ihm und vielleicht sogar vor ihm hätte ausziehen sollen. Aber das letztere hätte sie ganz bestimmt unter gar keinen Umständen getan, oder vielleicht gerade, denn sie wußte ja aus den ersten glücklichen Jahren ihrer Ehe, wie es die Leidenschaften der Männer entflammt, wenn eine junge, schöne, elegante Frau sich vor ihren Augen entkleidet. Und wenn sie das morgen nicht hätte tun wollen, würde sie doch auch nicht nötig gehabt haben, sich für den Besuch bei ihm das entzückende Hemd und ihr verführerischstes Spitzenhöschen anzuziehen.

Na, nun kam sie aber ja gar nicht in die Lage, auch nur den Tee bei ihm zu trinken, und das tat ihr wirklich sehr leid. Bis sie plötzlich, wenn auch ganz gegen ihren Willen, beinahe hell aufgelacht hätte, weil sie sich vorstellte, was der Doktor wohl morgen für ein Gesicht machen würde, wenn sie sich am Mittag, wie sie es heute telephonisch miteinander verabredet hatten, im Stadtpark trafen, damit er ihr dort ungestört seinen Bericht erstatten könne.

Mit dem Gedanken an das Gesicht schlief sie ein, mit dem Gedanken erwachte sie wieder und vermochte kaum die Zeit zu erwarten, bis sie sich auf den Weg machen konnte. Pünktlich auf die Minute war sie zur Stelle, aber der Doktor erwartete sie trotzdem bereits und machte tatsächlich ein noch viel wütenderes und enttäuschteres Gesicht, als sie es geglaubt hatte, so daß er ihr mehr als leid tat. Aber das durfte sie ihm natürlich nicht zeigen, denn daraus hätte er den Schluß ziehen können, daß es auch ihr leid täte, daß, ihr Mann ihr treu geblieben wäre und den Gedanken durfte sie, tugendhaft wie sie war und wie sie fortan auch bleiben würde, nie und nimmer in ihm wach werden lassen. Deshalb tröstete sie ihn auch nicht, sondern lachte nur hell und übermütig auf, bevor sie ihm zurief: „Na, Doktor, habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt, daß es für meinen Mann auf der ganzen Welt keine andere, wenn auch noch so schöne Frau gibt als nur mich? Daß er mir treu ist und mir treu bleiben wird?”

„Wissen Sie, was Ihr Mann in Wirklichkeit ist, gnädige Frau?” unterbrach er sie mehr als erregt. „Nicht nur ein Trottel, sondern der größte Trottel, der mir jemals begegnete.”

„Na erlauben Sie mal, Herr Doktor,” schalt sie ernstlich beleidigt, denn sie verspürte nicht die leiseste Neigung, mit einem Trottel verheiratet zu sein.

Doch er ließ sich nicht beirren, sondern blieb bei seiner Ansicht: „Was ich eben sagte, gnädige Frau, halte ich aufrecht, selbst wenn ich Sie dadurch für immer erzürnen sollte, denn Ihr Mann hat sich gestern abend wie ein Quartaner benommen, und dabei habe ich alles getan, was ich nur konnte, um ihn aus seiner Zurückhaltung herauszubringen. Ich habe ihm die schönsten Weine vorgesetzt und ihn einmal länger als eine Viertelstunde mit der Tänzerin allein gelassen, dieses Alleinsein vorher aber so geschickt eingefädelt, daß er die Absicht unmnöglich merken konnte. Aber als ich, bevor ich wieder in das Zimmer trat, vorsichtig durch die Portièren sah, saß Ihr Mann auf demselben Fleck wie vorher, durch einen Tisch von der Tänzerin getrennt, und unterhielt sich mit ihr über die Anna Palowna, über die Sent' Mahesa, über Grete Wiesenthal und über einige andere weltberühmte Tänzerinnen, so daß die Russin mir hinterher erklärte, ein so langweiliger Peter wäre ihr noch nie vorgekommen, denn er sei der erste Mann, der ihr nicht das kleinste Kompliment über ihre Beine gemacht oder auch nur den leisesten Versuch unternommen habe, ihre Gunst zu gewinnen.”

Frau Nina war gewiß eine tugendhafte Frau, aber selbst eine solche hört es nicht gern, daß ein weibliches Wesen, noch dazu eins, das an Bildung und auch sonst gesellschaftlich unter ihr steht, ihren Mann einen langweiligen Peter genannt hat. So ärgerte sie sich denn auch maßlos über das Urteil, das die Tänzerin über ihren Mann fällte, und schon um das nicht zu zeigen, lachte sie abermals hell und übermütig auf, bevor sie meinte: „Ihre Freundin kennt meinen Mann zu wenig, sonst hätte sie anders über ihn geurteilt, und Ihre Freundin — denn nicht wahr,” unterbrach sie sich absichtlich, da sie vor Neugierde die Frage nicht länger unterdrücken konnte, „die hübsche Russin ist doch heute nacht Ihre Freundin geworden?”

„Keine Spur,” verteidigte er sich. „Ich habe sie nicht einmal selbst bis zu ihrem Hotel begleitet, sondern sie durch meinen Diener in dem Auto dorthin bringen lassen. Eine Ungezogenheit, die sie mir natürlich nie verzeihen wird, zumal auch ich, solange sie, als Ihr Mann gegangen, noch bei mir war, nicht das geringste tat, um Ihre Gunst zu erringen, denn alle meine Gedanken weilten doch nur bei Ihnen, gnädige Frau.” Bis er jetzt mit einem ganz verzweifelten Gesicht fragte: „Und muß ich nun wirklich jede, aber auch jede Hoffnung aufgeben, Sie einmal zum Tee bei mir zu sehen?”

„Jede, lieber Freund,” entgegnete sie mit einer Stimme, die ihm die Gewißheit gab, daß an ihrem Entschluß und an ihren Worten nicht zu rütteln sei. Und da er ihr das anmerkte, machte er abermals ein so enttäuschtes und verzweifeltes Gesicht, daß sie ihn, schon um ihn zu trösten, fragte: „Ja, lieber Freund, haben Sie es denn wirklich geglaubt, daß es Ihnen gelingen würde, meinen Mann, der mich über alles liebt, auch nur zu der kleinsten Untreue zu verleiten?”

„Ja, das habe ich geglaubt, gnädige Frau,” gab er mit fester Stimmer zur Antwort, „und es wäre mir auch gelungen, wenn — ja, wenn es eben kein Wenn gäbe.”

„Und dieses Wenn soll in diesem Falle natürlich heißen: wenn mein Mann mich eben nicht so leidenschaftlich liebte, wie er mich liebt,” ergänzte sie seinen Satz. „Nicht wahr, das meinten Sie doch?”

„Nein, gnädige Frau,” widersprach er, „ich meinte eigentlich etwas ganz anderes.” Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Ich kann mir nicht helfen, aber seit gestern abend, seit dem Augenblick, in dem Ihr Mann sich so kühl und so leidenschaftslos verabschiedete, will mir die Schlußzeile eines kleinen Gedichtes nicht aus dem Sinn, die da lautet: Er ist ihr treu, weil er nicht anders kann.”

Im ersten Augenblick verstand sie nicht ganz, dann aber lachte sie halb verlegen, halb belustigt auf, bevor sie ihn ausschalt: „Sie schämen sich wohl gar nicht, Herr Doktor!” Und schon um ihrer selbst willen setzte sie gleich darauf hinzu: „In Ihrer Annahme irren Sie sich ganz gewaltig.”

„Um so besser für Sie, gnädige Frau, Verzeihung, ich meinte natürlich, um so besser für ihn,” gab er mit einer Stimme zurück, der sie es anhörte, daß er ihren Worten doch nicht recht glaube, und das verdroß sie so, daß sie sich bald darauf von ihm verabschiedete. Aber als sie dann allein ihrer Wohnung entgegenschritt, wollten ihr die Worte nicht aus dem Sinn: „Er ist ihr treu, weil er nicht anders kann.” Sie wäre natürlich, wie man so sagt, eher gestorben, als daß sie dem Doktor auch nur die Möglichkeit zugegeben hätte, er könne mit siner Vermutung vielleicht recht haben. Nein, das hätte sie nie zugegeben, denn welche unerhörte Demütigung ist es nicht für eine hübsche, junge, elegante Frau, einem Dritten eingestehen zu müssen, einen Mann zu haben, der, ganz einerlei aus welchen Gründen, so verbraucht ist, daß er selbst ihr gegenüber ganz kalt und empfindungslos bleibt. Nein, zugegeben hätt6e sie das nie und nimmer, aber sie selbst fragte sich trotzdem jetzt immer wieder: War ihr Mann ihr tatsächlich nur deshalb treu, weil er ihr nicht untreu werden konnte? Hatten die allerdings sehr stürmischen und leidenschaftlichen Nächte der ersten Ehejahre in Verbindung mit der auf ihm ruhenden vielen Arbeit und großen Verantwortung ihn so mitgenommen, daß er so früh ein alter Mann geworden war? Schenkte er ihr nur deshalb noch so selten seine Zärtlichkeiten, weil seine Natur und seine Gesundheit ihm diese Zurückhaltung geboten, und schützte er vielleicht nur deshalb des Abends immer Übermüdung und Abspannung vor, um ihr die doch auch für ihn sehr traurige Wahrheit nicht eingestehen zu müssen? Und war er ihr gestern abend vielleicht wirklich nur deshalb treu geblieben, weil — nun eben weil?

Alles in ihr lehnte sich dagegen auf, daß der Doktor mit seiner Vermutung das Richtige getroffen haben könne. Das konnte und das durfte ganz einfach nicht wahr sein. Was sollte gerade sie, die doch so heiß und leidenschaftlich und doch auch noch so jung war, wohl mit einem Mann, der in gewisser Hinsicht nur noch hin und wieder oder vielleicht sehr bald überhaupt nicht mehr ein Mann war? Wodurch hatte gerade sie es verdient, daß der Himmel sie so schwer strafte?

Aber dann wurde die Hoffnung in ihr wach, daß sie sich ganz grundlosen Befürchtungen hingäbe. Wie alles in Wahrheit stand, würde sie ja heute abend erfahren, denn so kalt, so herzlos und so egoistisch konnte ihr Mann doch nicht sein, daß er auch heute wieder gleich an ihrer Seite einschlief, ganz besonders dann nicht, wenn sie ihm vorher gestanden hatte, wie sehr sie sich nach ihm sehne. Ihre Sehnsucht mußte und würde auch die seine erwecken, und dann würde er ihr beweisen, daß er ihr nur deshalb treu geblieben war, weil für ihn auf der ganzen Welt tatsächlich keine andere Frau existierte.

Ebenso betrübt wie verzweifelt wie sie noch vor wenigen Minuten gewesen war, ebenso glücklich und übermütig wurde sie jetzt in der frohen Erwartung auf die Nacht, die ihr heute bevorstand. Aber als sie dann zu Hause ankam, harrte ihrer dort eine sie vollständig niederschmetternde Überraschung. Ihr Mann hatte, wie die Zofe ihr gleich erzählte, aus der Fabrik telepohoniert, er müsse in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit heute nachmittag auf zehn bis vierzehn Tage verreisen, und wenn der Diener ja auch damit Bescheid wisse, so ließe er sie, die gnädige Frau, dennoch bitten, sich etwas mit um das Packen des Koffers zu kümmern, damit nichts vergessen würde.

Doch anstatt nun gleich den Wunsch ihres Mannes zu erfüllen, sank sie kraftlos in einen Stuhl und weinte so bitterlich vor sich hin, daß ihre Zofe sich verpflichtet fühlte, sie voll ehrlichsten Mitgefühls zu trösten. Zehn bis vierzehn Tage wären doch keine Ewigkeit, die gingen in der heutigen Zeit ja so schnell vorüber, es wäre doch kein Abschied für immer, bis sie mit den Worten schloß: „Ich glaube, der Herr Direktor weiß gar nicht, wie lieb die gnädige Frau ihn haben, sonst brächte er es sicher auch aus geschäftlichen Gründen nicht über das Herz, die gnädige Frau auch nur einen Tag allein zu lassen.”

Was aber lag ihr an den Tagen? Sie sehnte sich nach den Nächten, ganz besonders auf die heutige, auf die sie sich vorhin unterwegs so gefreut hatte, wie ein Kind auf den Heiligen Abend. Und während sie, nachdem sie die Zofe fortgeschickt hatte, immer noch fassungslos vor sich hin weinte, sagte sie sich im stillen immer wieder: du weißt ja selbst am besten, wie tugendhaft du nicht nur in deinem Lebenswandel, sondern auch in allen deinen Gedanken bist, aber trotzdem, hätte dein Mann nun gestern abend nicht an der hübschen Russin Gefallen finden und sie nach Hause begleiten können? Dann wärest du jetzt für die nächsten zehn bis vierzehn Tage nicht so entsetzlich allein. Dann hättest du ein Recht dazu, die Einladung des hübschen Doktors am Nachmittag zu einer Tasse Tee anzunehmen. Dann wüßtest du doch, wie du dir die Zeit verkürzen könntest, anstatt wie jetzt lediglich voller Sehnsucht auf die Rückkehr deines Mannes zu warten.

Ach, sie war ja zu unglücklich, aber ehrlich, wie sie war, gestand sie sich ein, daß sie ganz allein daran die Schuld trug. Wie hatte sie nur so töricht sein können, sich den Eid, den sie sich selbst und ihrem Gott schwur, vorher so lange und so reiflich zu überlegen, daß sie den nun auch halten mußte, wenn sie nicht aufhören wollte, eine tugendhafte Frau zu sein. Waren die Männer, die blindlings darauflos schwuren, nicht viel besser daran? Da sich die bei dem, was sie schwuren, absolut nichts dachten, dachten sie sich natürlich erst recht nichts dabei, wenn sie den Eid brachen. War es nicht ein Unglück für die Frauen, daß sie soviel anständiger, tiefer, gewissenhafter und tugendhafter veranlagt waren, und daß sie schon aus Furcht vor der Strafe im Jenseits ihre Eide auch hielten? Wie entzückende Stunden hätte sie jetzt nicht bei dem Doktor verleben können und wie gern hätte sie ihr schönstes, dünnstes Hemd und das entzückende Höschen einmal wieder angezogen. Aber für wen sollte sie das jetzt? Nur für sich, wenn sie ganz allein in ihrem Zimmer saß? Da hätte sie doch verrückt sein müssen, und das war sie nicht, obgleich der Gedanke, daß sie nun zehn, wenn nicht gar vierzehn Nächte einsam und allein verbringen müsse, sie beinahe verrückt machte.

Ach, wie entsetzlich einsam würden die Nächte, aber auch die Tage werden. Das war gar nicht auszudenken! Aber die Tage wurden dann doch nicht so schlimm, wie sie es befürchtete, denn schon als sie am nächsten Mittag ausging, um aus Langeweile Einkäufe zu machen, traf sie unterwegs den Maler Hans Ehrgott, der nächst dem Doktor zu ihren eifrigsten Courmachern gehörte, und den sie durch einen Zufall so lange nicht gesehen hatte, daß sie sich über die Begegnung nicht weniger herzlich freute als er, der sie bat, sie ein Stück Weges begleiten zu dürfen, und der nicht müde wurde, ihr immer wieder zu sagen, wie glücklich er sei, daß er sie getroffen habe. Und diese seine Freude sprach so deutlich aus seinem hübschen, offenen Gesicht und aus seinen klaren, dunkelblauen Augen, daß sie davon ganz gerührt wurde, und daß sie ihm zum Abschied erklärte: „Mein Mann ist für längere Zeit verreist, und ich fühle mich so einsam, denn Sie wissen ja, wie ich ihn liebe. Kommen Sie doch bitte, wenn Sie nichts anderes vorhaben, einmal des Nachmittags um fünf zum Tee und zu einer Plauderstunde zu mir.”

„Ihr Mann ist verreist, schönste aller Frauen? Und ich darf einmal zu Ihnen kommen?” frohlockte er. „Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, und deshalb komme ich mit Ihrer hohen Erlaubnis schon heute,” und ehe sie dem noch hätte widersprechen können, bat er: „Nicht wahr, gnädige Frau, ich darf schon heute kommen?” Und mit so verliebten Augen sah er sie dabei an, daß sie es nicht über das Herz brachte, ihn auf einen späteren Tag zu verweisen.

Pünktlich um fünf Uhr stellte er sich am Nachmittag bei ihr ein und brachte ihr einen so wundervollen Blumenstrauß mit, daß sie ihn wegen seiner Verschwendung ausschelten wollte, denn sie wußte, daß er im Gegensatz zu dem Doktor keineswegs in übertrieben glänzenden Verhältnissen lebte. Aber sie schalt ihn doch nicht, denn wie lieb mußte er sie haben, daß er sich ihretwegen solche Ausgaben machte? Und sie wollte und durfte ihn dadurch, daß sie ihn gescholten hätte, auch nicht betrüben, denn er war von einer freudigen Ausgelassenheit, die beinahe keine Grenzen kannte, und machte ihr gleich von Anfang an in so reizender Weise den Hof, wie er es kaum je zuvor getan hatte, bis er mit einemmal ein so trauriges und verzagtes Gesicht machte, daß sie ihn fragte, nein, daß sie ihn fragen mußte: „Aber, lieber Freund, was haben Sie denn nur plötzlich?”

Anstatt gleich zu antworten, stöhnte er ganz, ganz schwer auf, bevor er erwiderte: „Wissen Sie wohl, gnädige Frau, daß Sie, soweit es überhaupt möglich ist, noch viel reizender, noch viel entzückender, bezaubernder und verführerischer wären, wenn Sie Ihren Mann nicht so lieb hätten und wenn Sie ihm nicht in einer wahrhaft schrecklichen Weise treu blieben?” Und ehe sie noch etwas darauf hätte entgegnen können, fuhr er fort, während er sie dabei mit einem Blick der heißesten Leidenschaft ansah: „Muß ich wirklich jede, aber auch jede Hoffnung aufgeben, gnädige Frau, daß Sie mich einmal erhören werden? Sie wissen, wie ich Sie liebe. Das habe ich Ihnen schon so oft gesagt, daß ich es wohl nicht erst zu wiederholen brauche. Ich denke fortwährend an Sie, und es ist, wie Sie es vielleicht glauben, kein Zufall gewesen, daß wir uns so lange nicht sahen. Seitdem wir uns das letztemal im Theater begegnet sind, bin ich Ihnen absichtlich aus dem Wege gegangen, denn da sahen Sie so jeder Beschreibung spottend schön und verführerisch aus, daß ich hinterher tagelang krank war. Ich konnte nicht einmal arbeiten, weil ich meine Gedanken nicht auf die Arbeit zu konzentrieren vermochte. Ich glaube, Sie haben es mir angemerkt, wie grenzenlos glücklich ich war, als ich Sie heute morgen traf. Und als Sie mir erzählten, Ihr Gatte wäre für längere Zeit verreist, da sagte ich mir gleich: Dann ist es kein Zufall, daß du die schöne Frau gerade heute wiedersiehst. Da meint der Himmel es doch viel besser mit dir, als du es in der letzten Zeit so oft glaubtest.” Und er schloß: „Ach, gnädige Frau, wie wunschlos glücklich könnten Sie mich jetzt machen, und wie glücklich könnten auch Sie vielleicht werden, denn Sie ahnen nicht, mit welcher Leidenschaft mein Herz und meine Sinne sich nach Ihnen sehnen. Und deshalb frage ich Sie noch einmal, müssen Sie Ihrem Mann denn wirklich immer, immer treu bleiben? Müssen Sie das?”

Der Klang seines weichen Organs, der Blick seiner Augen, aus denen eine tiefe, große Liebe, aber auch eine große Leidenschaft sprach, hatte sie derartig gefangengenommen, daß sie ihm gern noch viel länger gelauscht hätte, denn welche schöne, junge und elegante Frau hört es nicht gern , daß man sie liebt, und daß man sich nach ihrem, wenn auch nur vorübergehenden Besitz sehnt? Sie, Frau Nina, hörte es jedenfalls sehr gern, aber als der hübsche Maler, der mit seinen vierzig Jahren noch wie ein Dreißiger aussah, endlich schwieg und sie erwartungsvoll ansah, schalt sie ihn trotzdem aus, schon weil sich das für eine tugendhafte Frau, wie sie es war, so gehörte, dann aber auch, damit er sich nicht etwa törichten Hoffnungen hingäbe, die sich bei den Grundsätzen ihres Mannes und bei den ihrigen nie erfüllen würden, bis sie ihm zum Schluß als Antwort auf seine Frage erklärte: „Ja, ich werde meinem Mann immer, immer treu bleiben, und ich denke ebensowenig daran, ihn jemals zu betrügen, wie er das tut, denn ich möchte behaupten, es gibt auf der ganzen Welt kein weibliches Geschöpf, das auch nur für einen kurzen Augenblick imstande wäre, ihn mich vergessen zu machen.”

„Doch, gnädige Frau, das gibt es,” widersprach er rasch, um gleich darauf erklärend hinzuzusetzen: „Sie dürfen nicht glauben, gnädige Frau, daß die andere in meinen Augen noch schöner wäre als Sie, aber sie ist vielleicht beinahe ebenso schön, wenn auch nicht in ihrem Gesicht, so doch in ihrem Akt.”

„Aber den meinen kennen Sie doch gar nicht, lieber Freund,” warf sie in ihrer Lebhaftigkeit und etwas erregt, wie ihre Sinne es geworden waren, ein klein wenig unüberlegt ein, um gleich darauf lachend die Einschränkung zu machen: „Und selbstverständlich werden Sie den auch niemals kennenlernen.”

„Selbstverständlich niemals, das auch dann nicht, wenn Sie jemals mein Flehen erhören und mich erhören sollten,” pflichtete er ihr bei, „denn wenigstens ich persönlich bin der Ansicht, daß selbst die schönste und eleganteste Frau, oder vielleicht gerade die an Reiz verliert, wenn sie alle ihre Reize enthüllt oder gar entblößt. Man darf nicht alles sehen, sondern man darf es nur ahnen, und es geht uns Männern mit den Reizen einer schönen Frau so ähnlich, wie den Damen mit den Pralinés. Je verlockender, je verführerischer und geschmackvoller die Umhüllung und Verpackung, desto besser schmecken sie. Deshalb ist für mich ein völlig nacktes weibliches Wesen auch immer geschlechtslos gewesen, und ich glaube, daß gerade Sie, gnädige Frau, das Talent und die Gabe besitzen, sich in der entzückendsten Weise für das teilweise Entkleiden anzukleiden.”

Ja, das Talent besaß sie wirklich und sie erriet, er würde die Schönheiten ihres Lieblingshemdchens und ihres Lieblingshöschens noch viel mehr zu würdigen wissen, als der Doktor es vielleicht getan hätte. Aber es bestand ja gar keine Gefahr, daß er sie jemals so sehen würde, wie er sie sicher brennend gern einmal gesehen hätte, und deshalb fragte sie, sich absichtlich so stellend, als hätte sie seine letzten unartigen Worte gar nicht gehört: „Sie rühmten vorhin die Schönheit eines weiblichen Wesens, und da Sie von einem Akt sprachen, handelt es sich sicher um eins Ihrer Modelle?” Und weil sie ja wußte, was ein schönes Modell für einen Maler bedeutet, erkundigte sie sich weiter: „Ist das junge Mädchen denn wirklich so gut gewachsen?”

„Gut ist überhaupt gar kein Ausdruck dafür, gnädige Frau,” klärte er sie voll künstlerischer Begeisterung auf, „das junge, erst achtzehnjährige Mädel hat einen Körper, an dem auch nicht der leiseste Makel ist. Alles ist an ihr vollendet, die Füße, die Waden, die Schenkel, die Hüften, der Leib, die Brüste, der Hals, der Nacken, die Rückenpartie, kurz, es ist der vollendetste Körper, den man sich nur denken kann, und wer den in seiner ganzen Schönheit sieht, ohne dabei in die hellste Begeisterung zu geraten, wer den Akt ansehen kann, ohne sofort den Wunsch nach dem Besitz des Mädchens zu empfinden, der ist entweder, wie ich, ein Künstler, für den ja selbst das schönste Modell nur ein Modell ist, oder der ist überhaupt kein Mann mehr, sondern nur noch die traurige Ruine eines solchen.”

Er ist ihr treu, weil er nicht anders kann! Ganz deutlich glaubte Frau Nina in diesem Augenblick wieder diese Worte aus dem Munde des Doktors zu hören, und sie glaubte es auch sich schuldig zu sein, daß der bald erfuhr, wie er sich in dieser Annahme irre. Ja, das mußte er baldmöglichst erfahren, denn trotz seiner sonstigen Diskretion war er aus Ärger über den Verlauf des Soupers vielleicht imstande, in seinem großen Freundeskreise die Behauptung aufzustellen, ihr Mann sei ihr nur deshalb treu geblieben, weil er nicht mehr in der Lage sei, sie zu betrügen. Mit Windeseile würde sich das überall verbreiten, und was wäre die Folge? Man würde über ihren Mann lachen und spotten, und man würde sie selbst bemitleiden und beklagen. Aber sie wollte nicht, daß man sich über ihren Mann lustig machte, und erst recht wollte sie nicht bemitleidet werden. Nein, lieber alles andere, lieber sogar einen Mann, von dem es ganz offenkundig war, daß er ein Verhältnis mit einer anderen unterhielt.

Und kam das dann nicht auch ihr zugute? Vielleicht waren seine Wünsche nach ihr nur eingeschlafen, weil ja schließlich jede Gewohnheit den Tod der Liebe bedeutet. Ihr Mann gehörte vielleicht zu jenen Naturen, die einmal eine Abwechslung verlangen, und durch diese Abwechslung würde er dann sicher wieder gesund und ganz wieder der werden, der er war. Gewiß, es war traurig, daß es solche Männer gab, die nicht jahraus, jahrein an ein und derselben Frau Gefallen fanden, aber schon seit ihrer Jugend, in der sie alles, was das sexuelle Problem betraf, in den Büchern, die davon handelten, sehr eingehend studierte, wußte sie ja, daß nur ganz beschränkte Naturen einem Menschen aus seiner geschlechtlichen Veranlagung, an der er ebenso unschuldig war wie an seiner Geburt, einen Vorwurf machen konnten und durften. Und wenn ihr Mann sich fortan eine Freundin hielt, mußte er dann nicht wieder häufiger oder gar regelmäßig auch ihr die tägliche Liebe schenken, schon damit ihr Argwohn nicht erwache und damit sie ihm nicht eines Tages den Vorwurf seiner Treulosigkeit in das Gesicht schleuderte? Natürlich war es für eine jede Frau und ganz besonders für eine so tugendhafte wie sie ein entsetzlicher Gedanke, die Liebesbeweise ihres Mannes mit einer andern teilen zu müssen, aber war für eine zugleich so leidenschaftliche Frau wie sie eine Teilung nicht immer besser als ein vollständiger Verzicht?

Das und manches andere, was sie plötzlich beschäftigte, ließ sie gar nicht auf all das hinhören, was der hübsche Maler ihr sonst noch erzählte, sie wurde erst wieder aufmerksam, als jetzt seine Frage an ihr Ohr klang: „Aber nicht wahr, gnädige Frau, wenn ich Ihnen den Beweis dafür erbringe, daß Ihr Mann Ihnen doch nicht so treu ist, wie Sie es bisher glaubten, oder wenn er Ihnen wenigstens in Zukunft nicht mehr treu ist, wenn er sie mit dem Modell betrügt, nicht wahr, gnädige Frau, dann darf ich hoffen, daß Sie nicht unerbittlich bleiben?”

Ja, dann durfte er nicht nur hoffen, sondern dann würde sie gerade ihn ganz bestimmt erhören, denn heute sah sie eigentlich erst, welche wunderhübschen Hände er hatte, und es lockte und reizte sie immer mehr, ihre nackten, nein, ihre kaum verhüllten Glieder einmal von denen streicheln und liebkosen zu lassen. Aber noch bevor sie auch ihm, wie letzthin dem Doktor, lachend und übermütig ihr vielsagendes und doch nicht fest versprechendes „Vielleicht” hätte zur Antwort geben können, fuhr er fort: „Sie müssen mich dann ganz einfach erhören, gnädige Frau, denn dreierlei gibt es später doch nur für Sie. Entweder tun Sie, als wenn Sie von der Untreue Ihres Gatten nichts wüßten und nichts merkten, oder Sie lassen sich scheiden, oder Sie vergelten Gleiches mit Gleichem. Das erstere kann keine Frau, eine Ehescheidung wäre Ihrer aber unwürdig, denken Sie nur an all den Schmutz, der bei solchen Gelegenheiten aufgewirbelt wird, und bedenken Sie auch die Rolle, die eine geschiedene Frau spielt, sie ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Ein Spötter hat einmal behauptet, eine geschiedene Frau wäre wie ein Krüppel, der auf einem Bein hinkt, und nicht wahr, gnädige Frau, Sie sind doch zu jung, zu schön und zu elegant, um für den ganzen Rest Ihres hoffentlich noch sehr langen Lebens auf einer Seite hinken zu wollen?”

„Das will ich ganz gewiß nicht, lieber Freund, aber davon ganz abgesehen, ich würde mich niemals scheiden lassen, daran habe ich überhaupt noch nie gedacht, und viel eher, ja, ich glaube wirklich, eher könnte ich mich entschließen, auch meinerseits treulos zu werden,” hätte sie ihm beinahe erwidert, aber statt dessen lachte sie in der Erinnerung an das, was der Doktor ihr gestern morgen erzählt hatte, plötzlich hellauf, ohne daß ihr allerdings das Lachen, was er aber glücklicherweise nicht bemerkte, vom Herzen gekommen wäre, dann aber fragte sie: „Und Sie glauben wirklich, lieber Freund, daß mein Mann, der mich über alles liebt, an Ihrem Modell auch nur das leiseste Gefallen finden würde? Ich weiß, es ist sehr unrecht von mir, mit Ihnen über diese Möglichkeit überhaupt zu sprechen, aber ich tue es ja auch nur, weil ich jede, aber auch jede Wette mit Ihnen darauf eingehe, daß Sie sich da sehr irren.”

„Schön, gnädige Frau, die Wette gilt,” rief er, ihr schnell seine Hand hinhaltend. „Wenn ich verliere, schenke ich IHnen das große Bild, zu dem mir augenblicklich das Modell steht. Sie müssen mir nur erlauben, daß ich es vorher für kurze Zeit auf die Ausstellung schicke, für die es bestimmt ist. Verlieren Sie aber, dann —”

Doch sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sondern unterbrach ihn: „So sicher sind Sie Ihrer Sache, daß Sie ein so kostbares Bild —”

„Jawohl, so sicher bin ich,” unterbrach er sie seiner seits, „aber wenn Sie verlieren, gnädige Frau, dann —”

„Dann — dann — ja, was dann?” meinte sie nachdenklich, denn unmöglich konnte sie ihm doch mit klaren Worten sagen: „Ja, dann dürfen Sie mich eines Tages in Ihrem Atelier erwarten.”

Doch er kam ihr in galanter, ritterlicher Weise zur Hilfe: „Wie das Bild das Kostbarste und Wertvollste ist, was ich besitze, so müssen Sie, gnädige Frau, mir, wenn Sie verlieren, auch das Kostbarste schenken, was Sie besitzen. Und nun bitte, schlagen Sie ein.”

Das konnte sie mit gutem Gewissen tun, denn wenn sie natürlich auch genau wußte, was er meinte, hatte er sich ja dennoch so allgemein ausgedrückt, daß sie ihn nicht zu verstehen brauchte, wenn sie nicht wollte.

Und als sie absichtlich lachend und übermütig in seine Hand eingeschlagen hatte, entwickelte er ihr gleich voller Eifer seinen Plan. Er wollte ihren Mann gleich nach seiner Rückkehr bitten, ihm für einen wohltätigen Zweck, für den die Sammlungen bald geschlossen wurden, eins seiner Bilder abzukaufen und ihn sofort in seinem Atelier zu besuchen. Und wenn er dann kam, und bei den freundschaftlichen Beziehungen, die sie zueinander unterhielten, mußte er kommen, würde er das Modell bei sich haben und an seinem Ausstellungsbild weiter arbeiten. Er würde vorher mit dem Mädchen sprechen und es bitten, sich durch den Besuch seines Freundes nicht stören zu lassen, sondern ihm ruhig weiter Akt zu stehen, und während ihr Mann sich seine Bilder besah, würde er plötzlich seinem Modell eine Pause gönnen und selbst in seine oberhalb des Ateliers gelegene Wohnung gehen, um von dort noch ein paar andere Bilder zu holen. Und er schloß: „Und wenn ich dann wieder zu den beiden zurückkehre, gnädige Frau, hat Ihr Mann mit dem Modell das erste Zusammensein verabredet, das weiß ich so genau, daß ich mich daraufhin köpfen lassen möchte.”

„Aber doch nur köpfen lassen möchten, lieber Freund, nicht köpfen lassen.,” unterbrach sie ihn lachend, um schon deshalb seine Siegeszuversicht zu dämpfen, weil sie die für ihre Person nicht zu teilen vermochte. An und für sich war seine Idee, die er ihr da eben entwickelte, ja ganz schön, aber sie hatte doch zuviel Ähnlichkeit mit der, die sich der Doktor ausgeheckt, und mit der er Fiasko gemacht hatte. Und dieses Fiasko hätte sie ihm, der ihr jetzt glückstrahlend gegenübersaß, um seiner selbst willen gern erspart, denn sie wußte ja aus eigener Erfahrung, wie elendiglich einem zumute ist, wenn eine Sache, auf deren Gelingen man ganz fest rechnete, im letzten Augenblick doch nicht einschlägt. Nein, sie vermochte, so gern sie es seinetwegen auch getan hätte, seinen Glauben an den Erfolg seines Verführungsversuches nicht zu teilen. Da mußte er sich schon etwas anderes ausdenken, um ihren Mann zu Fall zu bringen, oder das Modell mußte tatsächlich einen so schönen Körper haben, daß dessen Anblick jeden Mann um Sinn und Verstand brachte.

Und als erriete er ihre Gedanken, fragte er jetzt plötzlich: „Wollen nicht auch Sie sich das Modell einmal ansehen, gnädige Frau? Bitte, besuchen Sie mich doch morgen vormittag in meinem Atelier und überzeugen Sie sich von meinem Fleiß, wie das schon so viele Damen getan haben, ohne daß die Welt darin auch nur im geringsten etwas Unpassendes gefunden hätte, und ich brauche wohl nicht erst zu betonen, wer nur zu meinen Bildern kommt und nicht zu mir persönlich, ist mir so heilig, daß ich nichts sage und nichts tue, was nicht alle sehen und hören könnten. Und wenn Sie das Modell erst bewundert haben, gnädige Frau, werden Sie selber einsehen, daß demgegenüber kein Mann kalt und wunschlos bleiben kann. Würde es Ihnen passen, daß Sie morgen gegen elf Uhr zu mir kämen?”

Nein, das paßte ihr selbstverständlich nicht, denn wenn er schon aus lauter Egoismus so schlecht sein wollte, ihren Mann zu einem Sündenfall zu verführen, dann war es doch eine geradezu unerhörte Zumutung, die er da an sie stellte. Nein, sie dachte nicht daran, sich das Modell anzusehen, denn wenn ihr Mann ihr bald untreu werden sollte, oder untreu würde, dann wollte und durfte sie das Mädchen wenigstens nicht kennen, und am allerwenigsten durfte sie, was bei ihrem Atelierbesuch unvermeidlich gewesen wäre, mit der späteren Geliebten ihres Mannes ein paar freundliche Worte gewechselt haben. Und außerdem hätte er, der hübsche Maler, ihren morgigen Besuch ja so deuten können, als wolle sie das Modell ihrerseits daraufhin prüfen, ob es tatsächlich hübsch genug sei, ihren Mann zu Fall zu bringen, und als habe auch sie irgendwelches Interesse daran, daß ihm das gelänge. Dem aber, daß ein solcher Gedanke auch nur für eine Sekunde in ihm wach wurde, durfte sie sich, wenn sie die tugendhafte Frau bleiben wollte, die sie war, nicht aussetzen.

Das und noch manches andere hätte sie ihm als Antwort auf seine Frage auch gern erklärt, aber sie wußte im voraus, daß das ganz zwecklos sein würde, denn wo war der Mann, der eine Frau verstand, wenn er sie nicht verstehen wollte? Und sich lange mit ihm herumzustreiten, oder ihn gar davon überzeugen zu wollen, daß sie unmöglich kommen könne, wäre verlorene Zeit und Mühe gewesen.

So versprach sie ihm denn, sich morgen zwar nicht das Mädchen, wohl aber seine Bilder einmal anzusehen, und als sie dann am nächsten Vormittag dem Akt des Modells gegenüberstand, da, da wurde ihr so, wie selbst ihr noch nie gewesen war. Ganz bestimmt, sie war trotz all ihrer Sinnlichkeit durch und durch normal veranlagt, und sie hatte es bisher nie begriffen, wie eine Frau sich in eine andere verlieben und zu der Beziehungen unterhalten könne. Aber trotzdem, als sie den formvollendet schönen, jugendlichen, geschmeidigen und doch schon voll entwickelten Körper sah, da wurde der Wunsch in ihr wach, das hübsche Mädchen einmal zu küssen und es in die Arme zu nehmen. Doch der Versuchung widerstand sie natürlich, denn sie war doch eine tugendhafte Frau, und außerdem dachte der Maler auch nicht daran, sie, wie später ihren Mann, mit dem Modell für eine Viertelstunde oder noch länger allein zu lassen.

Das aber stand jedenfalls, als sie eine Stunde später wieder zu Hause war, für sie fest, sie würde als Mann der Versuchung, das Mädchen als Freundin zu nehmen, nicht widerstehen können, und selbst dann nicht, wenn sie als Mann nicht ein-, sondern zehnmal vor dem Altar die Treue geschworen hätte, denn es war ja nun einmal das Traurige, aber zuweilen vielleicht auch das beneidenswerte Vorrecht der Männer, daß sie nach ihrer Überzeugung ihren Eid nicht zu halten brauchten.

Und zum allererstenmal in ihrem Leben tat es ihr beinahe leid, daß sie kein Mann war.

Bis sie dann wieder an ihren Mann dachte und sich beständig fragte: Ob er dich wohl wirklich so über alles lieb hat, daß er deinetwegen auch dieser Versuchung widersteht?

Diese Frage konnte ja aber nur die Zukunft entscheiden, und so vermochte sie vor Ungeduld kaum die Rückkehr ihres Mannes zu erwarten. Und nicht nur das, als ihr Mann endlich wieder bei ihr war, da schalt sie nicht, sondern dankte dem Himmel, daß er vor Müdigkeit gleich wieder an ihrer Seite einschlief, noch bevor sie ihn hätte zur Nacht küssen können, denn auf Grund ihrer Verabredung mit dem hübschen Maler fand ihr Mann schon am nächsten Morgen in seinem Bureau einen Brief vor, der so geschickt abgefaßt war, daß er trotz seiner vielen Arbeit gleich am Vormittag für eine halbe Stunde in das Atelier fahren würde und fahren mußte, und je frischer und ausgeschlafener er dem Modell gegenübertrat, desto besser war es, denn nur dann konnte er ihr den Beweis erbringen, daß einzig und allein sie für ihn auf der Welt existierte. Ein Satter oder gar ein Übersättigter war ja noch niemals aus Hunger zum Dieb geworden.

So sah sie dem, was der kommende Tag ihr bringen würde, mit solcher Spannung entgegen, daß sie die ganze Nacht keinen Schlaf fand, und sie mußte auch immer wieder daran denken, daß sie nur deshalb dem hübschen Maler bei der Abfassung seines Briefes an ihren Mann behilflich gewesen war, weil ihr natürlich alles daran gelegen sein mußte, ihm zu beweisen, daß ihr Mann nicht einmal im Traum, geschweige denn im Wachen daran dachte, sie zu betrügen.

Aber als ihr Mann ihr dann am nächsten Tag von seinem Atelierbesuch erzählte, tat er das mit einem so vergnügten Gesicht, daß sie sich sagte, nein, daß sie sich sagen mußte: Die Sache ist nach Wunsch verlaufen. Und darüber freute sie sich, das aber natürlich nur deshalb, weil es ihr bewies, daß, ihr Mann doch noch ein Mann war, und daß auf ihn nicht das Wort paßte: Er ist ihr treu, weil er nicht anders kann.

Bis er plötzlich anfing, ihr von dem Modell, das er bei ihrem gemeinsamen Freunde getroffen habe, zu sprechen: „Weißt du, Nina, zuerst habe ich mich ja darüber geärgert, daß der Maler sich nicht genierte, mir sein Modell in ganzer nackter Schönheit vorzuführen, ja noch mehr, ich fragte mich, wie kommt er nur dazu, denn er wußte doch, daß ich kommen würde, da ich mich auf Grund seines Briefes gleich telephonisch bei ihm angesagt hatte. Warum hatte er da das Mädel nicht fortgeschickt? Bis mir mit einemmal klar wurde, warum er das nicht tat, so daß ich an mich halten mußte, um nicht hell aufzulachen, denn mit einemmal verstand ich auch, warum der Doktor mich letzthin des Abends mit der Tänzerin zusammen einlud,” und jetzt wirklich hell auflachend, fragte er: „Weißt du, Nina, warum sie es taten? Weil sie mich in die Versuchung bringen wollten, dir untreu zu werden, um, wenn ihnen das gelungen wäre, dir noch mehr als bisher den Hof zu machen und dann vielleicht auch dich zu einer Untreue zu verleiten.”

Starr und fassungslos sah sie ihren Mann, während der sich weiterhin vor Lachen ausschütten wollte, an. Auf alles war sie vorbereitet gewesen, auf alles, selbst auf das Schlimmste, auf seinen Treubruch, aber nicht darauf, daß er den Doktor und den Maler durchschauen würde. So wußte sie zuerst wirklich nicht, was sie auf seine Worte entgegnen sollte, bis sie ihm schließlich voller Erregung und voller Empörung zurief: „Schämst du dich denn gar nicht, deine Freunde so zu verdächtigen, so etwas von ihnen zu behaupten, und glaubst du vielleicht sogar, daß ich dir jemals auch nur in Gedanken hätte untreu werden können, selbst wenn du —”

Ein solcher Weinkrampf kam über sie, daß sie nicht weitersprechen konnte, zumal sie auch nicht recht wußte, wie sie ihren Satz beenden sollte. Aber es tat auch nicht nötig, daß sie weitersprach, ihr Mann verstand sie auch so, und zärtlich ihre Hand streichelnd, meinte er: „Aber, Liebling, es liegt gar kein Grund vor, zu weinen, sondern doch nur zu lachen. Ich fasse die Sache ja auch nur humoristisch auf, sonst würde ich natürlich nicht erlauben, daß die beiden Schlingel jemals wieder zu uns in das Haus kämen. Und daß ich annehmen könnte, du würdest mich deinerseits wieder betrügen, selbst wenn ich dich wirklich einmal in einem schwachen Augenblick vergessen hätte, nicht wahr, das glaubst du doch selber nicht?”

Nein, das glaubte sie wirklich nicht, denn selbst wenn sie ihm Gleiches mit Gleichem vergolten hätte, er hätte nie angenommen, daß sie das tun würde, und er hätte nie geglaubt, daß sie es täte.

So sah sie ihn jetzt unter Tränen lächelnd an, bis sie über seine Leichtgläubigkeit plötzlich hell auflachte, so daß er ihr zurief: „So ist es recht, Nina, immer lach'.”

Und um ihm eine Freude zu machen, lachte sie weiter.

Aber als sie bald darauf, nachdem ihr Mann wieder in die Fabrik gefahren war, allein war, da lachte sie nicht mehr, sondern da weinte sie fassungslos vor sich hin, denn jetzt wurde es ihr zum erstenmal in aller erschreckenden Deutlichkeit klar, wie schwer, nein, wie wahnsinnig schwer es selbst der tugendhaftesten Frau einzig und allein durch ihren Mann gemacht werden kann, ihm die Treue zu halten, die er ihr hält.


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© Karlheinz Everts