Die neue Exzellenz.

Skizze von Frhrn. v. Schlicht
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 1.März 1903,
in: „Die Fahnenkompagnie” und
in:
„Der Gefechtsesel”.


Seine Exzellenz, der neue Herr Divisions–Kommandeur, hatte sich in der kleinen Garnison zur Besichtigung des dortigen Kavallerie–Regiments angemeldet, und von dem Herrn Oberst herab bis zum jüngsten Unteroffizier waren alle voller Angst und Unruhe, wie die Sache am nächsten Tage verlaufen werde, und nicht ohne Grund; denn Seine Exzellenz hatte dem Regiment mitteilen lassen, er werde die einzelnen Schwadronen auf das Eingehendste und nach einer ganz neuen Methode besichtigen. Das war mehr als bitter, aber nicht zu ändern, und es hatte eigentlich und uneigentlich gar keinen Zweck, daß der Herr Oberst sich seinen Schädel darüber zerbrach, worin diese neue Methode der Besichtigung bestehen könne. Es war wirklich mehr als zwecklos, darüber nachzudenken, aber der Herr Oberst hielt es für seine Pflicht, doch nachzudenken, und er ermahnte seine Rittmeister, dasselbe zu tun, und die dachten auch nach oder taten wenigstens so, als ob sie es täten. Nur der älteste Rittmeister, der den Fähnrich in seiner Schwadron hatte, ließ diesen zu sich kommen und sagte:

„Ich habe augenblicklich Besseres zu tun, denken Sie mal für mich nach, und wenn Sie einen klugen Gedanken haben, dann sagen Sie es mir.”

Aber der Fähnrich sagte nichts, und daraus schloß der Herr Rittmeister, daß dem Fähnrich ein kluger Gedanke nicht gekommen wäre.

Als der Herr Oberst seinen Schädel lange vergebns angestrengt hatte, ohne daß dabei etwas herausgekommen wäre, wandte er sich an seinen Adjutanten.

„Wie wäre es, wenn wir einmal telegraphierten? Als neugebackener Divisionär hat Exzellenz ja zwar noch keine Kavallerie besichtigt, wir sind, Gott sei es geklagt, die Ersten, aber als Brigade­kommandeur hat er doch früher seine Infanterie inspiziert, und aus der Art und Weise, wie er früher das Geschäft betrieb, könnte man vielleicht allerlei Schlüsse ziehen. Telegraphieren Sie 'mal.”

Und der Adjutant telegraphierte an einen alten Freund seines Brotherrn, der ein Infanterie–Regiment kommandierte, das bis vor kurzem Seiner Exzellenz unterstellt gewesen war, der Mann mußte ja Bescheid wissen. Trotz der schlechten Zeiten telegraphierte man mit r. p., und die Depesche lautete: „Wie inspiziert Exzellenz.” Nach Meinung der Beteiligten war diese Frage kurz, klar und bündig, aber als die Antwort kam, war man noch genau so klug wie zuvor, denn der Freund telegraphierte zurück: „Du wirst Dich wundern!”

So mußte man es denn aufgeben, hinter das Geheimnis zu kommen, der nächste Morgen würde ja die Aufklärung bringen. Aber dem Morgen ging noch ein langer Abend voraus, und dieser Abend brachte auch etwas: Einen Eilbrief Sr. Exzellenz. Und der Inhalt des Briefes lautete:

„Rußland hat Deutschland den Krieg erklärt, es ist der siebente Tag der Mobilmachung, beide Armeen sind im Anmarsch gegen die Grenzen. Von einm russischen Ueberläufer ist in Bedorf in dem Eichbaum, der dicht neben der Kirche steht, in einem hoheln Ast ein sehr wichtiger Brief gelegt worden. Dieser Brief muß mir morgen mittag übergeben werden, wenn ich nach Schluß der Besichtigung in die Kaserne komme.”

Zuerst begriff der Oberst diesen Brief nicht, und als er ihn endlich begriff, begriff er Exzellenz nicht. Was der hohe Herr da schrieb, war weiter nichts als die Aufgabe zu einem Uebungsritt, mit dessen Ausführung der Kommandeur jetzt einen seiner Offiziere beauftragen mußte. Wie kam Exzellenz dazu, diesen Brief gerade in die Eiche von Bedorf legen zu lassen? Bis dorthin waren es ungefähr 35 Kilometer, und zurück waren es nach Adam Riese eben so viel; wenn ein Leutnant bis morgen mittag diesen Brief in Händen haben sollte, mußte der sich gleich auf den Weg machen. Eile tat not, so ließ er sich seinen Adjutanten holen und erörterte mit dem die schwierige Frage: Wen schicken wir? Endlich einigte man sich auf den Leutnant Arberg. Der fluchte nicht schlecht, als ihm der Befehl überbracht wurde, aber das Fluchen half ihm nichts, er mußte sein Pferdchen aus dem Stall ziehen und schwang sich endlich mit dem seligen Bewußtsein in den Sattel, da oben nun die nächsten zwölf Stunden sitzen zu bleiben.

Die Besichtigung fing nett an, wenn es in der Methode weiterging, konnte das Regiment Wunder erleben. Und der Herr Oberst verbrachte eine ziemlich schlaflose Nacht.

Mit dem Glockenschlag acht Uhr erschien Seine Exzellenz am nächsten Morgen auf dem Kasernenhof zur Besichtigung. Zwar hatte der Kommandeur die neue Exzellenz noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, aber an der Uniform erkannte er ihn doch sofort als denjenigen welchen, und gefolgt von seinem Adjutanten raste er ihm entgegen und meldete, daß die erste Schwadron zur Stelle sei und daß die anderen Schwadronen zu der von Sr. Exzellenz befohlenen Zeit eintreffen würden.

Seine Exzellenz nahm diese Meldung, die ihm nichts brachte, was er nicht schon gewußt hätte, gnädig entgegen und ritt, gefolgt von seiner Suite, zu der ersten Schwadron. Dreißig Schritte vor der Mitte der Schwadron hielt er sein Pferd an und musterte die Truppe. Der hohe Herr, eine schlanke, elastische Gestalt, saß unbeweglich auf seinem Gaul und seine Augen schweiften vom rechten Flügel bis zum linken, aber so durchdringend und durchbohrend, als wollten sie jedem Einzelnen ins Herz sehen. Und die Husaren hielten den Blick aus, hoch aufgerichtet, die Zügel in der Linken, die Lanze in der Rechten, sahen sie Exzellenz offen und frei in das Gesicht, und je schlechter das Gewissen war, das der eine oder andere wegen seiner mangelhaften Reitkenntnisse hatte, umso kecker sah er in die Welt. „Jeder von Euch muß aussehen, daß der selige Zieten, wenn er auf einem Geisterpferde vorbeiritte, sich sagte: „Donnerwetter, mit dem nimmst du es im Reiten nicht auf, mach', daß du fortkommst und blamier' dich nicht.” So hatte der Wachtmeister zu den Leuten gesprochen, und die taten, was ihnen befohlen war.

Lange, erwartungsvolle Stille, während der Exzellenz noch immer die Schwadron musterte. Da erhob Seine Exzellenz endlich die Stimme:

„Der zweite Mann links neben dem Mittelreiter im zweiten Glied des zweiten Zuges, wie heißen Sie?”

Es dauerte geraume Zeit, bis die mit solcher mathematischen Genauigkeit bezeichnete Husarenjacke an den Fußtritten seiner Nachbarn merkte, daß er derjenige sei welcher, dann erhob auch er seine Stimme: „Lange!”

„Lange, das dauerte aber lange.”

Exzellenz sprach's, und auf den Gesichtern der Suite drückte sich die entsprechende Heiterkeit aus. Wenn Exzellenz einen Witz macht, müssen die Anderen lachen, das gehört sich so, das erfordert die gesellschaftliche Bildung und die Subordination. Und Exzellenz hatte einen Witz gemacht, sogar einen guten, wie der Adjutant Sr. Exzellenz seinem Nachbarn zuflüsterte. Der Nachbar aber versank in tiefes Nachdenken: wenn dieser Witz schon gut war, wie mußten dann die anderen Witze erst beschaffen sein, die Exzellenz zu machen geruhte?

Und wie die Vorgesetzten über den Witz Sr. Exzellenz lachten, so lachte auch die Schwadron, natürlich nicht laut, aber wie ein Sonnenstrahl huschte es einen Augenblick über die Gesichter, die Augen leuchteten hell auf, dann nahmen alle wieder den vorgeschriebenen Ausdruck an.

„Lange, reiten Sie mal hierher zu mir,” befahl Seine Exzellenz, und der Husar schickte sich an, den Befehl auszuführen. Er setzte sich tiefer hinten herunter, und mit Gesäß, Schenkel und Zügel suchte er den Gaul aus der Abteilung herauszubringen. Sein edles Roß hieß „Cäcilie” und war dafür bekannt, daß es die größte „Kleberin” in der ganzen Schwadron war. Sie war entweder garnicht oder erst nach langer Arbeit zu bewegen, von den anderen Pferden fortzugehen. Das wußte der Husar, das wußte sein Berittführer, das wußten die Kameraden, das wußte der Zugführer, das wußte der Rittmeister, zufällig wußte es auch der Herr Oberst, nur einer wußte es nicht: Seine Exzellenz, und wenn der es gewußt hätte, wäre es ihm wahrscheinlich ganz gleichgültig gewesen.

Der Husar gab sich die größte Mühe, sein Pferd dahin zu bringen, wohin es sollte, aber als alle Güte nichts nützte, wurde er grob und halblaut sagte er zu seinem Gaul: „Wenn ich dich Satansvieh hier nicht aus der Abteilung herausbekomme, dann fliege ich drei Tage in den Kasten, dafür aber danke ich. Pass' 'mal auf, jetzt kannst du 'was erleben.”

Und der Gaul erlebte etwas: sein Kreuz wurde ihm beinahe eingedrückt, das ganze Gebiß fing an zu wackeln und die Sporen saßen ihm so tief in den Flanken, daß er sich dachte: die gehen überhaupt nicht wieder heraus. Am liebsten hätte er „Au!” geschrien, da er das aber nicht konnte, gab er jeden weiteren Widerstand auf und wenig später hielt der Husar vor Exzellenz. Der sah Roß und Reiter sehr genau prüfend an, dann fragte er: „Was ist eine Volte?”

Und prompt erfolgte die Antwort: „Eine Volte ist ein Kreis von sechs Metern im Durchmesser, der genau auf derselben Stelle enden muß, wo er anfängt.”

„Schön,” lobte Exzellenz. „reiten Sie jetzt tausend Meter im Galopp vor, reiten Sie um den einzelnen Baum dort eine Volte und dann auf Ihren Platz zurück.”

Der Befehl wurde zur Zufriedenheit ausgeführt, und als Lange wieder auf seinem Platz hielt, kam ein anderer Husar an die Reihe. Und dem Zweiten folgte der Dritte, und dem Dritten der Vierte, und so ging das immer weiter. Jeder mußte für sich allein in die Welt reiten, seine Volte machen, und so war es eigentlich nicht eine Besichtigung der Schwadron, sondern eine Prüfung des einzelnen Mannes und des einzelnen Pferdes. Das war also die neue Art der Besichtigung, und die Angst der Vorgesetzten war nicht umsonst gewesen, denn viele blamierten sich unsterblich. Mann hatte im ganzen exerziert, und nun wurde im Detail besichtigt! Was da bei der Kritik herauskommen würde, war allen im voraus klar, und es wurde ihnen noch klarer, als die erste Schwadron erledigt war und Exzellenz den Mund aufmachte. Und als Exzellenz den Mund endlich wieder zumachte, da war der Rest Schweigen.

Der ersten Schwadron folgte die zweite und wieder wurde jeder Reiter einzeln vorgerufen und jeder mußte Gottweißwo seine Volte machen, Stunde auf Stunde verrann, ein Ende war noch garnicht abzusehen, und darüber waren alle außer sich, nur Einer nicht: Seine Exzellenz.

Und noch einer freute sich: daß die Besichtigung noch im vollen Gange war und daß er noch Zeit hatte sich etwas auzuruhen, ehe er Exzellenz gegenübertreten mußte, das war der Leutnant Arberg, der so eben von seinem Uebungsritt zurückkam. Er hatte den Brief in Bedorf an der bezeichneten Stelle gefunden und ritt nun nach Haus im sausenden Schritt. Er und sein Pferd waren totmüde, man reitet nicht ungestraft 70 Kilometer im Schritt und Trab abwechselnd, das ist fast noch schlimmer als unter Palmen zu wandeln. Sein Weg führte ihn über den Exerzierplatz, und Leutnant Arberg hatte nur den einen Wunsch: hoffentlich sieht Exzellenz mich nicht, und wenn er mich sieht, läßt er mich hoffentlich ungeschoren. Er ritt weiter und weiter, immer Schritt, müde hing er im Sattel und müde ließ der Gaul den Kopf hängen.

Aber mit einem Mal spitzte der Gaul die Ohren, und der Herr Leutnant spitzte die seinigen; denn hinter ihm erklang der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes. „Allmächtiger,” stöhnte der Leutnant, „nun hat Exzellenz mich doch bemerkt und schickt mir seinen Adjutanten nach. Wenn der mich einholt, ist der Teufel los, da muß ich schon jetzt zu Exzellenz, und wenn der sieht, in welcher elenden Verfassung mein Gaul und ich uns befinden, gibt es ein unheiliges Donnerwetter, denn es kommt nicht nur darauf an, daß man solchen Auftrag ausführt, sondern auch darauf, daß Roß und Reiter hinterher in guter Verfassung sind. Einholen lassen darf ich mich nicht.”

Und das Pferd schien ebenso zu denken, es fiel von selbst in einen leichten Trab. „So ist es gut,” lobte der Reiter seinen englischen Halbblüter. „Aber mit dem Trab ist es nicht getan, Galopp muß es sein, zeig', was Du kannst, zeige Dich würdig des Stammbaums Deiner großen Ahnen, gib das Letzte her, was Du hast.”

Und der Gaul nahm sein Kräfte zusammen, im Galopp sauste er davon, aber der Reiter hinter ihm ließ sich dadurch nicht abschrecken, auch er mochte seinem Pferde die Sporen gegeben haben, die Entfernung schien stets dieselbe zu bleiben. Leutnant Arberg wagte garnicht sich umzusehen, er lag fast auf dem Hals des Pferdes, um diesem das Gewicht zu erleichtern, und mit freundlichem Zuruf feuerte er seinen Gaul immer von neuem an.

So ging der Ritt wohl zehn Minuten in wahnsinniger Pace über den endlos langen Platz, und schon glaubte Leutnant Arberg gewonnen zu haben, da erklang plötzlich hinter ihm der Ruf: „Herr Leutnant, Herr Leutnant!”

Es war ein Brüllen, kein Schreien und kein Rufen, aber aus den unartikulierten Tönen klang doch ein Bitten und ein Flehen heraus.

Und noch einmal ertönte der Ruf: „Herr Leutnant, Herr Leutnant!”

Es war ein Schrei der höchsten Verzweiflung, es klang so flehend, so herzzerreißend, daß Leutnant Arberg unwillkürlich sein Pferd anhielt. Gleich darauf hielt ein Husar an seiner Seite, das Pferd war mit Schaum bedeckt und der Reiter rang nach Atem.

Etwas wie Mitleid regte sich in der Brust des Offiziers und er wandte sich an den Untergebenen:

„Zum Donnerwetter, was wollen Sie denn eigentlich von mir, warum reiten Sie denn eigentlich wie die wilde Jagd hinter mir her? Erzählen Sie mir unterwegs, was Sie auf dem Herzen haben,” und er ließ sein Pferd wieder in kurzen Trab fallen, um gleich darauf wieder anzugaloppieren. Der Husar blieb an seiner Seite, aber auf seinem Gesicht prägte sich wahres Entsetzen aus. „Herr Leutnant,” bat er endlich mit flehender Stimme, „können der Herr Leutnant nicht einen Augenblick halten bleiben?”

„Aber warum denn nur?” fragte der Leutnant von Arberg verwundert.

Noch einmal holte der Husar tief Atem, dann sagte er: „Ich soll eine Volte um den Herrn Leutnant reiten.”


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