Das neue Bett.

Eine Manöver-Erinnerung von Graf Günther Rosenhagen/Freiherr von Schlicht,
in: „Kleine Geschichten” und
in: „Der rote Pierrot”


Es war ein kalter, rauher Herbstabend. Prasselnd schlug der Regen draußen an die Fenster, der Wind heulte, tiefe Finsterniß bedeckte die Erde. Drinnen in dem Zimmer, in dem wir uns befanden, strahlten die Kerzen in hellem Licht, heitere, fröhliche Stimmung herrschte überall an der reich besetzten Tafel. Während ich mir die köstlichen Speisen und Getränke trefflich schmecken ließ, mußte ich an die Truppen denken, die vor einigen Tagen die Garnison verlassen hatten, um sich an den Herbstübungen zu betheiligen. Unwillkürlich entschlüpfte mir der Ausruf: „Die armen Soldaten.”

Verwundert sah mich meine liebenswürdige Tischdame an.

„Wie kommen Sie plötzlich darauf, die Soldaten zu bedauern? Die liegen jetzt doch Alle schon lange in ihren Betten und merken vom scheußlichen Wetter vielleicht weniger als wir.”

„In den Betten?” entgegnete ich. „Ja, wenn es nur welche gäbe. Aber, wie unser alter Feldwebel Schilling immer sagte: „Mancher hat ein Bett, Mancher hat keins und Mancher hat eins, und hat doch keins.”(1)

„Das verstehe ich nicht,” antwortete mir meine Nachbarin.

Ich sah auf die vielen vor uns stehenden Gläser und Teller.

„Ich glaube, die Freigebigkeit unseres Wirthes wird uns vorläufig noch an diese Tafel fesseln. Wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu langweilen —”

Ein ermunternder Blick meiner Dame ließ mich fortfahren.

Im vorigen Jahr war ich als Reserveoffizier zu einer achtwöchentlichen Uebung bei dem X. Infanterieregiment eingezogen. Ich hatte die dienstlich schönste und angenehmste Zeit, das Manöver, erwählt, und mit klingendem Spiel rückten wir eines Morgens zum Bahnhof, wo wir verladen und unserem Bestimmungsort entgegengeführt wurden. „Nach dem schönen Lande Mecklenburg!” lautete die Parole. Die ersten Tage vergingen für mich ohne besondere Zwischenfälle. Die Quartiere auf den großen, reichen Gütern waren ausgezeichnet, der Dienst noch nicht besonders anstrengend, das Wetter herrlich, nicht zu warm und nicht zu kalt, und freudig stimmten wir Offiziere mit ein in das alte Lied: „O, welche Lust, Soldat zu sein.”

Aber es kam anders.

Wir hatten unsere sogenannten Sektquartiere mit kleinen, erbärmlichen Dörfern vertauschen müssen. Zwar gaben die Leute gern und willig, aber meistens stand das Können nicht im Verhältniß zu dem Wollen. Von Tag zu Tag setzten wir unsere Ansprüche herunter; wir waren schließlich glücklich, wenn wir nach den großen Märschen ein Bett vorfanden, in dem wir unsere ermüdeten Glieder ausstrecken konnten.

Eines Tages hatten wir eine Divisionsübung gehabt. In der frühesten Morgenstunde waren wir aus dem Bivouac, wo wir die Nacht über gefroren hatten, aufgebrochen und waren ungezählte Kilometer marschiert, bis endlich der Kanonendonner uns verkündete, daß wir den Feind erreicht hatten. Die Schützenlinien entwickelten sich und nun ging es vorwärts über Straßen, frisch gepflügte Felder, Wiesen, Hecken und Gräben. Nachmittags zog sich der Gegner aus seiner stark befestigten Stellung zurück, und nachdem wir ihn noch eine Strecke verfolgt hatten, bekamen wir Befehl, in unsere Quartiere abzurücken.

Von der großen Anstrengung ermattet, traten wir den Weg an. Das Wetter, das den ganzen Tag gut gewesen war, schlug plötzlich um, der Himmel öffnete seine Schleusen und ließ es derartig regnen, daß wir in wenigen Minuten vollständig durchnäßt waren. Als wir fast verzweifeln wollten, kamen die Quartiermacher und ihr Erscheinen gab uns neuen Lebensmut; wußten wir nun doch, daß wir bald unter Dach und Fach(2) wären.

„Wie sind die Quartiere?” rief man von allen Seiten.

Die Antwort war immer dieselbe: „Schauderhaft.”

Während ich einen kräftigen Fluch ausstieß und mich weit weg wünschte, näherte sich mir der Unteroffizier:

„Der Herr Lieutenant sind der Einzige, der gut untergebracht sind(3). Die Wirthin hat sich sogar für den Herrn Lieutenant ein ganz neues Bett angeschafft.”

Er drückte mir mein Billet in die Hand und kurze Zeit darauf stand ich vor dem nur kleinen, aber äußerst freundlich und sauber aussehenden Hause. Ich war überglücklich, bei diesem Wetter ein solches Unterkommen gefunden zu haben und ging dankbaren Herzens der Hausfrau, einer einfachen Bäuerin, entgegen.

„Ich bin auf einen Tag mit meinem Burschen bei Ihnen einquartiert, hoffentlich haben Sie meinetwegen nicht zu viel Umstände gemacht,” redete ich die mich verwundert anstaunende Frau an.

„Das stimmt wohl nicht,” antwortete sie endlich, „ich habe nur einen Offizier als Einquar­tierung, mehr kann ich gar nicht unterbringen und der —”

„Und der bin ich,” unterbrach ich sie.

„Nee,” sagte sie, „der ist all da!”

„Wo?” fragte ich entsetzt.

Sie wies auf eine Thür: „Da, un ick glöww, hei slöppt all.”

Ich riß die Stubenthür auf, stürzte in das Zimmer und blieb wie vom Schlage gerührt stehen.

In dem neuen Bett, in meinem Bett, auf weißen Leinen, unter einer warmen Decke, eine Cigarre rauchend und die neuesten Telegramme in seinem „Correspondenten” studirend, lag mein lieber Kamerad Basewitz.

„Basewitz, stehen Sie auf,” redete ich ihn an, nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte. „Wie kommen Sie dazu, sich in mein Bett zu legen?”

„In Ihr Bett? Sie sind zu komisch,” erwiderte er, „lächerlich, mein ist das Bett und mir gehört es zu!”

„Aber ich bitte Sie, hier ist mein Quartierbillet, bei Frau Hansen, Sarnten, Haus Nr. 27. (4)Que voulez-vous donc.”

„Daß Sie sich erheben und mir mein unbestreutbares Eigenthum überlassen. Hier muß ein Irrthum herrschen. Nur ich habe Anspruch auf dieses Bett, das sich die Frau eigens für mich angeschafft hat.”

„Nun hören Sie aber auf, sonst werde ich ernstlich böse; ich dachte, Sie wollten nur einen Witz machen. Gute Nacht, ich bin müde.”

Er legte Cigarre und Zeitung bei Seite und bald verkündeten seine tiefen Athemzüge, daß für ihn die Streitfrage durch einen festen Schlaf ihre vorläufige Entscheidung gefunden habe.

Was sollte ich machen? Ich ging zur Wirthin, klagte ihr mein Leid und bat sie, mir ihren Einquartierungszettel zu zeigen. Sie war in ihrem Recht, einen Lieutenant brauchte sie nur bei sich aufzunehmen und sie weigerte sich auf das Entschiedenste, auch mich zu beherbergen.

Inzwischen war das Unwetter(5) angebrochen, es war ein Tag, gerade wie der heutige, Sturm, Regen und zeitweise Hagel. Bevor ich von dannen ging, wollte ich noch einen Versuch machen.

Wieder betrat ich die Stube und weckte den Schläfer.

„Basewitz, liebster, bester Mensch, seien Sie doch vernünftig, sehen Sie denn nicht ein, daß Sie im Unrecht sind?”

„Nein.”

„Wollen Sie wirklich, daß ich Ihretwegen bei diesem Wetter weitergehe? Ist das Ihre so oft gepriesene Kameradschaft? Da habe ich mich doch sehr in Ihnen getäuscht.”

Aber Basewitz hörte garnicht zu, er war gleich, nachdem er sein lakonisch kurzes „Nein” gesprochen, wieder entschlummert.

Noch ein Mittel gab es, ihn zum Fortgehen zu bewegen, wenn auch das nichts nützte, dann —

Ich näherte meinen Mund dem Schläfer und flüsterte ihm in das(6) Ohr:

„Gebackene Seezunge mit Trüffeln.”

Ich wußte, daß es für ihn, den etwas materiellen Kameraden von der Reserve, auf der ganzen Welt nichts Schöneres gab.

Die müden Augen öffneten sich, ein seliges Lächeln lag auf seinen Zügen.(7)

„Wo?” murmelten seine Lippen.

„Bei Franz Pfordte, sobald wir wieder in Hamburg sind, und Alles, was Sie sich sonst noch irgendwie wünschen, die theuersten Weine, die schönsten Cigarren, Alles, Alles will ich Ihnen geben, nur geben Sie mir jetzt das Bett.”

Ich war todmüde, ich glaube, ich hätte die Hälfte meines Vermögens ausgegeben, wenn Basewitz meinen Wunsch erfüllt hätte.

Einen Augenblick kämpfte er einen schweren Kampf. Die Aussicht war doch zu verlockend.

„So viel ich essen und trinken will?” fragte er.

„Ja, sogar noch vielmehr, Alles, Alles sollen Sie haben.”

Schon richtete er sich halb auf, schon glaubte ich gewonnen zu haben — — da legte er sich plötzlich wieder nieder.(8)

„Nein, wahrhaftig, ich kann nicht, nicht für eine Million gebe ich dies Lager auf.”

Wieder ging ich von dannen und hielt mit meinem Burschen großen Kriegsrath. Dann bat ich die Hausfrau, die es mir ziemlich nahe legte, möglichst bald ihr Haus zu verlassen, um Tinte, Feder und Papier, schrieb einige Worte an den Fourier, theilte ihm meine Lage mit und befahl ihm, sofort Abhülfe zu schaffen.

Mein treuer Bursche ging mit dem Brief in die weite Welt hinaus, um den Unteroffizier zu suchen.

Drei Stunden verrannen, drei Stunden saß ich in völlig durchnäßter Kleidung auf meinem Koffer und fror. Endlich kam die Antwort.

„Es ist ein Mißverständniß, Herr Lieutenant von Basewitz liegt in dem etwa ein und eine halbe Stunde entfernten Dorfe Santen, bei der Schwester der Frau Hansen, ebenfalls Haus 27, der Herr Lieutenant selbst bleiben in Sarnten.”

Trotzdem ich nun erreicht, was ich gewollt, hatte ich jetzt doch Mitleid mit dem armen Kameraden und nicht den Mut, ihm sein Geschick mitzutheilen.

„Peter, geh' Du hinein zu dem Herrn Lieutenant, wecke ihn und bringe ihm die Sache möglichst schonend bei.”

„Na, Herr Lieutenant, denn nützt das nun nichts mehr, nun müssen der(9) Herr Lieutenant fort.” Hörte ich Peter sagen.

„Wohin denn?” fragte Basewitz.

„Nach Santen.”

„Da bin ich ja.”

„Nein, der(10) Herr Lieutenant sind jetzt in Sarnten.”

„Und wo liegt denn das andere Nest?”

„Anderthalb Stunden —”

Weiter kam Peter aber nicht. Etwas Hartes flog gegen die Thür und gleich darauf stürzte der Bursche entsetzt heraus.

„Herrgott, kann der aber wütend werden.”

Nach einer halben Stunde zog Basewitz mit seinem Diener, der inzwischen auch geschlafen hatte, bei Donner, Blitz und starkem Wolkenbruch von dannen. Ich bin wirklich nicht schadenfroh, aber als ich die Beiden scheiden sah, öffnete ich das Fenster und rief ihnen nach:

„Mein ist das Bett und mir gehört es zu.”

Basewitz blieb stehen, sah mich mit zornfunkelnden Augen an, erhob drohend seine Rechte und verschwand mit seinem Begleiter.

Lange Zeit zürnte mir Basewitz. Als ich ihn aber kurz nach Beendigung des Manövers auf gebackene Seezunge mit Trüffeln einlud und mit einem Glase Sekt für die große Liebens­würdigkeit dankte, mit der er mir damals sein Bett abgetreten hatte, reichte er mir die Hand.

„Sie sind doch ein netter Kerl, Günther, aber sagen Sie offen, hätten Sie an meiner Stelle anders gehandelt?”

„Was wollen wir uns über Fragen streiten,” entgegnete ich, „die nur die Wirklichkeit beantworten kann. Trinken Sie lieber aus und freuen Sie sich, daß Sie wieder in der Heimat sind —”

„Und hätten Sie Ihrem Kameraden das Bett eingeräumt?” fragte mich meine Nachbarin.

„Mein gnädiges Fräulein, trinken auch wir lieber aus, die Hausfrau rückt ungeduldig mit ihrem Stuhl und giebt das Zeichen zum Erheben —”


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es nur: „Mancher hat eins, und hat doch keins.”. (Zurück)

(2) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es nur: „daß wir bald unter Dach wären”. (Zurück)

(3) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es hier: „untergebracht ist”. (Zurück)

(4) Wenn man Rede und Gegenrede genau verfolgt, müßte hier eigentlich ein Absatz eingefügt werden, sodaß der Satz „Que voulez-vous donc” von Basewitz gesprochen wird. (Zurück)

(5) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es hier: „Ungewitter”. (Zurück)

(6) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es hier: „ins Ohr”. (Zurück)

(7) In der Fassung von „Der rote Pierrot” fehlt dieser ganze Absatz. (Zurück)

(8) In der Fassung von „Der rote Pierrot” fehlt in den beiden letzten Absätzen ein Textstück. Dort heißt es:
„Ja, sogar noch vielmehr, Alles, Alles sollen Sie haben — — da legte er sich plötzlich wieder nieder. (Zurück)

(9) In der Fassung von „Der rote Pierrot” fehlt dieses Wort „der”. (Zurück)

(10) In der Fassung von „Der rote Pierrot” fehlt dieses Wort „der”. (Zurück)


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