Aus dem deutschen Soldatenhort.
Manöver-Erinnerung von Graf Günther Rosenhagen/Freiherr von Schlicht,
in: „Deutscher Soldatenhort” 3.Band, 1892, Heft 32, S. 508-510, 13.Aug. 1893,
in: „Kleine Geschichten” und
in: „Der rote Pierrot”
Es war ein heißer, schwüler Tag: die Hitze hatte uns stark mitgenommen, über Knicks und frisch gepflügte Felder waren wir vorwärts gegangen. Nirgend ein Baum oder ein Strauch, der uns Schatten bot,die Feldflasche leer, kein Stück Brot, — so hatten wir den Vormittag verbracht. Endlich kam das Signal „das Ganze Halt”; die Gewehre wurden zusammengesetzt, jeder legte sich, wo er stand, hin, um sofort von den Anstrengungen erschöpft einzuschlafen. Nur die berittenen Offiziere eilen auf das Signal „Offizierruf” zu dem Höchstkommandierenden, um aus seinem Munde die Kritik zu hören. Sie scheint aber heute recht lange zu dauern; schon seit einer Stunde warten wir auf den Befehl, in die Quartiere zu rücken. Endlich überbringen Ordonnanzen denselben und wie durch ein Zauberwort ist alle Müdigkeit verflogen. In einem Augenblick steht die Kompagnie in bester Ordnung zum Abmarsch bereit.
Die Mittagssonne sandte ihre wärmsten Strahlen zur Erde, und im Schweiße unseres Angesichts marschierten wir einen Kilometer nach dem anderen. Endlich ward unser Bestimmungsort sichtbar, und ein Hurra unserer Leute, wie es wohl selbst die Griechen beim Anblick der Thalassa nicht dankbarer und fröhlicher gethan haben, begrüßte ihn. Nun erschienen auch schon die Quartiermacher, empfangen von allen Seiten mit der Frage: „Wie sind die Quartiere?” Aber die Antwort war nur „Schlecht, sehr schlecht.” Manch kräftiger Fluch wurde da ausgestoßen, aber was nützte(1) es? Nicht alle Quartiere können gut sein, morgen sind sie vielleicht desto besser, das war der einzige Trost. Ich war dem Schulzen, also der ersten Honoration des Dorfes zugewiesen worden. Mit vieler Mühe fand ich das Haus, trat ein und sah mich einem biederen Alten gegenüber, der Schuhe flickend auf einem niedrigen Schemel saß. Auf meine Frage: „Wohnt hier der Schulze?” richtete der Alte sich würdevoll empor und sagte: „Dat bin ick sülwst.” „Aha,” dachte ich, „auch nicht übel, Schulze und Schuster in einer Person.” Ich entbot ihm meinen Gruß, und in kurzer Zeit waren wir gute Freunde. Nun machte sich aber in mir die Begierde nach Speise und Trank rege, und ich bat um ein Glas Wein, Bier oder auch Wasser. Da sah der Mann mich an und fragte nachdenklich: „Hewwen Sei denn Durst? Weiten Sei, da hew ick gor nicht an dacht.” Du lieber Gott, ob ich Durst hatte! Den ganzen Morgen in der glühendsten Sonnenhitze herumgelaufen, nichts zu essen und zu trinken, und dann die Frage: „Hewwen Sei denn Durst?” Als ich meinem Wirthe klar gemacht hatte, daß ich fast verschmachtete, fing er mit mecklenburgischer Breite an, mir Alles aufzuzählen, was er nicht zu trinken hätte.
„Ja, ja, Herr Lieutenant, watt sall ick Sei denn to drinken gewwen? Win heww ick nich, datau heww ick keen Geld. Kiken Sei, ick verdeen kaum so veel, dat ick leben kann. Ick heww een Fruu und sös Kinner, luter Jungs, un wenn, so uns Herrgott datt will, der säbente geboren ward, dann bitt ick uns Kaiser, ob dei nich Gevatter stahn will; denn weeten Sei, watt uns Kaiser is, datt is een Kirl, vor dem mut man Respeckt hewwen, denn wat dei deiht —”
Erschöpft war ich bei diesem Redeschwall, den ich dem alten Herrn gar nicht zugetraut hatte, auf einen Schusterschemel niedergesunken, ich streckte ihm beide Hände entgegen und flehte: „Wasser, Wasser.”
„Ja, kiken Sei,” meinte er, „mit dat Water is dat ok man so ne Sak. Uns' Water können Sei nich drinken, denn dat is man wat slecht un ungesunn. Weeten Sei, wat dat Drink-Water(2) is, dat möten wi uns vom Krug herhollen und weeten Sei, mit dem Wirth heww ick mi vertürnt, un nu will hei mi nich mehr erlowen, Water ut sin Pump tau hollen un ick bin doch dei Schult, de baberste Deamt hier ins Dörp —”
„Bier, bitte gebt mir Bier,” flüsterten meine Lippen.
Der Schuster-Schulze sah mich erzürnt an, daß ich seine schöne Rede schon wieder unterbrach, überlegte sich die Sache lange und fuhr dann fort:
„Ja, Herr Lieutenant, Beer heww ick nich, datau heww ick keen Geld. Kiken Sei, ick verdeen kaum so veel, dat ick leben kann. Ick heww een Fru un sös Kinner, luter Jungs, un wenn, so uns Herrgott dat will, dei söbente geboren ward —”
„Um Himmel willen, Mann, höret auf. Gott schütze und schirme Euren noch nicht geborenen siebenten Sohn, aber sagt: „Was habt Ihr denn zu trinken? Kein Wein, kein Wasser, kein Bier, was denn?”
„Melk,” sagte er endlich, „frische, schöne Melk.”
Was giebt es Schöneres für den Durst als frische, schöne Milch, und sofort bat ich: „Bitte gebt mir Milch, oder ich verdurste.”
Mit Erstaunen sah der Biedere zu , wie ich vor Ungeduld, Hitze und Durst auf meinem Schusterschemel hin und her rutschte, that erst bedächtig ein paar große Züge aus seiner Pfeife und sagte dann:”
„Ja, Herr, kiken Sei, mit dei Melk is dat ok man so'n eegene Sak. Dat mut ick irrst melken laten und weeten Sei, wat min Fru is, dei dat ümmer besorgen deiht, dei arbeitet up Daglohn. Weeten Sei, ick verdeen kaum so veel, dat ick leben kann, ick heww een Fru und sös Kinner, luter Jungs, und wenn, so uns Herrgott datt will, de(3) söbente geboren ward —”
Mit einem Schrei des Entsetzens sprang ich empor, riß die Stubenthür auf und floh davon. Fort, fort von hier, der Mann mit seinem ungeborenen siebenten Sohn bringt mich sonst um! Verwundert sah die Dorfjugend mir nach, wie ich durch die Straßen lief. Wohin? Ich wußte es selbst nicht, nur irgendwohin, wo man keinen siebenten Sohn erwartete. Endlich machte ich Halt und sah mich um. Das Schicksal war mit günstig gewesen und der Durst hatte meine Schritte gelenkt. Ich stand gerade vor dem Krug, ich trat ein, und in wenigen Minuten war der Tisch gedeckt. Als Hunger und Durst gestillt waren, kam ich mit dem gemüthlichen Wirth ins Gespräch. Auch über meinen Schulzen sprachen wir und der Krugwirth meine mitleidig, da hätte ich ja von allen Quartieren das Schlechteste bekommen. Auf diese Bemerkung gab ich nicht viel, denn wenn man gut gegessen und getrunken hat, denkt man über viele Dinge ganz anders und während ich vorher in Wuth gerathen war, mußte ich jetzt lachen, wenn ich an den redseligen Alten dachte. Ich nahm mir vor, meinen Quartierwirth zu beruhigen, bezahlte meine Zeche und ging nach Hause. Lange wollte es mir nicht gelingen, meinen Schulzen wieder zu versöhnen, doch bei einem längeren Gespräch, das ich mit ihm über unseren Kaiser führte, beruhigte ich sein Gemüth und wir wurden wieder gute Freunde. Meine Wuth schien übrigens doch einigen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, denn Alles, was er vorhin nicht besaß, hatte er mir zu Ehren durch seine sieben, wollte sagen sechs Söhne herbeiholen lassen. So ging der Tag im Geplauder mit meinen Wirthsleuten dahin und sobald es dunkel wurde, suchte ich mein Lager auf. Fast mit Ehrfurcht geleitete mich meine Wirthin zu der Kammer, wo ich schlafen sollte, stellte das Licht auf den Tisch und wünschte mir eine gute Nacht. Verwundert sah ich mich um; ein Tisch, zwei Stühle, ein Waschtisch, aber kein Bett, kein Sopha, keine Decke, ja, wo sollte ich mein müdes Haupt denn hinlegen? Auf den nackten Fußboden, ohne Decke, ohne Kissen? Sollte die Bemerkung über das schlechte Quartier doch wahr sein? Das fand ich denn doch wirklich zu stark! Da fielen meine Blicke auf einen in die Wand eingelassenen großen Schrank. In der Hoffnung, dort vielleicht eine Decke oder etwas Ähnliches zu finden, öffnete ich die beiden großen Thüren und prallte entsetzt bei dem Anblick eines großen, breiten Bettes zurück. Als einzige, schützende Hülle mitten im Sommer diente ein fast fünfzig Pfund schweres Federbett. Ich hatte schon soviel Schreckliches über diese Wandbetten gehört, so manchen Kameraden verlacht und verspottet, der mir deswegen sein Leid geklagt; nun hatte das Geschick mich selbst ereilt. Schaudernd wich ich zuerst(4) zurück, meine Müdigkeit aber überwand alle Bedenken und in wenigen Minuten lag ich im Bett, um sofort einen Hülferuf auszustoßen. Ich glaubte in die Unterwelt zu versinken, so weich waren die Kissen, von allen Seiten fielen sie über mir zusammen. Mit einem Riesensatz sprang ich wieder heraus, beschaute mir das Ungeheuer von allen Seiten und — kroch schließlich von neuem wieder vorsichtig hinein. Es dauerte auch nicht lange und ich schlief ein. Fortwährend aber hatte ich das Gefühl, als wenn etwas an mir herumkrabbele. Im Traume suchte ich abzuwehren, wurde aber plötzlich wach, als mir etwas über das Gesicht lief, zugleich fühlte ich ein Kribbeln und Krabbeln an meinen Beinen. Mit Blitzeseile fuhr ich mit der Hand hin, und was erwischte ich? Eine Maus. Eine? Was sag' ich, mehr denn zehn Mäuse hörte und fühlte ich an meinem Körper herumlaufen. Von jeher habe ich gegen Mäuse eine unüberwindliche Abneigung gehabt. Nichts ist mir widerlicher, als ein langer Mäuseschwanz, der mir über das Gesicht, oder die Hand fährt. Wieder war ich mit einem Satz aus dem Bett; scheltend und polternd, daß ich heute Nacht gar nicht zur Ruhe kommen sollte, zündete ich das Licht an und begab mich mit einem Stiefel bewaffnet auf Mäusejagd. Das Glück war mir günstig und in kurzer Zeit hatte ich drei zur Strecke geliefert. Das Jagen machte mich hitzig; ich sah eine große Maus auf der Schwelle, ich erhob meine Mordwaffe, um sie dem Thier an den Kopf zu werfen, da öffnete sich die Stubenthür, und vor mir stand meine Wirthin, nothdürftig, fast gar nicht bekleidet, in der einen Hand ein Licht, in der anderen einen sonderbaren Knüppel haltend.
„Ach,” sagte sie, „Herr Lieutenant, verzeihen Sie, aber ich habe wirklich nicht daran gedacht. Ich hörte hier Lärm und da fiel mich gleich in, daß ich vergessen hatte, Sie den Müsknüppel zu geben.”
Ich sah sie nur erstaunt an.
„Hier, Herr Lieutenant,” fuhr sie fort, „dat is uns Müsknüppel.” Ich beschaute mir das Instrument, es war ein Stock von etwa einem halben Meter Länge und entsprechender Dicke. An dem einen Ende befand sich ein Knopf, an dem anderen ein Band. Verwundert schaute ich mir das Ding an und sagte: „Ja, was soll ich denn damit?”
„Ach,” antwortete sie, „ohne den Müsknüppel können Sie hier gar nicht slapen. Sie müssen bei's Zubettegehen den Knüppel mitnehmen und dann wickeln Sie sich man das Band um die Hand. Wenn nun de Müs kamen, so nehmen Sie man den Knüppel und werfen ihn was tüchtig gegen die Thür, abers die Thüren von das Wandbett müssen Sie zumachen. Bei das Geknall laufen sie alle weg und Sie können nun slapen, bis den Müs wedder kümmt.”
„Und wie lang dauert denn das?” fragte ich.
„Na, Herr Lieutenant, wenn Sie ordentlich bullern, dann mag dat wull 'ne Halwestunde währen.”
Du lieber Himmel, was waren das für Aussichten! Eine kurze Zeit Schlaf, dann wieder eine lange Mäusejagd, aber was half es? Ich nahm den gebotenen Zauberstab und mußte der guten Mutter von sechs Söhnen sogar noch dankbar sein.
Der Müsknüppel! Mechnisch flog er die ganze Nacht gleichmäßig, aber auch mit gleich mäßigem Erfolg gegen die Thür. Zwar schlief ich gegen Morgen ein, aber doch verließ ich freudig durch die großen Schrankthüren mein Lager.
* * *
Oft habe ich darüber nachgedacht, ob auch ich, wie diese Schulzenfamilie, es aushalten könnte, mein Lebelang(5) mit dem Müsknüppel in der Hand zu schlafen.
Und der siebente Sohn? Vielleicht liegt er nun schon im großen Wandbett und seine sechs Brüder schnitzen für ihn, den Kaiserlichen Pathen, als erstes Geburtstagsgeschenk ein Szepter für das Mäusereich — den Müsknüppel.
(1) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es: „nützt”. (Zurück)
(2) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es: „Drankwater”. (Zurück)
(3) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es: „dei”. (Zurück)
(4) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es: „erst”. (Zurück)
(5) In der Fassung von „Der rote Pierrot” heißt es: „Lebenlang”. (Zurück)