Der Militärschriftsteller.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, IX.Jahrgg. Nr. 13, S. 122, 21.6.1904,
in: „Rekrutenbriefe” und
in: „Der stumme Kerl”


Darüber waren sich im Offizierkorps alle einig, der alte Oberst hatte einen Fimmel gehabt, der jetzige aber hatte zwei. Der alte Oberst hatte allen Ernstes verlangt, daß die Hauptleute und Leutnants bei den allwöchentlichen Offiziers­versammlungen alles, was ihnen der Kommandeur da vorredete, als eitel Gold betrachteten. Sie hatten sehr aufmerksam zuhören müssen, und der Alte war sogar einmal einem Leutnant gröber als grob geworden, als dieser im Stehen eingeschlafen war. Vielleicht hätte der Oberst es gar nicht bemerkt, denn der schlafende Leutnant war sehr klein und er hielt sich hinter dem dicksten und größten verborgen; aber im Stehen zu schlafen, ist nur wenigen Tieren gegeben, und ein Leutnant glaubt nicht an die Abstammung des Menschen vom Affen. So hatte der kleine Leutnant das Schlafen im Stehen nicht gelernt, er fiel vornüber, sein Vordermann, der plötzlich einen Stoß im Rücken verspürte, taumelte drei Schritte nach vorn, dessen Vordermann ebenfalls und um ein Haar wäre dieser auf den Kommandeur gefallen. Es ist nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn dieser wirklich auf den Kommandeur gefallen wäre, dann wäre der ja auch gefallen und ein Oberst fällt nur in der Schlacht. Wenigstens früher, jetzt werden sie zuweilen schon bei den Besichtigungen zu Fall gebracht.

Gott sei Dank blieb der Oberst stehen und stehenden Fußes sperrte er den schlafenden Leutnant drei Tage ein.

Der alte Oberst war zufrieden gewesen, wenn man ihm nur zuhörte, der neue aber verlangte, daß man sich außerdem noch alles, was er sagte, gewissenhaft notierte, um es zu Hause in aller Ruhe noch einmal durchzugehen und geistig zu verarbeiten.

Bei der ersten Offiziersversammlung sprach der neue Kommandeur zum erstenmal das große Wort: „Ich bitte alle Herren, auch die Herren Leutnants, die Notizbücher herauszunehmen.”

Verständnislos blickten diese sich einander an. Notizbücher? Was waren denn das für Dinger? Früher, in der Schule, hatte man so etwas gebraucht, Schülerfreunde und so etwas Aehnliches, aber über die Zeit war man doch jetzt Gott sein Dank heraus, wozu da noch ein Notizbuch? Auf der einen Seite leidet man ja noch nicht an Gehirnschwund und auf der andern Seite ist man doch kein Streber, der da alles behalten will, was die hohen Herren sagen. So bedauerten sie denn auch alle unendlich, den Wunsch des Herrn Oberst nicht erfüllen zu können. Der aber sah sie nun seinerseits verständnislos an. „Was, Sie haben keine Notizbücher? Meine Herren, das geht nicht, das geht absolut nicht!” Warum das nicht ging, leuchtete mit Ausnahme des Kommandeurs niemand ein, aber es war ja auch mehr als genug, wenn es diesem klar war. „Meine Herren,” sprach er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, „bei der nächsten Offiziers­versammlung haben Sie aber ein Notizbuch.” Und siehe da, sie hatten auch alle eins. Es war zwar eigentlich nicht angemessen, von einem erwachsenen Menschen so etwas zu verlangen, aber trotzdem, was wollte man machen? Als kluger Untergebener gab man eben nach, man zieht ja doch nur den Kürzeren, wenn man sich nicht fügt.

Der Oberst sah es mit stiller Genugtuung, daß ein jeder ein Notizbuch in Händen hielt. „Nun ist er hoffentlich beruhigt!” dachten die Herren Leutnants. Aber der Herr Oberst dachte nicht daran.

„Meine Herren, ich möchte mir gern einmal Ihre Notizbücher ansehen — ich bitte Sie, mir dieselben zu zeigen.”

„Gerade, als wenn man ein Schulbube ist,” schalten die Leutnants im stillen. Aber das Schelten hat noch nie etwas geholfen, so hielten sie denn die Bücher hoch. Die seltensten Exemplare kamen zum Vorschein: Der eine hatte einen Reklamekalender von Liebigs Fleischextrakt, der andere ein Buch von einer Sektfirma mit der Aufschrift: „Unsern werten Kunden mit den besten Wünschen zum neuen Jahre überreicht.” Ein dritter hatte, Gott weiß wo, einen alten Schülerfreund aufgetrieben, ein vierter trug an seiner Uhrberlocke ein kleines, mit Vergißmeinnicht geziertes Büchelchen, das er sich von seiner Frau geliehen hatte, ein anderer hatte sich von seinem Burschen mit einem dicken Bindfaden ein paar Blätter weißen Papiers zusammenheften lassen und ein jungverheirateter Leutnant hatte sich sogar ein äußerst praktisches Wirtschaftsbuch gekauft, in dem er hinten auf den Notizblättern die goldenen Worte des Herrn Oberst niederschreiben konnte, während auf den vorderen Seiten seine Frau Gelegenheit hatte, zu notieren, was sie wöchentlich für Fleisch, Milch, Petersilie, Kohlrabi unter und über der Erde und ähnlichen Dingen an Wirtschaftsgeld verbrauchte. — Als der Kommandeur diese Bücher sah, fiel er beinahe in Ohnmacht. „Das geht nicht, meine Herren, absolut nicht.” Und wiederum leuchtete es mit Ausnahme des Herrn Oberst niemand ein, warum es nicht ginge. Aber es war ja auch mehr als genug, daß es diesem klar war.

„Meine Herren, das geht nicht, das geht absolut nicht,” wiederholte er noch einmal. „Ich bin gewiß der letzte, der da will, daß alles nach Schema F geht (das sagen sie alle), aber trotzdem, meine Herren, in diesem Falle (wie in jedem andern Falle) muß eine gewisse Gleichmäßigkeit herschen. Das geht so nicht, das muß anders werden.”

Und als der Herr Oberst seine wöchentliche Weisheit zum besten gegeben hatte und den heimatlichen Gestaden schnellen Fußes entgegeneilte (er hatte vom Bureau aus telephoniert, daß seine Frau ihm für heute mittag drei Pfund Spargel kochen sollte), dachte er darüber nach, wie er eine Gleichmäßigkeit der Notizbücher herbeiführen könnte. Das war nicht so leicht, wie es im ersten Augenblick den Anschein hatte. Aber als er nach Tisch den genossenen Spargel bei einer guten Zigarre verdaute, kam ein rettender Gedanke, er wollte ein Notizbuch erfinden. Warum auch nicht? Andere Offiziere waren ihm da ja schon mit glänzendem Beispiel vorangegangen, er dachte nur an Fircks Taschenkalender für das Heer. Das Buch erschien jedes Jahr in einer neuen Auflage, es war in der ganzen Armee verbreitet, und es war ein offenes Geheimnis, daß der Herausgeber ein Sündengeld damit verdiente. Warum sollte er nicht ein zweiter Fircks werden? Der Gedanke, so nebenbei jährlich zehn- oder zwanzigtausend Mark zu verdienen, war gar nicht so dumm, und vor allen Dingen, wenn er später einmal den Abschied bekam, dann hatte er Arbeit und Beschäftigung. Alljährlich würde er seinen Kalender neu bearbeiten und auch als General oder Exzellenz a.D. würde sein Name in der Armee fortleben. Vielleicht würde aber auch die Herausgabe seines Notizbuches seine Verabschiedung verzögern, man würde einsehen, welch großer Geist er sei, und ihn der Armee solange wie möglich zu erhalten versuchen. Das war sogar ganz klar, und so trat er denn der Ausführung seines Gedankens praktisch näher. Er fing damit an, zunächst eingehend den Fircks zu studieren und das Ergebnis war, daß er, wie ein jeder, der einen Stoff behandeln will, die bereits vorliegende Bearbeitung durchaus veraltet fand. Das Buch enthielt viel zu viel Ballast, viel zu viel Unnötiges, das man nicht zu wissen brauchte, viele Sachen, die das Buch unnötig dick machten, den Preis erhöhten und für eigene Notizen, die doch die Hauptsache waren, keinen Platz ließen. So fing er denn an zu streichen und diese Arbeit nahm ihn derart in Anspruch, daß sie ihn volle vierzehn Tage beschäftigte. Dann war ja auch mit Ausnahme des Umschlages so gut wie nichts stehen geblieben. Und dieses Wenige strich er nach reiflicher Überlegung auch noch. Dann fing er an, seinen eigenen Geist arbeiten zu lassen. Er bestellte sich einen gewandten Schreiber und den tüchtigsten Buchbinder des Regiments und nach drei Wochen war das Buch fertig. Es erschien unter dem stolzen Titel: „Das einzige wirklich praktische Notizbuch für Truppenführer aller Grade, Unteroffiziere und Mannschaften des deutschen Heeres.” Als Zusatz: „Das Buch wird fortan alljährlich in neuer Bearbeitung erscheinen. Preis 50 Pfennig.” Wenn man das Buch aufschlug, erblickte man das Bild des Herausgebers, dann kam ein Kalender und denn 365 Seiten leeren Papiers, für jeden Tag im Jahre eine.

Der Oberst strahlte ob seiner Erfindung. Um das Buch einzuführen, befahl er natürlich nicht, daß jeder im Regiment es besäße, er wünschte es nur, und das ist dasselbe, manchmal sogar noch mehr. In kürzester Zeit waren im Regimente, das alles in allem 1800 Köpfe zählte, ebensoviele Exemplare abgesetzt, und der große künstlerische und finanzielle Erfolg seines Buches machte den Oberst ganz glückselig. In der Freude seines Herzens sandte er sogar seinen vorgesetzten Behörden ein Exemplar seines Werkes ein und hoffte im Stillen, daß dasselbe offiziell zur allgemeinen Einführung in der Armee empfohlen würde. Als die hohen Vorgesetzten sich endlich äußerten, meinten sie, das Buch sei ja zwar ganz praktisch, aber ehe es zur allgemeinen Einführung empfohlen werden könne, bedürfe es vielleicht doch noch einiger Verbesserungen. Und um genügend Zeit zu haben, über diese Verbesserungen nachdenken zu können, nahm der Oberst eines Tages freiwillig seinen Abschied. Er gab viel auf, aber ein hohes Ziel winkte, der Erwerb großer Geldmittel und der Ruhm, als einer der bekanntesten Militär­schriftsteller dauernd in der Armee weiterzuleben. So sann er denn Tag und Nacht darüber nach, wie er sein praktisches Notizbuch noch praktischer gestalten könnte. Zuerst wollte er den Kalender, ebenso wie dereinst der selige Gregor XIII., ändern; da das aber doch nicht so ohne weiteres ging, wollte er die leeren weißen Seiten noch leerer und noch weißer machen. Das ging aber auch nicht und so wandte er sich denn eines Tages verzweifelt an einen Freund. Der hörte ihn geduldig an, dann sagte er: „Lieber, ich weiß ein sehr einfaches Mittel, um dein wirklich praktisches Notizbuch mit einem Schlage populär zu machen. Laß den Kalender ganz fort, mach das Format der leeren Blätter größer und nimm anstatt des weißen Schreibpapiers haltbares, aber nicht zu dickes braunes Seidenpapier. Du sollst mal sehen, dann geht das Buch in der Armee rasend, besonders zur Manöverzeit, wo man so häufig kein anderes Papier zur Hand hat.”

Acht Tage lang wehrte sich der Oberst mit Händen und Füßen gegen diese Idee, dann aber gab er klein bei und fortan fand das Buch unter dem Titel: „Das einzig wirklich praktische Abreißbuch” in der Armee schnellen Eingang und wurde dem Wunsche des Verfassers gemäß von den Truppenführern aller Grade, von den Unteroffizieren und Mannschaften des deutschen Heeres fleißiger als irgend ein anderes Buch benutzt.


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© Karlheinz Everts