Militär-Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Arme Schlucker” und
in: „Die Fürstentreppe”
Als der jetzige Infanterieleutnant von Arberg auf das lebhafte Zureden seiner Eltern hin plötzlich in sich die unüberwindliche Sehnsucht spürte, Offizier zu werden, lediglich weil seine Eltern nicht die Mittel besaßen, ihm eine gute Gymnasialbildung zu Teil werden zu lassen, da ahnte er nicht, daß er jemals in eine so traurige Garnison kommen würde, wie die, in der er nun schon seit vielen Jahren stand. Sieben Jahre! Er hatte es nicht geglaubt, daß er ebenso viele Wochen hier aushalten würde.
Das hatte er auch einem Kameraden gegenüber in den ersten Tagen ausgesprochen. Aber der hatte ihm mit väterlich wohlwollender Miene auf die Schulter geklopft und ihm geraten: „Junger Mann — lullen Sie erst mal Ihre geistigen Gedanken ein, dann geht alles. Aber ich rate Ihnen: lullen Sie ordentlich.”
Und dann hatte der Sprecher für den Neuangekommenen einen fünffachen Kognak bestellt und für sich selbst ein ebenso großes Gebinde und a tempo hatten beide den Inhalt des Weinglases hinter die extra für solche Zwecke bestimmte vorschriftsmäßige Halsbinde gegossen. Aber natürlich nicht direkt hinter die Binde, sondern in den Hals, der hinter der Binde sitzt —.
So war Leutnant von Arberg an dem ersten Abend in einen ganz tiefen Schlummer hineingelullt worden, denn dem ersten Kognak, der aus fünfen bestand, waren noch verschiedene andere gefolgt. Er hatte prachtvoll geschlafen. Und lediglich, um in der nächsten Nacht in der ihm noch neuen Wohnung und in dem ihm noch ungewohnten Bett abermals gut zu schlafen, hatte er sich am nächsten Tage wieder einlullen lassen. Und im Laufe der Jahre hatte er sich so an diese Lullerei gewöhnt, daß er sich ein Leben ohne diese gar nicht denken konnte.
Und dabei lullte er verhältmismäßig noch am wenigsten — —
Es wurde in der elenden Garnison mächtig getrunken. Aber der Wahrheit die Ehre: der königliche Dienst litt in keiner Weise darunter. Da paßte der Oberst ganz verflucht auf. Je toller man bei einem Liebesmahl oder bei einer sonstigen Gelegenheit gekneipt hatte, desto früher erschien am nächsten Morgen der Herr Oberst auf dem Kasernenhof, und nicht nur ein siebenfaches, sondern ein siebenmal siebenfaches Wehe! drohte dem Leutnant, der auch nur eine Minute zu spät zum Dienst kam oder nicht mit der vollen Begeisterung bei der Sache war.
Daraus aber den Schluß ziehen zu wollen, daß der Herr Oberst ein Feind des Alkohols war, wäre zum mindesten eine Folgerung, die in keiner Weise bewiesen werden könnte. Wie in jeder Hinsicht, so hielt sich der Kommandeur, der unverheiratet war, für verpflichtet, seinen Offizieren auch in diesem Punkte ein leuchtendes Vorbild zu sein —.
Aber in einer sehr wichtigen Hinsicht unterschied sich der Herr Oberst auf das vorteilhafteste von seinen Offizieren: er lullte nicht — sondern er nippte.
Andere tranken ein Glas Bier in einem Zuge aus, er führte es wenigstens fünfmal an die vorgesetzten Lippen. Dann war es aber auch leer. Und da er im Laufe eines Abends unzählige Male nippte, so kam im Laufe des Abends doch ein ganz gehöriges Quantum zusammen. Aber der Kommandeur konnte es vertragen: selbst seine schlimmsten Feinde konnten sich nicht erinnern, jemals an ihm auch nur die leiseste Spur von Trunkenheit bemerkt zu haben! Und doch hat man nach einem Liebesmahl schon Generäle, Exzellenzen und selbst Fürstlichkeiten in einem Zustande durch den Saal schreiten sehen, den man beim Militär vom Feldwebel abwärts „besäuselt” nennt. Manche schreiben das Wort „besäuselt” auch anders — wenigstens in den beiden letzten Silben — —, das ist dann aber nur ein Beweis dafür, daß sie die neue Orthographie noch nicht beherrschen —.
Am tollsten wurde natürlich am Sonnabend Abend gekneipt. Dann lautete das Gesprächsthema nach einer seit undenklichen Zeiten ausgegebenen Parole: Berlin! Und dann wurde geschimpft, daß man nicht in Berlin stände, lediglich weil man nicht in einem Grafenschloß und nicht mit einem reichen Geldbeutel geboren sei, oder weil man keine einflußreiche Tante zum Onkel und keinen millionenschweren Onkel zur Tante habe, denn Tanten öffnen den Strickstrumpf mit ihren Ersparnissen viel schneller, als die Onkel den feuersicheren Geldschrank. Und je mehr in dem Geldschrank drin ist, desto schwerer geht er auf — —, die einen sagen: das läge an den Fabrikanten. Die anderen behaupten: es läge lediglich an dem Besitzer.
Da ich persönlich weder einen reichen Verwandten noch einen Geldschrank besitze, weiß ich nicht, wer recht hat.
Stundenlang wurde geschimpft. Natürlich konnten nicht dauernd alle Regimenter in der Residenz stehen, das war ja klar, aber es konnte doch einmal wechseln! Ungefähr alle fünf Jahre müßten die Offiziere die Garnisonen vertauschen. Warum durfte ein Leutnant zehn Jahre und länger in Berlin sein, wenn der andere es überhaupt gar nicht zu sehen bekam? Wo war denn da die Gerechtigkeit? Gab es die überhaupt noch? Welche Zerstreuungen und Anregungen hatte man nicht in der Residenz! Man bekam fast den Tobsuchtsanfall, wenn man in den Berliner Zeitungen das Vergnügungsprogramm sah! Und nun erst, wenn es jemand vorlas! Als kalte Douche folgte dann der Vergnügungsanzeiger in der eigenen Garnison für den nächsten Sonntag. An Wochentagen war sowieso noch weniger als gar nichts los. Und am Sonntag war es auch blitzwenig. Das Vornehmste war der große, elegante „Kavalier-Ball”, auf dem der Musketier mit seiner Rieke für fünf Pfennige einen Tanz nach dem andern schob. Und hin und wieder annoncierte ein Schlächter, „zur Feier des Sonntages ff. prima-feine frische Leberwurst.”
Das war alles.
Man schimpfte schließlich so, daß man gar nicht mehr schimpfen konnte. Aber trinken konnte man noch. Man hatte ja die lange Nacht vor sich. Vor Montagmorgen brauchte man nicht aufzustehen, den Sonntag über konnte man ruhig im Bett bleiben und schlafen, wenn man nicht gerade Kirchendienst hatte. Aber dann schlief man ja auch, nur daß man dann anstatt des Nachthemdes die Uniform anhatte. der hohe Kragen genierte zwar etwas, aber es ging doch ganz gut. Nur schnarchen durfte man nicht, das nahm der Geistliche persönlich übel. Sonst war er ein toleranter Mann, der da zu sagen pflegte: wie kann ich von einem Kirchenbesucher Aufmerksamkeit verlangen, der da vielleicht ganz gegen sein Überzeugung und gegen seinen Glauben zum Gottesdienst kommandiert ist? —
Die Sonnabendabende waren unsolide, noch unsolider als die anderen.
Da geschah es, daß der Leutnant von Arberg eines schönen Morgens, gerade als er mit einem „Marsch, marsch, hurrah!” einen Misthaufen stürmte, der eine stark verteidigte Festungsmauer darstellte, zusammenbrach. Nicht etwa, als ob er am Abend vorher mehr gelullt hätte als sonst, o nein, das tat er sowieso immer. Aber seine Gesundheit war schon lange nicht mehr die beste. Die nicht ganz alkoholfreie Luft der Garnison bekam ihm schon seit Monaten nicht mehr, seine Nerven waren von dem ungesunden Klima zerrüttet, sein sterblicher Organismus versagte den Dienst.
Der Oberstabsarzt erhielt den ehrenvollen Auftrag, ihn wieder gesund zu machen, aber seine Kunst reichte dazu nicht aus. So schrieb er ihm denn einen Totenschein und schickte ihn für ein Jahr auf Urlaub. Wie sich das für einen sparsamen Staat gehört: ohne Gehalt.
Der Leutnant ging in ein Sanatorium, wo er statt des Alkohols saure Milch, und statt des Kognaks Gerstenkaffee trinken mußte.
Nach zehn Monaten war er wieder ganz gesund und wieder vollständig dienstfähig.
Aber wer da ein Jahr beurlaubt ist, weiß nie, ob später in seinem Regiment noch ein Platz für ihn vorhanden ist. Natürlich wäre er am liebsten in eine andere Garnison gegangen. Aber wer konnte wissen? Deutschland ist groß. Vielleicht existierte irgendwo eine Garnison, die noch elender war als die seine, eine Stadt, in der es am Sonntag nicht einmal „ff. prima-feine frische Leberwurst” gab — — Und wenn ein solches Nest irgendwo vorhanden war, dann würde er es sicher kennen lernen, darin glaubte er sich sicher nicht zu irren.
So fragte er denn bei seinem alten Regimnent an, ob er dort wieder eintreten können.
Und in einem Privatschreiben teilte der Adjutant ihm mit, daß er dem Kommandeur jederzeit herzlich willkommen sei, vorausgesetzt, daß er wieder ordentlich saufen könne — denn das sei für einen Infanteristen doch die Hauptsache — —
Der Adjutant hatte sich natürlich verschrieben: statt „saufen” sollte es „laufen” heißen. Aber auf den Gedanken kam der Leutnant von Arberg gar nicht. So schrieb er denn zurück: er sei in jeder Hinsicht ganz wieder hergestellt und werde bei seinem demnächstigen Besuch in der Garnison eine Probe seiner absoluten Dienstfähigkeit ablegen.
Das tat er denn auch, und zwar so gründlich, daß er die ganze Tafelrunde unter den Tisch trank. Kein Mensch konnte gegen ihn an, selbst ein in Rotwein grau gewordener Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft streckte nicht nur die Waffen, sondern auch die Beine weit von sich und schlief fest ein.
Der Milchmann, wie die Kameraden ihn nannten, weil er so lange nur Milch getrunken hatte, blieb auf der ganzen Linie Sieger.
Alle freuten sich, daß Arberg wieder ganz dienstfähig sei, und der Oberst freute sich am meisten, daß er es nicht nötig habe, den Leutnant wegen Dienstunbrauchbarkeit zum Abschied einzureichen.
Aber nach vier Wochen klappte Arberg bei einer großen Felddienstübung doch wieder zusammen. Er lag vollständig auf der Nase, und der Arzt stellte die Diagnose. Aber schon bevor der sein Gutachten abgegeben hatte, wußte man, was dem guten Arberg fehlte: er war an Milchvergiftung erkrankt, er hatte zu lange und zu ausschließlich von saurer Milch gelebt — —
Das hielt ja die stärkste Natur nicht aus. Und Arberg war immer etwas schwach gewesen.
Jetzt fiel es allen wieder ein, daß er schon am ersten Tag, als er ins Regiment kam, die kleinen fünffachen Kognaks nicht hatte vertragen können. Wie sollte ihm da die Milch bekommen! Die enthielt doch — trotz aller sogenannten Keimfreiheit — vielmehr schädliche Bakterien, als der Alkohol, und wenn er keinen Alkohol getrunken hätte, um die Milchbazillen zu töten, wie sollte er denn da leben?
Darauf wußte kein Mensch Antwort. Aber alle nahmen sich fest vor, in Zukunft gleich nach dem Morgenkaffee einen Kognak zu trinken, um nicht auch an dem Genuß der Milch zu erkranken, die man morgens in den Kaffee goß — — —
Der Erfolg blieb nicht aus: Leutnant von Arbergs Milchvergiftung war und blieb die einzige, und die Befürchtung, daß Arberg das Regiment angesteckt habe und daß die Milchvergiftung epidemisch auftreten würde, erwies sich gottlob als grundlos.