Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Der Guckkasten”, Jhrg. 1912, Heft 29, Seite 2-4 und
in: „Kaisermanöver”
Den Musketier Meyer kannten alle in dem Infanterieregiment, und das einmal, weil er wegen seiner Größe der Flügelmann des ganzen Regiments und, zweitens, weil er ein geradezu auffallend hübscher Mensch war — trotz seiner langen Gliedmaßen durchaus proportioniert gewachsen und im Besitze eines Gesichtes, das nicht nur allen Mädels, sondern auch allen Männern gefallen mußte. Hauptsächlich aber kannte ein jeder den Musketier Meyer deshalb, weil dieser die personifizierte Dummheit war. Selbst die ältesten Unteroffiziere konnten sich nicht erinnern, unter den vielen dummen Rekruten, die sie im Laufe der Jahrzehnte ausbildeten, zehn Kerls gehabt zu haben, deren Dummheit zusammengenommen auch nur halb so groß gewesen wäre, wie die des Musketiers Meyer. Und der Herr Oberstabsarzt, der dem Mann jeden Tag eine andere Medizin gegen die Klugheit, die er nicht besaß, eingeben sollte, wünschte sich immer aufs neue, Meyer möchte schleunigst eines natürlichen oder unnatürlichen Todes sterben, damit er, der Herr Oberstabsarzt, ihn dann sezieren und bei der Gelegenheit endlich einmal feststellen könnte, was Meyer denn eigentlich an Stelle des Gehirns in seinem Schädel spazieren trüge.
Aber Meyer starb nicht, im Gegenteil, er erfeute sich der blühendsten Gesundheit, obgleich der Oberstabsarzt nicht der einzigste war, der ihn in jene Gefilde verwünschte, in denen es absolut nicht darauf ankommt, ob man klug oder dumm ist.
Auch die Vorgesetzten hätten nichts dagegen gehabt, wenn Meyer durch seinen Tod für immer der Armee Lebewohl gesagt hätte, die Vorgesetzten wünschten ihn täglich wenigstens dreimal zum Teufel und in Sonderheit tat dies sein Hauptmann. Gewiß, an und für sich war Meyer der Inbegriff eines guten Soldaten, er machte einen Parademarsch wie kein zweiter, seine Gewehrgriffe bildeten geradezu eine militärische Sehenswürdigkeit, im Schießen kam ihm keiner gleich, aber sobald die geringsten geistigen Fähigkeiten von ihm verlangt wurden, dann streikte Meyer, dann war es mit ihm aus.
Aber trotz dieser allgemein anerkannten Dummheit des Musketiers Meyer hatte sein Hauptmann es nicht durchsetzen können, daß der Mann von dem Manöver zurückblieb. Daß der dort nichts wie Dummheiten machen würde, ja, daß er seinem Hauptmann unfehlbar das Genick brechen würde, davon war dieser felsenfest überzeugt, denn die Vorgesetzten sterben ja weniger an dem Unsinn, den sie selbst loslassen, als an den Torheiten, die die Untergebenen begehen. Und Meyer würde nichts wie Dummheiten machen, schon deshalb, weil er so dumm war, daß er gar nicht wußte, was eine Dummheit war. Und was keine war, wußte er erst recht nicht. Dem Hauptmann hatte kein Bitten bei den höheren Vorgesetzten genutzt, Meyer mußte mit in das Manöver, noch dazu mit in dieses Manöver, das dadurch eine besondere Weihe erhielt, daß Seine Königliche Hoheit Prinz Paul, der Armeeinspekteur, für einige Tage dem Manöver beiwohnen wollte.
Wenn Meyer Seiner Hoheit irgendwie in den Weg lief, dann gab es ein Unglück, dessen Größe sich der Hauptmann selbst dann, wenn er von dem furchtbarsten Alpdrücken gequält wurde, nicht auszumalen vermochte. Er schrie dann im Schlafe vor Entsetzen laut auf. Und wie würde er erst in Wirklichkeit schreien, wenn Meyer mit Seiner Hoheit zusammentraf. Und daß die beiden sich irgendwie begegnen würden, das war für den Hauptmann feststehende Tatsache.
Seine Königliche Hoheit sollte kommen und natürlich waren alle Mannschaften über den hohen Herrn besonders instruiert worden. Man hatte den Leuten genau das Aussehen der Hoheit beschrieben, ebenso die Uniform, die er tragen würde, seine Orden und seine Ehrenzeichen, man hatte die Mannschaft darüber aufgeklärt, wie der hohe Herr anzureden war und die meisten hatten auch alles begriffen. Nur Meyer nicht und zu dem hatte sein Unteroffizier schließlich gesagt: „Meyer, Sie sind ja zwar noch dümmer, aber nun passen Sie mal auf. Wenn Sie im Manöver einen hohen Vorgesetzten zu Pferde treffen, den Sie noch nie sahen, dessen Uniform Sie nicht kennen, dessen Gesicht Ihnen fremd ist, dessen militärischen Rang Sie nicht festzustellen vermögen, dann fragen Sie sich gar nicht erst, wer ist das?, sondern Sie sagen sich ganz einfach sofort: „Das ist er.” Und wenn Sie sich das nicht auf hochdeutsch zu sagen vermögen, dann sagen Sie es sich auf Ihrem geliebten Platt mit den Worten: „Dat is Hei!” Und wenn Sie gefragt werden sollten, wer das ist, dann werden Sie selbst wissen, was Sie zu antworten haben: „Das ist Seine Königliche Hoheit Prinz Paul, der Armeeinspektor, verstanden?”
„Zu Befehl,” gab Meyer zur Antwort, denn das sagte er immer, aber nicht aus Dummheit, sondern weil der Soldat, wenn er gefragt wird, immer „Zu Befehl” antworten muß. Hätte der Unteroffizier gefragt: „Haben Sie mich nicht verstanden?” dann hätte Meyer auch „Zu Befehl” gesagt.
Meyer war mit in das Manöver ausgerückt und der Hauptmann hatte den strengsten Befehl gegeben, ihn nicht von der Kette zu lassen. Beim Exerzieren sollte der Leutnant, der neben ihm stand, ihn stets am Rockärmel festhalten. Kam die Kompagnie in das Feuergefecht, dann sollte Meyers Nebenmann nicht von seiner Seite weichen. Auf dem Marsch hatte ein Unteroffizier den strengen Auftrag, kein Augen von ihm abzuwenden, kurz und gut, der schlimmste Verbrecher hätte nicht strenger beobachtet werden können, wie Meyer. Selbst im Quartier sollte er nicht einen Augenblick ohne Aufsicht gelassen werden und das war das einzige, was Meyer als persönliche Kränkung empfand, denn auf die hübschen Mädels hatte er sich sehr gefreut. Wenn er nun durch seine äußere Erscheinung Eroberungen machte, dann stand immer einer der Kameraden dabei und paßte auf, bis Meyer mit der Eroberung fertig war, und dann wurde Meyer selbst nach Hause geschickt und das Küssen besorgte dann der andere.
So kam Meyer gar nicht dazu, irgend eine Dummheit zu machen und das Manöver nahm seinen Fortgang, bis dann endlich der große Tag anbrach, an dem Seine Hoheit erschien. Der kommandierende General hatte durch einen besonderen Befehl auf die Bedeutung dieses Ereignisses hingewiesen und ausgesprochen, er erwarte es von dem Pflicht- und Ehrgefühl eines jeden, daß er sich der hohen Ehre, von Seiner Hoheit besichtigt zu werden, würdig erweisen werde. Dasselbe hatten die anderen Vorgesetzten ihren Untergebenen auch gesagt, wenn auch in etwas anderen Worten. Am deutlichsten hatte sich Meyers Unteroffizier ausgedrückt, der mit den geballten Fäusten und zornfunkelnden Augen dem Musketier Meyer gegenüberstand und ihm zurief: „Meyer, Gott ist mein Zeuge, ich habe schon oft die Stunde Ihrer Geburt verflucht, aber wenn Sie morgen eine Dummheit begehen, dann verfluche ich auch die Stunde meiner Geburt und dann wehe Ihnen!”
„Und wehe Ihnen, Meyer,” sagte auch der Hauptmann. Der hatte die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen, dem hatte nur gegraut vor dem Augenblick, in dem Meyer mit Seiner Hoheit zusammentreffen würde.
Aber was der Hauptmann selbst nicht für möglich gehalten hätte, geschah dennoch, das Manöver in Anwesenheit Seiner Hoheit begann, das Manöver nahm seinen Fortgang und erreichte sogar sein Ende, ohne daß Meyer Seiner Hoheit irgendwie unangenehm aufgefallen wäre. Allerdings hatte Meyers ganze Korporalschaft unter Anführung des Feldwebels und der anderen Offiziere ihn nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen, man war nicht eine Sekunde von seiner Seite gewichen und hatte jede seiner Bewegungen beobachtet.
Gott sei Dank, die Gefahr war vorüber, das Gefecht war beendet, nun kam noch die Kritik und dann ging es in die Quartiere. Es sollte wenigstens in die Quartiere gehen, beim Militär kommt es ja nie so, wie es kommen soll, sondern immer umgekehrt, und so äußerte Seine Hoheit denn plötzlich den Wunsch, die Infanterieregimenter noch in der Paradeaufstellung zu sehen. Der hohe Herr war neugierig, zu erfahren, wie sich die Truppen nach der Anstrengung des heutigen Tages noch in der Parade machen würden.
„Daß du die Motten kriegst,” dachten alle, die es hörten, im stillen, aber der Wunsch Seiner Hoheit war für die anderen ein Befehl und so stoben die Adjutanten nach allen Seiten auseinander, um die Regimenter wieder zusammen zu ziehen.
Nach einer Stunde standen die Truppen so, wie sie stehen sollten, und gefolgt von seiner Suite und den anderen hohen Vorgesetzten erschien Seine Hoheit im rechten Flügel der Paradeaufstellung und musterte mit Kennermiene die Richtung. Er fand nichts an ihr zu tadeln, schnurgerade stand die Linie, die Füße und die Brustkästen fein säuberlich ausgerichtet, ebenso die präsentierten Gewehre. Es war ein hübscher Anblick, der das Soldatenherz Seiner Hoheit höher schagen ließ und so kam es wohl, daß er sich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit den rechten Flügelmann dieser langen Front ansah.
Dieser Flügelmann aber war der Musketier Meyer, dessen Regiment den rechten Flügel der Aufstellung bildete.
Hoheit sah den Meyer an und Meyers Hauptmann sah das und fiel beinahe vor Schrecken von seinem Pferd.
„Um Gottes Willen, Hoheit, guck wo anders hin,” flehte der Hauptmann im stillen, aber das half nichts, Hoheit blickte immer noch auf den Musketier Meyer. Der wirklich sehr hübsche Mensch gefiel ihm und so fragte er denn plötzlich: „Mein Sohn, wie heißen Sie?”
„Meyer,” lautete die Antwort.
An und für sich war die Antwort richtig, denn so dumm war Meyer doch nicht, daß er seinen Namen nicht gewußt hätte, aber die Antwort war trotzdem falsch, denn die richtige Antwort hätte gelautet: „Meyer, Ew. Königliche Hoheit.”
Das fiel dem hohen Herrn auch auf, er wandte sich fragend an den kommandierenden General, der wandte sich an die Exzellenz, diese an den General, dieser wieder an den Herrn Oberst, und der erklärte mit lauter Stimme: „Ich habe im Regiment stets mit aller Strenge darauf gehalten, daß die Leute bei ihrer Antwort auch dem Fragenden die im zustehende Anrede geben.”
„Sehr schön,” lobte Seine Hoheit, „aber warum sagte der Mann eben nur: Musketier Meyer, und warum sagte er nicht: „Meyer, Ew. . . . . . .” und dann plötzlich innehaltend, „vielleicht weiß der Mann gar nicht, wer ich bin, und hat mich deshalb nicht angeredet.”
Bei dem Gedanken, daß der Musketier Meyer nicht wissen könne, wer der hohe Herr sei, bekamen alle Vorgesetzten einen mordsmäßigen Schrecken und hielten sich vor Entsetzen an dem Sattelknopf fest. Bei dem Musketier Meyer war ja zwar alles möglich, selbst dieses, aber trotzdem beeilten sich alle, dem hohen Herrn ein „Unmöglich, undenkbar” zuzurufen.
Aber diese Zurufe waren nicht imstande, Seine Hoheit zu überzeugen. Wenn nicht gerade sehr gnädig, aber doch immerhin lächelnd, wandte er sich an den Flügelmann und fragte diesen: „Sagen Sie mal, Musketier Meyer, wissen Sie denn überhaupt, wer ich bin?”
„Zu Befehl,” lautete die Antwort, die der Soldat auch dann gibt, wenn er gar nichts weiß.
Die eben noch zusammengeknickten Exzellenzen und Generäle bis herab zu dem Herrn Oberst richteten sich bei diesem „Zu Befehl” wieder stolz auf und in ihren Mienen stand geschrieben: „Na also!”
Selbst seine Hoheit schien befriedigt und so fragte er denn: „Also schön, wer bin ich denn?”
Ein langes stummes Schweigen war die Antwort.
Triumphierend erhob Seine Hoheit sich im Sattel: „Sehen Sie wohl, meine Herren, daß ich recht hatte?” Und dann fuhr er fort: „Meine Herren, ich kann doch nicht umhin, meiner Verwunderung darüber Ausdruck zu geben, daß die Truppe so schlecht instruiert ist. Ich möchte den Oberst des Regiments um Aufklärung bitten, wie ist so etwas möglich?”
„Hast du 'ne Ahnung von Meyers Dummheit,” dachte der Oberst im stillen, dann aber meinte er: „Ich stehe vor einem Rätsel, das ich mir absolut nicht zu erklären vermag. Wenn es mir erlaubt wäre, den Mann vielleicht einmal selbst zu fragen?”
Seine Hoheit nickte, wenn auch nicht gerade sehr gnädig, und gleich darauf sagte der Herr Oberst, dem man deutlich seine Erregung anmerkte, vor allen Dingen aber auch den Wunsch, es dem Musketier Meyer in den Mund zu schmieren: „Musketier Meyer, wer ist der hohe Herr, der uns heute die hohe Ehre seines Besuches erweist, das müssen Sie doch wissen, strengen Sie doch einmal Ihr Gehirn an.”
Und Meyer strengte sein Gehirn an und gleichzeitig betrachtete er den fremden Herrn, der ihm gegenüber zu Pferde hielt. Und da fiel ihm ein, was sein Unteroffizier zu ihm gesagt hatte: „Wenn Sie einen Vorgesetzten sehen, der Ihnen fremd ist, dessen Gesicht Sie noch nie sahen, dessen Uniform Sie nicht kennen, dessen militärischen Rang Sie nicht zu unterscheiden vermögen, dann fragen Sie sich gar nicht erst lange, wer das ist, sondern sagen sich ganz einfach, das ist er, und wenn Sie sich das nicht hochdeutsch sagen können, dann sagen Sie es sich auf Ihrem geliebten Platt.”
Aufmerksam las der Oberst in den Zügen des Musketiers. er sah, daß dessen Gehirn zu erwachen begann und mit der Hand auf Seine Hoheit hinweisend, fragte er jetzt noch einmal: „Nun, Musketier Meyer, wer ist das?”
Und voller Stolz darüber, daß er trotz seiner bekannten Dummheit nicht nötig hatte, die Antwort auf diese Frage schuldig zu bleiben, rief der Musketier Meyer mit erhobener Stimme: „Dat is Hei!”